Zum Schwerpunkt
„Abolitionismus“, so die allgemeine Definition von Sebastian Scheerer im „Handwörterbuch der Kriminologie“ von 1998, „bezeichnet Lehren und Bestrebungen zur Aufhebung rechtlich institutionalisierter Zwangsverhältnisse und Sanktionsformen“. In unseren Kontext übersetzt bedeutet das die „Aufhebung“ der (Institution) Polizei und die mit ihr verbundenen Zuständigkeiten (Aufgaben) und Befugnisse sowie des damit verbundenen bzw. „nachgelagerten“ strafrechtlichen Bestrafungssystems. Der abolitionistische Diskurs – in der Öffentlichkeit, in der Wissenschaft, als politische Bewegung – entstand als kriminalpolitische Bewegung in den 1970er Jahren im Kontext der Kritik an (anderen) Institutionen des staatlichen Zwangs (Psychiatrie, Heimunterbringung …).
Seit den 1980er Jahre wurde die „abolitionistische Perspektive“ in der Kriminalpolitik überlagert vom – im Ergebnis vergeblichen – Abwehrkampf gegen den Ausbau des „starken Staates“. Die gewachsene Sensibilität einer postmigrantischen Gesellschaft, wiederkehrender Rassismus durch Polizist*innen, schließlich das weltweite Entsetzen nach dem Erstickungstod von George Floyd haben die Forderungen „Defund the police“ oder „Abolish the police“ auch für die kritische Öffentlichkeit in Deutschland interessant gemacht. Freilich blieb (und bleibt) durchaus offen, was und wie die Zwangseinrichtungen „aufgehoben“ werden sollen: bei den Sanktionen „nur“ die lebenslange Freiheitsstrafe oder den geschlossenen Vollzug oder die Freiheitsstrafe generell; beim Strafrecht nur die Entkriminalisierung bestimmter Handlungen (Bagatelldelikte etc.) oder den Verzicht auf das Strafrecht schlechthin; bei der Polizei deren Begrenzung bei Aufgaben, Befugnissen und Ressourcen oder ihre Abschaffung zugunsten zivilgesellschaftlicher Konfliktlösung.
Das abolitionistische Spektrum ist weit. Auch wenn seine Antworten nicht immer überzeugen, bleibt die Perspektive bürgerrechtlich unverzichtbar. – Im Folgenden ein Blick in die jüngere deutsche Debatte, seit wir uns in CILIP 125 (April 2021) mit dem Thema beschäftigten.
Loick, Daniel; Thompson Vanessa E. (Hg.): Abolitionismus. Ein Reader, Berlin 2022
Herausgeberin und Herausgeber wollen mit diesem Band „einige Schlüsseltexte der internationalen abolitionistischen Bewegung in deutscher Sprache zugänglich machen“. Sie wollen damit „Impulse“ für den „wissenschaftlichen Diskurs“ „(und vor allem) für die radikale politische Arbeit“ geben. Dass sie dabei vor allem nordamerikanische Publikationen berücksichtigen und keineswegs das gesamte abolitionistische Spektrum abbilden, ist ihnen bewusst. Die im Band präsentierten Texte sind in fünf Rubriken gegliedert: „Abolitionistische Demokratie“, Strafen und Gefängnis, Polizei, „(Queer-)Feministische Perspektiven“ und „Abolitionistische Horizonte“. Eingeleitet wird der Band durch die Antwort der Herausgebenden auf die Frage: „Was ist Abolitionismus?“
Internationalen Diskussionen in Deutschland zu größerer Wahrnehmung zu verhelfen, ist zweifellos ein sinnvolles Unterfangen. In der Einleitung werden – entgegen der pro abolitionistischen Intention von Loick/ Thompson – die Probleme deutlich, wenn der Abolitionismus als politische Strategie verstanden wird. Nicht in allen Punkten muss man der Kritik zustimmen, die Thomas Land grundsätzlich an der Version der Autor*innen von Abolitionismus geübt hat (www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Land_Kritk_des_Abolitionismus.pdf), aber offensichtlich sind drei Probleme. Erstens: Wenn Abolitionismus bedeutet, alle Institutionen des Zwangs abzuschaffen, was unterscheidet ihn dann vom klassischen Ziel einer befreiten (sozialistischen) Gesellschaft? Zweitens: Wenn gefordert wird, statt repressiver Lösungen (Gefängnis, Polizei) soziale Investitionen zu fördern: Ersetzen dann nicht andere Einrichtungen des (sanften) Zwangs die alten? Drittens: Wenn die Lösung im Empowerment der „Communities“ gesucht wird: Wie plausibel ist es, dass gerade bei den ausgegrenzten Randgruppen die Potenziale schlummern, die die gesamte Gesellschaft umzuwälzen in der Lage sind?
