Literatur

Zum Schwerpunkt

 „Die unermeßliche Vielfalt jener Erscheinungen, die man auf den ersten Blick unter ‘Kolonialismus‘ fassen kann,“ schreibt Jürgen Osterhammel in seinem 1995 erschienenen kompakten Überblick, „dämpft freilich jeden Willen zu terminologischer Genauigkeit“ (S. 8). Eine solche Viel- und, mag man hinzufügen, Einfalt findet sich auch in den militärischen und polizeilichen Kolonialkonzepten gegen die Kolonisierten, die bis heute vorrangig aus Sicht Forschender aus eben jenen Kolonialmächten beschrieben werden. Denn, so Osterhammel weiter, „Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen“ (S. 21).

Das ging (und geht) sich fast überall nur mit militärischer und/oder polizeilicher Pazifizierung, mit mörderisch staatlicher, Söldner- und/oder kommerziell organisierter Gewalt aus, in deren Strukturen häufig auch die Kolonisierten selbst eingebunden waren. Die nachfolgende Literaturauswahl kann dazu nur einen Einblick geben; neben den wenigen Veröffentlichungen zu den deutschen Kolonialpolizeien berücksichtigt sie nur exemplarisch Studien über das Wirken anderer Kolonialmächte.

Zollmann, Jakob: Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen. Die Kolonialpolizei in Deutsch-Südwestafrika 1894-1915, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2010, 400 S., 85,00 Euro

Muschalek, Marie A.: Violence as Usual: Policing and the Colonial State in German Southwest Africa, Ithaca (Cornell University Press) 2019, 266 S., 52,00 Euro

Im Vergleich zum deutschen Militär, der Kaiserlichen Schutztruppe, ist die Rolle der Polizei (und vor allem der indigenen ‚Polizeidiener‘) in Deutsch-Südwestafrika (DSWA), dem heutigen Namibia, relativ schlecht erforscht. Licht in dieses Dunkel bringen die beiden vorgenannten Bände. „Etwa 25 Jahre lang (1890-1915) versuchten ‘Ordnungskräfte’, das Gebiet unter deutsche Kontrolle zu bringen. Doch der Anspruch und das sich aus den Quellen ergebende Bild klaffen weit auseinander”, beginnt Zollmann seine Untersuchung (S. 9). Sein Band gliedert sich in drei Teile. Zunächst geht es um die Gründung der Kolonialpolizei in DSWA, die auf das Jahr 1894 datiert, als Soldaten der Kaiserlichen Schutztruppe mit polizeilichen Aufgaben betraut wurden. Der Aufbau einer regulären Polizei war seit 1900 geplant, wurde aber aufgrund der Kriege mit den Ovaherero und Nama mit dem Erlass von Organisationsvorschriften für eine reguläre Polizei – die Landespolizei – erst im Oktober 1907 realisiert. Ihre Aufgabe bestand in der Kontrolle der Kolonisierten und der weißen, meist deutschen Farmer. Im zweiten Teil geht es um die exzessive Gewalt, welche die Polizei anwendete: Auspeitschungen, Strafvollzug, Deportationen, der Einsatz von Schusswaffen und die Todesstrafe, gern auch zur Ahndung von Viehdiebstahl (und im ‚Auftrag‘ der um 1914 rund 14.000 kolonialen Farmbesitzer, S. 300ff.). Es gab weder genügend Polizeikräfte, noch finanzielle Mittel aus dem Reich zur umfassenden räumlichen Kontrolle des Gebiets, zeigt der dritte Teil des Bandes („Raumpolitik“). Aus der Schwäche des deutschen Kolonialregimes, das weder die Bevölkerung noch das Land unter Kontrolle habe bringen können, erkläre sich die exzessive Gewalt, die auf eine rassistisch basierte ‚Ordnung‘ setzte. Damit sei der Exzess, so Zollmann, als Ausdruck von Schwäche (und nicht Stärke) des deutschen Kolonialsystems zu verstehen (bspw. S. 192).

Während Zollmann neben intensiver Quellenarbeit auf einen umfassenden Apparat von Sekundärliteratur zurückgreift, hat Muschalek auch in die (Un)Tiefen polizeilicher Akten und Berichte aus dem Bundesarchiv sowie aus namibischen Archiven gegriffen. Sie kommt mit Blick auf den polizeilichen Gewaltalltag zu einer gänzlich anderen Analyse: Dass die Gewalt des kolonialen Staates dessen Unfähigkeit belege, jenseits von Mord und Totschlag Zustimmung zu erreichen, treffe nicht den Punkt. Vielmehr „wurde der koloniale Staat durch improvisierte, informelle Praktiken der Gewalt produziert“ (S. 9). Die Gewalt der Landespolizei war konstitutiv für die koloniale Herrschaft; sie „produzierte kulturell koloniale Ordnung und staatliche Macht“ (S. 162).