Gemessen an der Zielsetzung des Bandes, stellen die fünf Beiträge (mit Fokus auf USA, Kanada, Frankreich) eher Vorarbeiten für eine abolitionistische Diskussion hierzulande dar. Sie sind interessant und lesenswert, weil sie zugleich Kenntnisse vermitteln und Illusionen (etwa über die Erfolge von „Polizeireformen“) aufdecken. Mit Ausnahme des Beitrags von Amna A. Akbar fehlt jedoch durchgängig der abolitionistische Blick auf die Polizei. Akbar liefert eine systematische Darstellung des polizei-abolitionistischen Horizonts in den USA. Einerseits werden bei der Lektüre die nationalen Besonderheiten klar, etwa wenn als Beispiel zur Stärkung nicht-polizeilicher Lösungen auf ein Projekt aus Oakland verwiesen wird, das die „Community“ befähigen will, bei medizinischen (!) Notfällen nicht den Polizeinotruf zu wählen. Andererseits enthält der Text Anregungen, die auch für die deutsche Diskussion relevant sind – etwa der Hinweis auf die Kriterien, die „Critical Resistance“ formuliert hat, um Reformen mit abolitionistischem Potenzial von solchen zu unterscheiden, die den Polizeiapparat stärken (von den Body Cameras bis zum Community Policing).
Starodub, Alissa: Ohne Polizei/Gewalt. Kritische Theorie & Praxis sozialer Gerechtigkeit, Wien, Berlin 2023
Dieser in der Reihe „kritik & utopie“ des Mandelbaum-Verlags erschienene Band versteht sich als Beitrag zur Diskussion über die Abschaffung der Polizei. Die Verfasserin gliedert ihre Argumentation in drei Schritte: Nach einstimmenden Vorbemerkungen gelten die ersten 75 Seiten der „Geschichte der Polizei“. Daran schließt sich eine 40-seitige Auseinandersetzung über „das Verhältnis von Gerechtigkeit, Gewalt und Polizei“ an, bevor sie im Schlussteil exemplarische „Alternativen ohne Polizei/Gewalt“ thematisiert.
Das Buch stellt zweifellos eine Bereicherung der abolitionistischen Debatte dar, wenngleich eher in der Hinsicht, dass deren Probleme umso klarer hervortreten, je konkreter die als Anregung gedachten Fallschilderungen werden. Der Wert der ersten beiden Teile ist hingegen beschränkt: Die „Genealogie“ der neuzeitlichen Polizeientwicklung in den USA, Frankreich und Deutschland auf je 15-20 Seiten darzustellen, muss unzureichend bleiben; verkürzte und „undialektische“ Brüche und Widersprüche verschweigende Narrative sind das Resultat – mit Folgen für den dritten Teil. Auch die Auseinandersetzung mit den Gerechtigkeitsverständnissen im zweiten Teil bleibt wenig erhellend. Hat je jemand ernsthaft behauptet, formale Rechtsstaatlichkeit schaffe soziale Gerechtigkeit?
Interessant wird es in der Mitte des Bandes im „Exkurs ins Theater der Unterdrückten: besser leben ohne Polizei?“ Hier wird die Autorin von ihrer (fiktiven) Freundin Ines zur Rede gestellt. Der bisherige Text sei „wenig greifbar“, er gehe „nicht wirklich unter die Haut“, sei ungeeignet Veränderungen anzustoßen. So folgt dann ab Seite 132 auf 30 Seiten ein Theaterstück in drei Szenen: Ausgehend von einem wegen vermeintlicher häuslicher Gewalt zu Hilfe gerufenen Polizeieinsatz werden die Beziehungen zwischen Gerechtigkeit und Gewalt erörtert, zwischen staatlichem Gewaltmonopol und seiner liberalen Rechtfertigung, die Bedeutung von „Übergriffen“ der Polizei und deren Beitrag zur Aufrechterhaltung der herrschenden Machtverhältnisse, von unterschiedlichen Sicherheitsverständnissen und Kriminalisierungsprozessen bis zu den Erfahrungen mit abolitionistischen Alternativen. Kurz bevor die letzte Szene mit einem Seufzen der Protagonisten endet, bekennt der überzeugte Abolitionist: „Aber Gerechtigkeit kann es nur ohne die Polizei geben, denn sie setzt ein Gerechtigkeitsverständnis durch, das wir ungerecht finden, das auf Gewalt und Strafe aufbaut.“ (S. 162)
Im dritten Teil werden schließlich vier empirische „Alternativen ohne Polizei/Gewalt“ vorgestellt: im kurdischen Nordost-Syrien (Rojava), in den zapatistischen Gebieten im mexikanischen Chiapas, verschiedene Praxen „transformativer Gerechtigkeit“ und die „Zone à défendre“ im Nordwesten Frankreichs. Die Autorin sieht in diesen Beispielen keine Blaupausen, sondern Anregungen, die den Horizont des globalen Nordens erweitern können und die Anstöße geben, über eine „Leben ohne Polizei“ nachzudenken – ein Vorhaben, das die Verfasserin als „genauso notwendig wie unendlich, so dringlich wie unmöglich“ (S. 234) bezeichnet.
Obwohl Alissa Starodub ihre Darstellung immer wieder mit reflektierenden Fragen konfrontiert, bleibt ihr kritischer Blick durch ihre abolitionistische Sympathie gemildert: Mitunter erinnern die Schilderungen der Konfliktbearbeitung an den Habermasschen „herrrschaftsfreien Dialog“ – und teilen mit ihm das Ausblenden von realen (sozialen, ökonomischen) Herrschafts-, Macht- und Gewaltverhältnissen. Mitunter werden die „Communities“ – ein unscharfes Gebilde – idealisiert; wer die soziale Enge eines europäischen Dorfes erlebt hat, wird da besonders empfindlich nachfragen. Schließlich bleibt offen, was geschieht, wenn am Ende einer Konfliktbearbeitung kein Konsens erreicht werden kann; in einigen Beispielen müssten die „Beschuldigten“ die Community verlassen – und wenn sie das nicht freiwillig tun? Die Rituale von „Kritik und Selbstkritik“ bergen das Potenzial zur Unterwerfung des Individuums unter das Kollektiv ebenso wie das Konzept der „kritischen Solidarität“ Raum für wohlmeinende Entmündigung Betroffener schafft. Vielleicht lösen abolitionistische Praxen Konflikte; sie produzieren zugleich neue Probleme.
Defund the Police – zwischen Abolition, DIY-Polizei und Reformen (Schwerpunkt), in: Kriminologisches Journal 2022, H. 4, S. 268-332
Die vier Beiträge des Schwerpunkts widmen sich unterschiedlichen Aspekten der durch „Defund the police“ ausgelösten Debatte. Gemeinsam ist ihnen eine kritische Sympathie gegenüber der „defund“-Bewegung; gemeinsam ist ihnen auch, dass sie auf unterschiedliche Weise auf den Zusammenhang von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen und der Institution Polizei hinweisen. In ihrer den „Ambivalenzen einer Bewegung“ gewidmeten Einleitung verweisen Jenny Künkel und Marie-Theres Piening zunächst auf die heterogenen Forderungen, die mit „defund“ verbunden sind: von der Ersetzung der Polizei durch soziale Dienstleistungen über die Stärkung von Community-Selbsthilfe bis zu einer „umfassenden gesamtgesellschaftlichen Transformation, die Polizei und Gefängnis letztlich ganz überflüssig macht“. Nach einem Blick auf die US-amerikanische Kontroverse über die Wirkungen von Kürzungen in den Polizeietats, wird die durch „Black Lives Matter“ intensivierte Diskussion insbesondere in „aktivistischen“ Kontexten in Deutschland nachgezeichnet. Die derart erweiterte Perspektive habe zwar „insgesamt intersektionale Betrachtungen der Macht- und Herrschaftsachsen Ethnie/Nation und Race/Kapitalakkumulation“ gestärkt“, zugleich blieben jedoch zentrale Fragen in abolitionistischen Perspektiven offen: von den Widersprüchen, die Abschaffung der Polizei und zugleich die stärkere Bestrafung bestimmter Handlungen zu fordern, bis zur ungeklärten Reichweite und Funktionsweisen alternativer – nicht staatlicher/polizeilicher – Konfliktbearbeitung.