Eine Einsicht, die beide Autor*innen teilen, ist das Verständnis von kolonialer Polizeiarbeit auch als Chance auf Klassenmobilität: Wenn der Siedlerkolonialismus in DSWA eine Art Klassenbündnis war, das den weißen Eliten Kapitalakkumulation und seinen ‚Fußsoldaten‘ aus der unteren Mittelschicht (sowie afrikanischen Vermittlern wie den ‚Polizeidienern‘) soziale Mobilität ermöglichte, so ihre Überlegungen, dann war die Polizeiarbeit das eigentliche Wesen dieses Bündnisses. Aus einer wirtschaftlich bedrohten kleinstädtischen Händlerklasse mit Schreib-, Lese- und Deutschkenntnissen wird unter der militärischen und polizeilichen Kolonialknute alltäglicher Gewalt, das Personal zur Umsetzung der Mechanismen des Imperiums (gemacht).

Woran freilich beide Autor*innen scheitern, und das soll explizit kein Vorwurf sein, ist ihr Bemühen um ein tieferes Verständnis der Motive der heimischen Bevölkerung. Die Quellenlage ist rein europäisch ausgelegt und zudem durch Polizeimaterialien geprägt; sie konnte daher auch kaum brauchbare Informationen über die afrikanischen Alltagserfahrungen unter dem deutschen Kolonialsystem liefern.

Haas, Carlos Alberto; Lehmann, Lars; Reinwald, Brigitte; Simo, David (Hg.): Das Auswärtige Amt und die Kolonien. Geschichte, Erinnerung, Erbe, München (C.H. Beck) 2024, 592 S., 36,00 Euro

Als 2010 der mit Steuergeldern finanzierte Band „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ erschien, löste das eine hitzige Debatte aus (vgl. etwa www. hsozkult.de/publicationreview/id/reb-15515). Auch der vorliegende in zwei Großkapitel gegliederte Sammelband („Die direkte Kolonialherrschaft“, „Kolonialismus ohne Kolonien“) ist steuerfinanziert, wird aber weniger Wellen schlagen, versammelt er doch eher ‚gesichertes Wissen‘. Vier Beispiele müssen genügen.

Im ersten Teil wird die institutionelle Aufstellung von der Kolonialabteilung im AA hin zum eigenständigen Reichskolonialamt ebenso nachgezeichnet (S. 29ff.) wie die juridische Organisation der „Schutzgebiete“, „Schutztruppen“ und kolonisierten Bevölkerung (S. 63ff.). Von ‚Kolonien‘ wollte Bismarck, dem der Begriff zu ‚staatsnah‘ klang, nicht sprechen, sollten diese Gebiete doch von kommerziellen Kolonialgesellschaften privat finanziert und verwaltet werden („Unsere Absicht ist, nicht Provinzen zu gründen, sondern kaufmännische Unternehmungen“, S. 73). Trotz der regelrechten ‚Flutung‘ der deutschen Kolonien mit Verwaltungsrecht – von rund 22.000 Seiten wird berichtet (S. 93) – werde deutlich, so der Autor, „dass die leitenden Kolonialbeamten an einem deutschen Kolonialrecht als ‚Recht im Ungefähren‘ festhalten wollten“ (S. 94). Da das besonderes Recht für die Kolonisierten bedeutete, ließe sich auch von ‚Unrecht im Akribischen‘ sprechen.

Die Vernichtung der Kolonisierten in den Kriegen in Deutsch-Südwestafrika (DSWA) gilt dem Autor des 5. Kapitels als Ausdruck eines „Versagen(s)“, denn die Kolonialabteilung habe „als eine schwache Institution“ zu wenig getan, „um die Gewalt einzudämmen“, heißt es auf S. 125 (Hervorh. im Orig.). Insbesondere deren Leitung – zwischen 1890 und 1906 lösten sich sieben Direktoren in der Kolonialabteilung des AA und zwischen 1907 und 1919 vier Staatssekretäre im Reichskolonialamt ab – wird eine diesbezügliche „Schwäche“ attestiert (S. 147). Sie soll für die „Dynamik der Entgrenzung“ verantwortlich gewesen sei (ebd.). Das ist etwas krude formuliert, aber vermutlich ist eine ‚Entgrenzung‘ der Gewalt gemeint. Nur, wenn dem so gewesen sein soll, dann sollte man nicht eine Seite vorher schreiben, die Vernichtung der Indigenen wurde durch „die maßgeblichen Beamten der Kolonialabteilung rückhaltlos unterstützt“. Dieser Beitrag vermag (vermutlich auch den Autor selbst) nicht zu überzeugen.