Ausgehend von der US-amerikanischen Diskussion werden im Beitrag von Maximilian Pichl die „Defund the police“-Forderungen ins Verhältnis gesetzt zu klassischen bürgerrechtlichen Positionen, die Rechte der Bürger*innen gegenüber dem Staat/ der Polizei zu stärken, die staatliche Gewalt „einzuhegen“. Der Autor sieht keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Strategien, vielmehr betrachtet er sie „als sich wechselseitig bedingende politische Praktiken“, die sich aus ihren spezifischen Schwächen ergäben: „Während die Bürger*innenrechtsbewegung zuweilen das Emanzipationspotenzial des Rechts überschätzt, unterschätzen wiederum Bewegungen wie B[lack]L[ifes]M[atter] die Existenz formaler Freiheiten, die eine Bedingung für ihre eigenen Kämpfe darstellen.“ Folglich plädiert Pichl für die Bildung „intersektionaler Bündnisse“, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Vorgehensweisen „Teil dieses abolitionistischen Projekts“ werden könnten.
Unter der provokanten Überschrift „Polizei abschaffen? Schon geschehen!“ bereichert Fabien Jobard die Debatte um eine historische und eine global erweiterte Perspektive. Seine Kernthese lautet: Die Polizei ist nicht die zentrale Instanz gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse, wie die Polizei-Abolitionist*innen unterstellen. Historisch entsteht die Polizei erst relativ spät, im unmittelbaren Zusammenhang mit der Durchsetzung des Kapitalismus. Sie ist dabei zugleich die Instanz zu Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung und zur Beschneidung vormaliger traditionaler Herrschaftsrechte. So wie sie die gesellschaftlichen Herrschaftsbeziehungen nicht auflöst, sondern konservierend überdeckt, funktionieren viele Teil der Welt, ohne dass es eine Polizei im bürgerlich liberalen Sinn gibt. Mit anderen Worten: Historisch war und geografisch ist die Polizei faktisch abgeschafft, weil nicht existent. Umgekehrt bedeutet das aber auch: Eine Gesellschaft ohne Polizei bedeutet nicht eine Gesellschaft ohne Herrschafts-, Macht- und Gewaltverhältnisse, weil diese unverändert blieben. Sofern der Abolitionismus das Abzuschaffende in der Polizei sieht, verkennt er gesellschaftliche Machtverhältnisse vor und jenseits der Institution Polizei. Statt dem abolitionistischen Kurzschluss zu folgen, sympathisiert Jobard mit „der Annahme, dass die Reform unserer Polizei- und Justizsysteme ein zwar komplexerer, aber vielversprechenderer Gedanke ist, als ihre bloße Abschaffung.“
In ihrer Fallstudie über die Lakota auf der Rine Ridge Indian Reservation (im US-Bundesstaat Süddakota) zeigt Sonja John die Potenziale und die Schwierigkeiten indigener Sicherheits- bzw. Polizeikonzepte auf. Zentral für das Zusammenleben der Lakota sei die „inkludierende Community“, die „divergierendes Verhalten nicht als kriminell klassifiziert, sondern … durch caring and sharing-Praktiken für Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit sorgt und eine Ordnung weder total setzt noch restriktiv durchsetzt.“ Zwar werde eine solche „präventive Sicherheitsherstellung“ durch finanzielle Abhängigkeiten und die Einbindung über nationale Herrschaftsstrukturen behindert, bedeutsam für externe Beobachter*innen sei jedoch die Perspektive auf das soziale „Vorfeld“, das verspricht, „Polizei“ überflüssig zu machen: „ein gesellschaftlicher Zusammenhalt … indem Einzelne sich gegenseitig und fürsorglich verantwortlich sind und Gesellschaften inkludierende, respektvolle, reziproke Beziehungen aufbauen und pflegen: sharing and caring“. Wie sich derartige Sozialbeziehungen in einer global verschränkten und durchkapitalisierten Welt entwickeln bzw. wirksam werden könnten, bleibt freilich offen.
Kritische Kriminalpolitik (Schwerpunkt), in: Vorgänge 243 (H. 3/2023), S. 1-106
Die elf Aufsätze, die unterschiedliche Themen und Strategien „kritischer Kriminalpolitik“ beleuchten, können auch als Beiträge zur abolitionistischen Debatte gelesen werden. Im Unterschied zu Loick/Thompson oder Starodub, die das abolitionistische Projekt eng binden an die Hoffnung auf ein herrschaftsfreies Zusammenleben, sind die Vorgänge-Artikel durch ihre bescheidene Reichweite gekennzeichnet. Statt Abschaffung des Strafrechts wird ein „minimales Strafrecht“ gefordert, Entkriminalisierungen von Bagatellkriminalität und Drogenkonsum, generell die „‘Entrümpelung‘ des Strafgesetzbuches“. Statt alle strafenden Reaktionen abzulehnen, wird „restorative justice“ gefordert. In Johannes Feests Aufsatz über den „Gefängnis-Abolitionismus“ wird deutlich, wie radikal und gleichzeitig pragmatisch eine Strategie sein kann, die sich auf die extremste Form der menschlichen Freiheitsbeschränkungen konzentriert. Der Abbau des Gefängnissystems wird als ein schrittweiser Prozess vorgeschlagen, der vom Verzicht auf Gefängnisneubauten bis zur Stärkung einer aufnahmebereiten Gesellschaft reicht. Für Deutschland verweist Feest auf das „Abolitionistische Manifest“ von 2019 (https://strafvollzugsarchiv.de), das konkrete Forderungen enthält: Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, kein Strafvollzug bei Minderjährigen, Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, Ersetzung des geschlossenen durch den offenen Vollzug und Gestaltung des verbleibenden geschlossenen Vollzugs nach dem „Angleichungsgrundsatz“, d. h. die Lebensbedingungen in der Haft möglichst den Verhältnissen außerhalb anzupassen.
Neuerscheinungen
Kleffner, Heike; Meisner, Matthias (Hg.): Staatsgewalt. Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern, Freiburg im Breisgau (Herder) 2023, 347 S., 24,00 Euro
Vier Jahre nach „Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz“ versprechen Herausgeberin und Herausgeber in ihrer Einleitung eine „Zwischenbilanz“, die nicht nur über den Fortgang der „großen Fälle“ informiert, sondern auch die Fragen nach einer „besseren Prävention“, danach „was noch getan werden muss“, nach den Chancen eines verschärften Disziplinarrechts oder eines AfD-Verbots beantworten will (S. 19). Das Buch versteht sich als Beitrag zu einer öffentlichen Diskussion darüber, wie die Infiltration von Rechtsradikalen in die Sicherheitsbehörden wirksam verhindert werden kann. Denn: „Eine demokratische Gesellschaft braucht eine Polizei und eine Armee, die das Vertrauen der Bürger*innen haben.“ (S. 31)