Wie koloniale Gewalt und ‚preußische Disziplin‘ bis heute nachwirkt, zeigt der mit historischem Bildmaterial arbeitende Beitrag zur 1885 aus 12 Söldnern gegründeten Polizeitruppe in Togo (S. 149ff.). Bis zum Sommer 1914 war sie mit zehn deutschen Polizeimeistern sowie 530 einheimischen Unteroffizieren und Polizeisoldaten massiv angewachsen und zeichnete sich durch exzessive Gewalt in Gestalt etwa von öffentlichen Prügelstrafen gegen die Zivilbevölkerung aus. In den deutschen Missionsschulen galt ein vergleichbares Disziplinarregime der Gewalt. U. a. für den Eisenbahnbau und im Bergbau wurden Arbeitskräfte aus dem Norden deportiert: Sie mussten sog. „Steuerarbeit“ leisten, also ihre preußischen Pflichtsteuern abarbeiten, und als Arbeitsaufseher den lokalen Arbeitskräften ‚preußische Disziplin‘ aufoktroyieren (S. 162). Bis heute sei die durch solche Methoden hervorgerufene „transkulturelle Aphasie“ (S. 164) nicht überwunden. Der Beitrag ist bedrückend anschaulich, kann die konkrete Verbindung zum AA aber nicht herstellen.

Kreienbaum, Jonas:Ein trauriges Fiasko“. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900-1908, Hamburg (Hamburger Edition) 2015, 349 S., 28,00 Euro

Der Band – eine sehr solide Fleißarbeit – erregte für eine vergleichend-kleinteilige Fallstudie zu afrikanischen ‚Konzentrationslagern‘ seinerzeit einiges Aufsehen. Er erinnerte nicht nur daran, dass der Beginn des 20. Jahrhunderts mit der ‚Verlagerung‘ unterworfener Völker und deren Vernutzung in (Lohn)Arbeit einherging, sondern verdeutlicht mit den Fallbeispielen Südafrika (Großbritannien) und Südwestafrika (Deutschland) auch, dass die Vorstellung, das koloniale Lagerwesen sei direkter Vorläufer der nationalsozialistischen Vernichtungs- (und Sterbe) Lager der SS gewesen, nicht halten lässt (S. 294ff.).

Eckl, Andreas; Häussler, Matthias; Akawa, Martha (Hg.): An Unresolved Issue. Genocide in Colonial Namibia, Windhoek (Friedrich-Ebert-Stiftung) 2024, 403 S., https://library.fes.de/pdf-files/bueros/namibia/21437.pdf

Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat das im Frühjahr 2021 geschlossene „Versöhnungsabkommen“ zwischen namibischen und deutschen Regierungsdelegationen zum Anlass genommen, eine Fachpublikation in englischer Sprache aufzulegen. Die offizielle Anerkennung der deutschen Verbrechen an den Ovaherero und Nama im ehemaligen DSWA (1904-1908) wurde lediglich als Völkermord „from today’s perspective“ qualifiziert, wie es in der Joint Declaration heißt.

Im Vorwort mahnen die Herausgeber*innen an, der „Ruf nach Anerkennung der deutschen Verbrechen und ihrer namibischen Opfer ist in den letzten Jahren immer lauter geworden. Wenn es uns mit dieser Forderung ernst ist, müssen wir sensibler und präziser werden, um die ganze Komplexität der Welt zu erfassen, die die Deutschen zerstören wollten“ (S. 9). Auf 403 Seiten und in vier Abschnitten versucht die Autor*innenschaft diesem Anspruch gerecht zu werden. 

Thomas, Martin: Violence and Colonial Order. Police, Workers and Protest in the European Colonial Empires, 1918-1940, Cambridge (Cambridge University Press) 2012, 527 S., 52,00 Euro

„Ob sie wollten oder nicht, die europäischen Kolonialpolizeien würden danach beurteilt werden, wie gut sie ihre Hauptaufgabe erfüllten: die Aufrechterhaltung des imperialen Regierungsapparats und die von ihm gestützte politische Ökonomie.“ Das ist für Thomas der Kern polizeilich-kolonialer Herausforderung (S. 327).