Nach Vorwort und Einleitung ist der Band in vier Teile gegliedert: „Der Rechtsstaat und seine Feinde“, „Neue Netze, bekannte Gesichter“, „Täter und Helfer in Polizei und Justiz“ und „Was zu tun ist“. Die vier „Sicherheitsbehörden“ sind unterschiedlich stark vertreten: Mit den Ämtern für Verfassungsschutz beschäftigen sich nur zwei Beiträge, mit der Bundeswehr drei, mit der Justiz (von der Staatsanwaltschaft bis zu Strafvollzug) vier, der Polizei sind fünfzehn Aufsätze gewidmet. Dabei folgen weder die Gliederung des Bandes noch die Struktur der einzelnen Teile einem nachvollziehbaren System. Teilweise handelt es sich um die Schilderung einzelner Vorfälle, die etwa mit bestimmen Orten verbunden sind (Hanau, Berlin-Neukölln); in anderen Beiträgen werden einzelne Fälle geschildert (von „Nordkreuz“ bis zur Gruppe um Prinz Reuß); in wieder anderen werden übergreifende Themen behandelt wie z. B. die Rekrutierungsstrategien der AfD, die Bedeutung von Vertrauen in die Sicherheitsbehörden in einem Rechtsstaat. Weitere Beiträge treten den gängigen Verharmlosungen der rechtsextremistischen Gefahr entgegen, etwa dass es sich um Einzelfälle handele oder die Polizei nur ein „Spiegelbild“ der Gesellschaft sei oder dass die Gefahren von rechts und links in gleicher Weise drohten.
Wer das Zeitgeschehen verfolgt, wird in dem Band wenig Neues finden. Gleichwohl ist die Lektüre lohnend, weil leicht die vielen Fälle bekannt gewordener Rechtsextremist*innen vergessen werden: von den verschiedenen Chat-Gruppen bis zu konkreten Umsturzplänen, von offenkundigen Datenweitergaben („NSU 2.0“) bis zu Waffensammlungen, von rechtsradikalen Richter*innen bis zu Polizeischüler*innen mit menschenfeindlichen Überzeugungen, von den öffentlichen Entrüstungen der politisch Verantwortlichen und ihren halbherzigen Reaktionen. Insofern wirft das Buch einen erschreckenden Blick auf die Wirklichkeit in der Bundesrepublik – gleichermaßen auf die Sicherheitsbehörden als Tummelplatz von Rechtsextremist*innen wie auf die teils verharmlosenden, teils eher verhaltenen Reaktionen derjenigen, die sich im Auftrag der „wehrhaften Demokratie“ sehen.
Mit wenigen Ausnahmen ist das Buch von Journalist*innen verfasst, die seit Jahren in diesen Feldern recherchieren. Das schlägt sich in detaillierten, nachvollziehbaren und gut lesbaren Darstellungen nieder. Zu befürchten ist, dass in wenigen Jahren ein dritter Band folgen wird. Denn weder werden entsprechende „Ereignisse“ ausbleiben noch ist zu erwarten, dass unsere Innen- (und Verteidigungs-)minister*innen sich zu mehr als auf „Schwarz Schafe“ zielende Politik durchringen können. Statt eine solche never ending story weiter fortzuschreiben, scheint es jedoch an der Zeit, die bloß additive Zwischenbilanz durch eine systematisch-analysierende zu erweitern. Denn das ist das Manko des vorliegenden Buches: An keiner Stelle werden die Fäden zusammengezogen und wird versucht, ein Gesamtbild zu zeichnen. Das gilt einerseits für die empirische Ebene: Die mittlerweile veröffentlichten Lagebilder, Hell- und Dunkelfeld werden in keinem Beitrag zusammenfassend gewürdigt. Dies gilt auch für die bisherigen und geplanten staatlichen Reaktionen: von den Entfernungen aus dem Dienst über die Novellierung des Disziplinarrechts bis zur AfD-Verbots-Forderung – alles wird verstreut irgendwo erwähnt, aber nicht insgesamt bilanziert. Nach Ansätzen der Prävention sucht man vergebens, sofern sie sich nicht in den erhofften Wirkungen von konsequenten Sanktionen erschöpfen soll.