Der Band gliedert sich in zwei Teile und elf Kapitel, die sich britischen, französischen und belgischen Kolonien widmen. Die multiethnische Zusammensetzung kolonialer Polizeieinheiten und deren Folgen sowie die Bedeutung antikolonialer Bewegungen, ihrer Unterdrückung, Einhegung und/oder Vernichtung seien das eine, die Darstellung solcher Bedingungen als polizeilicher kolonialer Alltag lasse aber die Durchsetzung des (Lohn)Arbeitsverhältnisses als Kernelement kolonialer Herrschaft unterbelichtet. So seien ab 1918 – da war das deutsche Kolonialreich bereits Geschichte – die Auseinandersetzungen zwischen Kolonialpolizei und Einheimischen eher durch industrielle als durch politisch-kulturelle Konflikte geprägt gewesen.

Die wirtschaftlichen Imperative der kolonialen Polizeiarbeit, die vor den Jahren der Depression häufig nur implizit waren, traten in deren Folge nun unverhüllt zutage. Das ist die eine Schlussfolgerung von Thomas. Damit verbunden ist die zweite: „Die Depression machte explizit, was implizit gewesen war, nämlich dass die Kräfte der kolonialen Ordnung letztlich auf den Schutz kommerzieller Interessen und die Gewinnung kolonialen Reichtums ausgerichtet waren“ (S. 326). Die zunehmend mörderische Polizei- und Militärgewalt in Algerien, Marokko und Tunesien etwa waren ebenso Ausdruck dieser Ausrichtung wie der Aufstand und seine Niederschlagung in Belgisch-Kongo (S. 89ff., 112ff., 301ff.).

Blanchard, Emmanuel; Bloembergen, Marieke; Lauro, Amandine: Policing in Colonial Empires. Cases, Connections, Boundaries (ca. 1850–1970), Lausanne (Peter Lang) 2017, 253 S., 57,10 Euro

In drei Teilen und neun Kapiteln werden „Polizeipersonal und politische Unruhen“, „Polizei bei der Arbeit und der Sammlung von Informationen“ sowie „Grenzen imperialer Polizeiarbeit“ ausgelotet. Die einzelnen Kapitel zeigen, dass in jedem Kolonialstaat unterschiedliche Instrumente für eine ‚moderne‘ koloniale Polizeiarbeit zur Verfügung standen. Einige waren speziell auf ‚moderne‘ Städte ausgerichtet, einige auf Plantagen, einige auf ländliche Regionen und alle mit spezifischen Aufgaben und unterschiedlichen (militärähnlichen) Befugnissen und Waffen.

Benoît Henriet berichtet etwa von der Polizeigewalt unter der Firma Huileries du Congo Belge, die 1911 in Belgisch-Kongo Konzessionen zur Entwicklung einer kommerziellen Palmölindustrie erhalten hatte (S. 41ff.). Belgien wollte so am boomenden Palmöl-Weltmarkt partizipieren. Zweitens ging es darum, den Kolonialismus im Kongo auszudehnen, denn die Region Kwango-Kwilu war bis dahin kaum vernutzt worden. Die Anwerbung einheimischer Arbeitskräfte sollte zudem dazu führen, dass diese ihre traditionelle Lebensweise aufgeben und zu Lohnarbeitern und vor allem zu Steuerzahlern werden. Schließlich wollte der Kolonialstaat einen Bruch mit dem katastrophalen Ausbeutungsmodell des Kongo unter Leopold II. vollziehen, dessen „Red Rubber“-Politik des Handabschlagens und Mordens das Modell der Konzessionsgesellschaften gründlich diskreditiert hatte. Wenn Konzessionen weiterhin eine bedeutende Rolle in der Entwicklung des Belgisch-Kongo spielen sollten, musste der Welt gezeigt werden, dass ein anderes Konzessionsmodell machbar war. Um es kurz zu machen, Belgien scheiterte (vgl. dazu auch den Band von Thomas Martin).

Robert Whitaker (S. 161ff.) erinnert in seinem Beitrag an die ersten in diesem Zeitraum gegründeten internationalen Polizeiorganisationen, die sich zwar als nicht sehr erfolgreich erwiesen hätten, dennoch als Ausdruck einer Internationalisierung von Sicherheitsanforderungen und polizeilichen Reaktionen im Zeitalter (schwindender) Imperien gelesen werden sollten.

 Bendix, Daniel (Hg.): Episodes from a Colonial Present, Québec (Daraja Press) 2024, 104 S., 26,00 Euro

„’Colonial present? Hang on, I thought colonialism had ended in… err… some time in the 20th century, right?’ Nun… fast, aber nicht ganz“, so beginnt diese Graphic Novel, in der sich Sozialwissenschaftler*innen und Künstler*innen verschiedener Herkunft mit dem nur „formalen Ende“ des Kolonialismus auseinandersetzen: in Haiti 1804, später im 19. Jahrhundert in der restlichen Karibik und Lateinamerika, in Indien und Pakistan 1947, in den afrikanischen Ländern seit Ende der 1950er, in Simbabwe erst 1980 und in Namibia 1990. Auch heute sind zahlreiche vom europäischen Kolonialismus gezeichnete Gebiete immer noch nicht unabhängig, etwa die französischen Départements et régions d’outre-mer, Enklaven wie Ceuta und Melilla, US-Außengebiete wie Puerto Rico, die besetzten Gebiete der Westsahara sowie kurdische und palästinensische Gebiete.

In neun Geschichten werden (post)koloniale Verhältnisse mit den persönlichen Erfahrungen der Autor*innen verknüpft und die historischen Bedingungen kolonialen Lebens transparent gemacht. So entspricht etwa die Geschichte «Tracking Trauma. The German Genocides at Home and Abroad“ der von der FES geforderten Komplexität und bebildert, wie die Nama-Gruppen im Zusammenhang mit der deutschen kolonialen Aggression Bündnisse wechselten: „Die Witbooi (/ Khowesin) etwa kämpften zunächst gegen die Ovaherero, schlossen dann Frieden und kämpften zunächst Seite an Seite mit den Ovaherero unter deutschem Kommando gegen andere kolonisierte Völker, dann wieder gegen die Ovaherero, aber für die Deutschen, bis sie sich schließlich mit den Ovaherero und anderen Nama-Gruppen gegen die deutschen Besatzer vereinigten” (S. 43). Ein erklärender Text hält fest: „Noch heute gehören 70 Prozent des privaten Grund und Bodens einigen wenigen tausend Weißen, die meisten von ihnen sind deutschsprechende Farmer“ (S. 45). Man wünschte sich eine deutschsprachige Fassung in allen Wartezimmern unseres Täterlandes.

Zu einem eigenen Forschungsstrang, der die ‚Rückkehr‘ der polizeilichen Gewalt aus den Kolonien ins ‚Mutterland‘ beschreiben will und damit eine weitere Tür in die postkoloniale Gegenwart öffnet, können hier nur unkommentierte Literaturhinweise gegeben werden:

Brogden, Mike: The Emergence of the Police – The Colonial Dimension, in: The British Journal of Criminology 1987, H. 1, S. 4-14

Styles, John: The Emergence of the Police – Explaining Police Reform in Eighteenth and Nineteenth Century England, in: The British Journal of Criminology 1987, H. 1, S. 15-22

Williams, Randall: A state of permanent exception: The Birth of Modern Policing in Colonial Capitalism, in: Interventions 2003, H. 3, S. 322-344     

Sinclair, Georgina; & Williams, Chris A.: ‘Home and Away’: The Cross-Fertilisation between ‘Colonial’ and ‘British’ Policing, 1921-85, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 2007, H. 2, S. 221-238

Emsley, Clive: Policing the Empire/Policing the Metropole: Some thoughts on models and types, in: Crime, History & Societies 2014, H. 2, S. 5-25

Kienscherf, Markus: Race, class and persistent coloniality: US policing as liberal pacification, in: Capital & Class 2019, H. 3, S. 417-436

Pingeota, Lou; Bellb, Colleen: Recentring the coloniality of global policing, in: Third World Quarterly 2022, H. 10, S. 2488-2508

Bobin, Florian: Policing and imperialism in France and the French Empire, in: Cunneen, Chris; Deckert, Antje; Porter, Amanda; Taui, Juan; Webb, Robert (Hg.): The Routledge International Handbook on Decolonizing Justice, London, New York 2023, S. 178-190

(alle: Volker Eick)

Neuerscheinungen

Overath, Margot: Verbrannt in der Polizeizelle. Die verhinderte Aufklärung von Oury Jallohs Tod im Dessauer Polizeirevier, Berlin (Metropol Verlag) 2024, 281 S., 22,00 Euro

Am 7. Januar 2005 starb Oury Jalloh infolge eines Brandes in einer Gewahrsamszelle der Polizei in Dessau (Sachsen-Anhalt). Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte gingen (und gehen) davon aus, dass der an Händen und Füßen fixierte Jalloh den Brand selbst gelegt hatte, um das Ende seiner Fixierung bzw. die Entlassung aus dem Gewahrsam zu erreichen. Die strafrechtliche Aufarbeitung des Falles erfolgte auf Grundlage dieser Annahme. Von den zwei angeklagten Polizisten wurde einer freigesprochen, der andere in 2. Instanz zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, weil er die Selbstanzündung nicht verhindert habe. Der Fall wurde vor zwei Landgerichten verhandelt, zweimal wurde der Bundesgerichtshof angerufen, 2022 lehnte das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde als unzulässig ab, gegenwärtig läuft eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Umstände des Todes von Oury Jalloh, insbesondere die Frage, wie und durch wen der Brand in der Zelle entstehen konnte, bleiben weiterhin ungeklärt.