Weißmann, Martin: Organisiertes Misstrauen und ausdifferenzierte Kontrolle. Zur Soziologie der Polizei, Wiesbaden (Springer VS) 2023, 436 S., 42,79 Euro, https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-658-39227-7.pdf
Diese Bielefelder soziologische Dissertation versteht sich als Beitrag zum Spannungsverhältnis „von Polizeiarbeit im Hinblick auf ihre Rechtmäßigkeit einerseits, ihrer(r) Effektivität andererseits“ (S. 4). Naiv könnte man vermuten, dass diese Spannung in demokratischen Staaten deutlich entschärft sein müsste, denn deren Qualität soll ja (auch) darin bestehen, dass die „Effektivität der Polizei“ begrenzt ist – und zwar durch ein Recht, das auf einer grund- oder menschenrechtlichen Basis fußt. Aber die Begriffe „Grundrechte“ und „Bürgerrechte“ tauchen im Text nicht auf; „Menschenrechte“ nur in zwei unbedeutenden Kontexten. Dieses deutliche Desinteresse an der Grundrechts- und Demokratierelevanz von Polizei ist auch anderen Stellen ersichtlich. „Rechtmäßigkeit“ wird bei Weißmann auf „Regeltreue“ reduziert (u. a. S. 14). Zwar bezeichnet er die systemtheoretische Rechtfertigung von Rechtsbrüchen durch die Polizei, „insofern sie der gesellschaftlichen Funktionserfüllung des Rechtssystems dienen“, als „problematisch“. Aber der Wert der Systemtheorie liege darin, „normative Distanz … zu einer Ideologie unbedingter Regeltreue … zu gewinnen“ (S. 140). Und zweifellos ist die Polizei nicht die einzige Institution sozialer Kontrolle – sie aber als „besonderen Fall eines allgemeinen Systemtyps“ zu bezeichnen (S. 10), ignoriert das polizeiliche „Alleinstellungsmerkmal“, letzte und gewaltfähige Instanz des Staates zu sein.
Zwischen der Einleitung und dem Schlussteil besteht die auf der Literaturauswertung basierende Untersuchung aus zwei Teilen. Auf gut 120 Seiten werden die theoretischen Grundlagen – die Systemtheorie Luhmannscher Prägung – entwickelt, bevor ab S. 151 „Zur Soziologie der Polizei“ beginnt. In zwei Kapiteln (historisch, gegenwärtig) werden Verfahren der kriminalpolizeilichen Informationsgewinnung über Informant*innen etc. vorgestellt. Da die Polizei mit ihren „Quellen“ irgendwie kooperieren müsse, sieht Weißmann hier ihre „Arbeit an den Grenzen des Rechts“. In zwei weiteren Kapiteln untersucht der Autor die Beschuldigtenvernehmung und den „polizeiliche(n) Korpsgeist“. Auch in diesen Feldern müsse die Polizei „Grenzrollen“ bewältigen, die in der Verbindung unterschiedlicher Systeme bestünden – mit anderen Worten: sie müsse zwangsläufig gegen die „reine Lehre“ des Systems Polizei verstoßen.
Angesichts des derart gerahmten Problems verwundert es nicht, dass der Autor warnt: Die mit Reformen zur besseren Kontrolle der Polizei „verbundenen Hoffnungen sollten indes nicht zu groß sein“, weil „die komplexen und folgenreichen Situationen“, denen Polizist*innen ausgesetzt seien, immer zu „Versicherungsgemeinschaften“ führten, die „den Einzelnen von exklusiver Verantwortlichkeit für sein Handeln entlasten“ (S. 380). Vorher hatte er vier „Ansätze zur Steigerung der Wirksamkeit der (Selbst)Kontrolle der Polizeiarbeit“ vorgestellt: 1) Polizeiliche Whistleblower besser schützen. 2) Interne Ermittlungen in nicht betroffenen Dienststellen führen. 3) Das Personal von Dienstgruppen divers zusammenstellen. 4) Das Selbstbild durch Aus- und Fortbildung in Richtung „besondere Form von Verwaltungshandeln“ verändern. Warum fehlen die Erwähnung von Polizeibeauftragten, der Entzug von Befugnissen oder von Aufgaben im Sinne der Entpolizeilichung sozialer Sachverhalte? Hat die Systemtheorie dazu keine Antworten?