Im vorliegenden Buch hat die Journalistin Margot Overath ihre Recherchen zusammenfassend dargestellt, die sie für verschiedene Radiodokumentationen unternommen hat. Das 5-teilige Feature von 2020 („Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau“) ist weiterhin in der ARD-Audiothek abrufbar. In 29 Kapiteln und belegt mit 556 Fußnoten zeichnet die Autorin akribisch die „verhinderte Aufklärung“ nach, die der Untertitel ankündigt. Über ein Jahrzehnt stand das Beharren auf der „Selbstanzündung“ der Aufklärung der Vorgänge im Wege. Dabei zeigen die auf S. 99 und S. 257 abgedruckten Fotos – die eng an der Zellenwand angeschlossene rechte Hand und die Lage der verbrannten Leiche –, dass derart fixiert niemand brennbares Material aus der schwer entflammbaren Hülle der Matratze gezupft und mit einem Feuerzeug entzündet haben kann (so die gerichtliche Version). Overath zeigt detailliert, mit welch‘ artistischen Verrenkungen Staatsanwaltschaft und Gerichte an der These der „Selbstanzündung“ festhalten, die kurz nach dem Brand von der Polizei ausgegeben wurde. Gestützt wurde dieses Vorgehen durch das Verhalten der Polizist*innen, beginnend am Tag des Geschehens bis zu den widersprüchlichen, wechselnden, teils offenkundig abgesprochenen Aussagen, den „Gedächtnislücken“ und Aussageverweigerungen vor Gericht.

Nach Overath und den von ihr zitierten Experten*innen, kann der Brand nur von einer (oder mehreren) anderen Person(en) unter Zuhilfenahme von Brandbeschleuniger gelegt worden sein. Sie vermutet, dass damit eine vorangegangene Misshandlung durch Polizisten des Präsidiums vertuscht werden sollte, die, wäre sie entdeckt worden, auch zu erneuten Ermittlungen frühere Todesfälle im bzw. mit Bezug zum Präsidium geführt hätten. Die Autorin schildert eine in Summe unfassbare Zahl von Schlampereien und Vertuschungen, von Lügen und Ausreden, von Ignoranz und rassistischer Abwertung, von ungeahndeten Verletzungen der Dienstpflichten bis zu einer Justiz, die sich der Aufdeckung und Ahndungen von Straftaten verweigert. In diesem düsteren Portrait deutscher Polizei- und Justizwirklichkeit bringen allein die Initiative zum Andenken an Ouri Jalloh und die von ihr beauftragten Expert*innen ein wenig Licht.

Overaths Darstellung zeigt den Skandal um den Tod in der Polizeizelle auf vier Ebenen. Zunächst gilt das für das Verhalten der Polizist*innen am Tag des Brandes: die unzulässige Arrestierung des betrunkenen Jalloh, die Falschbehauptung, er habe Frauen körperlich belästigt, das Ignorieren des Brandalarms … Deutlich länger ist die Liste strafbarer Verhaltensweisen und der Verstöße gegen Dienstvorschriften bzw. gegen die Standards professioneller Polizeiarbeit. Im Ergebnis führte  dies dazu, dass Sachbeweise weitgehend entfernt wurden: Die Handfessel wurde in den Müll geworfen, das elektronische Tagesjournal verschwand, ein Stoffrest auf der Leiche wurde nicht aufbewahrt, die Polizist*innen der Schicht gingen in den Feierabend, bevor sie am Nachmittag erstmals befragt wurden, die Beutel mit Ascheresten nahm ein Polizist übers Wochenende mit nach Hause; der zuständige Staatsanwalt verzichtete darauf, den Tatort aufzusuchen; und nach drei Tagen wurden in einem der Aschebeutel, der mit dem Vermerk „keinerlei Hinweise auf ein Feuerzeug“ versehen war, deutlich erkennbare Reste eines Feuerzeugs entdeckt etc. Die dritte Ebene betrifft die von Staatsanwaltschaft und Gerichten, die zunächst ganz der „Selbstentzündung“-Behauptung folgten, dann aber an der polizeilichen Mauer des Schweigens scheiterten, auch weil sie nicht willens waren, die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente zu nutzen. Schließlich ist das Versagen der politischen Führung unverkennbar, auch wenn das in dem Band nur gestreift wird.

Das Buch dokumentiert nicht nur die Facetten des Dessauer Polizeiskandals, es zeigt auch die Grenzen justizieller Kontrolle, wenn die Mauer aus Schweigen und Vertuschen durch mangelnden Aufklärungswillen gestützt wird.

Golla, Sebastian: Die kriminalbehördliche Informationsordnung, Trier 2024, 280 S., 34,99 Euro, Open Access: https://digitalrecht-oe.uni-trier.de/index.php/ droe/catalog/download/10/11/63?inline=1

Die traditionell kritische Perspektive auf den Umgang der Sicherheitsapparate mit (personenbezogenen) Daten ist stark auf die Phase ihrer Erhebung konzentriert. Sinngemäß: Daten, die nicht durch Telefonüberwachung oder V-Personen erhoben werden, können auch nicht missbraucht werden. Jede Befugniserweiterung, die auf die Gewinnung neuer Daten mit neuen Instrumenten und gegenüber weniger klar definierten Personen(gruppen) zielt, wird deshalb (zurecht) von dem Verdacht begleitet, in unverhältnismäßiger Weise die Handlungsfreiheit aller zu bedrohen. Sebastian Golla hat in seiner Untersuchung einen anderen Ansatz gewählt. Zwar spielt die Begrenzung der zu erhebenden Daten auch in seiner Argumentation eine Rolle, zentral ist für ihn jedoch, was mit den bei der Polizei und bei der Staatsanwaltschaft vorliegenden Daten geschieht. Sein Untersuchungsgegenstand ist die „kriminalbehördliche Informationsordnung“, d. h. „die Gesamtheit der Informationsressourcen jener Behörden, die Straftaten verhindern oder diese verfolgen sollen“ (S. 2).

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die juristische Habilitationsschrift des Verfassers. Insofern ist sie an ein juristisches Fachpublikum adressiert, die Auseinandersetzung mit rechtlichen und verfassungsrechtlichen Normen und Positionen spielt naturgemäß eine zentrale Rolle, mitunter sind Passagen für den juristischen Laien nur mit Aufwand nachvollziehbar. Gleichzeitig ist der Autor jedoch bemüht, auch die interessierten Nichtextpert*innen für die Probleme der „Informationsordnung“ zu sensibilisieren. Dies beginnt mit den fünf „Beispielfällen“ zu Beginn des Buches – Golla nimmt immer wieder Bezug auf diese Fälle –, in denen die Gefahren polizeilicher Datenspeicherung plastisch sichtbar werden (von lang zurückliegenden Speicherungen über Namensverwechslung bis zur negativen Sicherheitsüberprüfung). Allgemeinverständlich und mit Gewinn zu lesen sind etwa auch die Darstellung der „Entwicklung der polizeilichen Informationsordnung“ (S. 51ff.) oder die „Implikationen für Betroffene“ (S. 116ff.), die in den Gefahren der Stigmatisierung und Kriminalisierung bestehen, die durch die Speicherungen in bestimmten Dateien entstehen können.

Gemäß den drei Erkenntniszielen ist die Untersuchung in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird die Bedeutung „informationsordnender Tätigkeiten“ für die Kriminalbehörden herausgearbeitet. Nach diesem eher darstellend-rekonstruierenden Schritt werden im zweiten Teil die „Anforderungen“ aus Sicht der (polizeilichen) Anwender*innen und die „Interessen der Informationssubjekte“ (der Bürger*innen) näher bestimmt. Der Schlussteil gilt der Weiterentwicklung des Rechts, das die Realisierung der zuvor entwickelten Anforderungen ermöglichen soll. Neben juristischen Primär- und Sekundärquellen zum deutschen und europäischen Recht stützt sich Golla auf Interviews, die er mit fünf Expert*innen aus Datenschutzbehörden und drei von Seiten der Polizei geführt hat (bezeichnend, dass mehr Interviews an Desinteresse bzw. Ablehnung der  Polizeiverantwortlichen gescheitert sind.)

Die rund 80 Seiten umfassende Bestandsaufnahme der „polizeiliche(n) Informationsordnung“ kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. Entstanden sei „ein organisch gewachsenes Gefüge von Systemen …, die nur sehr eingeschränkt miteinander kompatibel sind“ (S. 108); fraglich sei nicht nur, ob die gegenwärtig angestrebte Einrichtung eines „Datenhauses“ – vergleichbar mit Europols „Datensee“ – je gelingen werde, unklar erscheine auch, wie die rechtlichen Grundlagen einer solchen Informationsordnung aussehen könnten (z. B. wie ein „vertikaler“ Datenschutz aussehen soll, wenn die an Errichtungsanordnungen gebundene Dateistruktur durch das Datenhaus aufgelöst wird, S. 65). Neben mangelnder Kompatibilität der Dateisysteme und dem aus der fehlenden Verknüpfung resultierenden Problem der Mehrfacherfassung werden in diesem Teil auch systematische Probleme der Informationsordnung deutlich: das Verhältnis von Datensammlungen zu reaktiven (strafverfolgenden) oder präventiven Zwecken, die informationelle Unterlegenheit der Staatsanwaltschaft gegenüber der ihr in Ermittlungsverfahren unterstellten Polizei.

Im zweiten Teil zeichnet der Verfasser einen „integrierten Soll-Zustand“ der kriminalpolizeilichen Informationsordnung. „Integriert“ ist diese angestrebte Zukunft, weil die „Anforderungen“ aus „kriminalbehördlich-operativer Sicht“ mit dem geltenden Recht und den Interessen der Personen, deren Daten gespeichert werden, „zusammengeführt“ werden (S. 111). Golla hat drei zentrale Anforderungen identifiziert, die eine optimale Informationsordnung erfüllen muss: Sie soll die schnelle und einfache Verfügbarkeit von Informationen gewährleisten, sie soll die Verknüpfung von Informationsbeständen erlauben, und sie soll die Aktualität und Richtigkeit von Daten gewährleisten. Diese drei Aspekte gliedern den zweiten Teil, in dem systematisch Anforderungen, Implikationen und rechtlicher Rahmen untersucht werden. Die bürgerrechtliche Relevanz des Themas wird insbesondere dann offenkundig, wenn Kompatibilität und Vernetzung so weit reichen, dass der Kontext der ursprünglichen Datenerhebung verlorengeht und dekontextualisierte Daten polizeirelevant werden (S. 143f.). An diesen Stellen wird deutlich, dass die Interessen an einer sachgerechten kriminalpolizeilichen Arbeit (nicht mit wertlosen Daten arbeiten zu müssen) und die Interessen der Bürger*innen an ihren Daten (aufgrund dekontextualisierter Daten ins polizeiliche Visier zu geraten) durchaus übereinstimmen können. Wo die Grenzen dieser harmonischen Perspektive verlaufen, wird leider nicht deutlicher benannt.

Der der „Fortbildung des Rechts“ gewidmete dritte Teil untersucht vier Aspekte einer verbesserten „kriminalbehördlichen Informationsordnung“ auf der Basis des geltenden Verfassungsrechts. Erstens: Könnten bestehende Probleme durch eine stärkere Zentralisierung verringert werden? Antwort: Stärkung des Bundeskriminalamtes (Sicherung der Datenqualität, der Kompatibilität und Organisation des polizeilichen Informationssystems) (S. 180ff.). Zweitens: Sollten die auf Polizei- und Strafprozessrecht verteilten Regelungen umstrukturiert werden? Antwort: Die präventiven Datensammlungsbefugnisse sollten außerhalb der Strafprozessordnung geregelt werden; dass Polizeirecht sollte durch einen neuen „Musterentwurf“ harmonisiert werden (S. 190ff.). Drittens: Ließen sich die Anlässe für „informationsordnende Tätigkeiten“ konkreter regeln? Die Antwort wird nur entwickelt für die Datenspeicherung für künftige Strafverfahren: Ja, die Konkretisierung ist geboten und möglich (konkreter Vorschlag auf S. 228f.). Und viertens: Könnten die Rahmenbedingungen für die Datenverarbeitung verändert werden? Antwort: Vorgeschlagen werden Regelungen 1. zur Gewährleistung von Richtigkeit und Aktualität gespeicherter Daten, 2. zur zeitlichen Begrenzung von Speicherungen, 3. zur Begrenzung des Zugriffs auf Daten und 4. zur Transparenz und Kontrollierbarkeit der Informationssysteme (S. 234ff.).

Gerade in diesen letzten Punkten liegt die bürgerrechtliche Bedeutung der Arbeit. Denn sie zeigt, dass weniger, verlässlichere, in ihrer Verwendbarkeit begrenztere und der externen Kontrolle zugängliche polizeiliche Informationssysteme rechtlich möglich sind. Angesichts der auch von Golla geschilderten gescheiterten Reformversuche (von INPOL-neu über die Musterentwürfe bis zum „Polizei 20/20“-Vorhaben), erscheint es allerdings fraglich, ob seine Vorschläge politisch und polizei-politisch durchsetzbar sind. (beide: Norbert Pütter)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert