Zum Schwerpunkt
Einsätze, die Menschen mit psychischen Problemen oder in psychischen Ausnahmesituationen gelten, werden von Polizist*innen als besonders schwierig und herausfordernd wahrgenommen. Den Betroffenen wird unterstellt, dass sie auf „normale“ polizeiliche Ansprache nicht wie gewünscht reagieren, dass ihr Verhalten unberechenbar sei und mitunter wird ihnen eine besondere Gefährlichkeit zugeschrieben. Diese – weithin und seit Jahrzehnten geteilte – Problembeschreibung hat in Deutschland nur vergleichsweise geringen Niederschlag in polizeilicher Publizistik und Wissenschaft gefunden. Ein kleiner Kreis von Expert*innen beschäftigt sich mit dem Thema; überwiegend handelt es sich dabei um Psycholog*innen aus dem Polizeidienst oder den polizeilichen Hochschulen. Empirische Studien über die Interaktionen von Polizei und als psychisch auffällig wahrgenommenen Personen sind selten. Die Debatte wird geprägt von Vorschlägen für eine verbesserte Aus- und Fortbildung. Im Folgenden werden nur Hinweise auf einige jüngere Veröffentlichungen in Deutschland gegeben. Die Defizite gegenüber dem internationalen Stand der Forschung lassen sich daran ablesen, dass in vielen Texten Bezug auf Studien aus anderen Ländern (insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum) genommen wird bzw. werden muss.
Staller, Mario; Koerner, Swen (Hg.): Handbuch polizeiliches Einsatztraining. Professionelles Konfliktmanagement – Theorie, Trainingskonzepte und Praxiserfahrungen, Wiesbaden (Springer Gabler) 2022, 961 S.
Fast zwei Jahrzehnte nachdem „Polizei & Wissenschaft“ dem Thema ein Heft (2004, H. 3) widmete, präsentieren fünf einschlägige Aufsätze in diesem Sammelband den aktuellen Kenntnis- und Diskussionsstand in Deutschland. (Für 2025 ist ein von den Herausgebern besorgter Band „Polizei und Menschen in psychischen Krisen“ angekündigt, der bei Redaktionsschluss dieses Heftes noch nicht erschienen war.) Linus Wittmann („Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis“, S. 413-429) legt den Schwerpunkt seiner Betrachtung auf das subjektive Erleben sowohl der Einsatzkräfte als der psychisch Erkrankten. In der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und der pauschalen Unterstellung von Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit sieht er die entscheidenden Hindernisse für gewaltfreie Einsatzgestaltungen. Jürgen Biedermann und Karoline Ellrich („Der polizeiliche Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen bei Menschen mit psychischen Störungen“, S. 432-450) stellen das Konzept eines entsprechenden Seminars an der brandenburgischen Polizei-Fachhochschule vor. Dessen Struktur entspricht vielen Auseinandersetzungen mit dem Thema, weil das weite Feld psychischer Störungen/Erkrankungen auf jene Krankheitsbilder beschränkt wird, denen eine besondere polizeiliche Relevanz zukommen soll. Aus der Art der Störung werden dann Empfehlungen für polizeiliches Handeln hergeleitet. Bei dissoziativen Persönlichkeitsstörungen empfehle sich ein „Aufzeigen der polizeilichen Übermacht“; bei psychotischen Zustände komme es auf die „Reduktion des Bedrohungsgefühls“ an, etwa durch größere Distanz; aggressivem Verhalten infolge von Rauschmittelkonsum sollte durch „Einnahme einer respektvollen und dennoch grenzsetzenden Haltung“ begegnet werden; bei Personen mit Borderline- oder anderen Störungen der emotionalen Regulationsfähigkeit sollte neben der körperlichen Distanz ausreichend Raum für „eine verbale Kanalisierung der Erregung“ geschaffen werden. Primäres Ziel derartiger Einsätze müsse es sein, „eine kommunikative Lösung für akute Krisenlagen zu erzielen“; sofern dies nicht gelinge und „gewaltsame Überwältigungsstrategien notwendig“ würden, seien diese „koordiniert, zielstrebig, entschlossen, schnell und mit körperlicher Übermacht“ auszuführen.
Auch die anderen drei Aufsätze betonen den Vorrang kommunikativer Lösungen. Maximilian Haendschke („Umgang mit psychisch auffälligen Personen – Reflexionen der Trainingskonzeption und Handlungsroutinen innerhalb des Einsatztrainings der Polizei NRW“, S. 873-890) stellt die Fortbildungskonzeption in einem Bundesland vor. Die Rahmenbedingungen sind in NRW in der Zwischenzeit zwar verändert worden, ob das auch für die von Haendschke benannten konzeptionellen Probleme gilt, scheint fraglich. Michael Jasch („Polizeilicher Schusswaffengebrauch und psychisch erkrankte Angreifer“, S. 451-468) arbeitet die rechtlichen Begrenzungen des Schusswaffengebrauchs gegenüber erkennbar psychisch gestörten Personen heraus. Nach Jasch ist der Einsatz von Schusswaffen gegen Personen nur dann rechtlich zulässig, wenn unmittelbare Gefahren für Leben oder massive Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit nicht anders verhindert werden können. Weil diese Maßstäbe gegenüber psychisch Kranken besonders streng anzulegen seien, komme dem Einsatz nicht gewaltförmiger Interventionsformen eine besondere Bedeutung zu. Hans Peter Schmalzl („Die Gefährlichkeit von Begegnungen der Polizei mit psychisch auffälligen Personen im Einsatz“, S. 469-481) weist darauf hin, dass die (polizeilichen) Probleme mit psychisch auffälligen Personen in bestimmten Konstellationen auftreten. Die Polizist*innen seien als Akteur*innen präsent und verfügten damit über die Chancen, diese Situationen mitzugestalten. Dazu müssten sie „aufmerksam, auf Eigensicherung bedacht, kommunikativ und taktisch geschickt, kurz einsatzkompetent“ vorgehen. Schmalzl nennt einige Indizien, die Polizist*innen im Einsatz Hinweise auf das Vorliegen psychischer Störungen geben könnten. Im Anschluss stellt er kurz (insgesamt zwölf) Handlungsempfehlungen vor, die von „Verstärkung hinzuziehen“, über „Ruhig sprechen und jede Maßnahme ankündigen“, „Erklären …“, „Hinhören, sich einfühlen …“ bis „Das polizeilich Erforderliche … ansprechen“ reichen.
Polizeiakademie Niedersachsen (Hg.): Polizei im Umgang mit psychisch Erkrankten: Tagung an der Polizeiakademie Niedersachsen am 8.11.2023, www.pa.polizei-nds.de/aktuelles/presse/polizei-im-umgang-mit-psychisch-erkrankten-tagung-an-der-polizeiakademie-niedersachsen-117166.html
Zwar sind die Vorträge der Tagung nur als Präsentationsfolien verfügbar, aber die Beiträge von Hans Peter Schmalzl und Katharina Lorey sind kompakt und informativ. Schmalzl entfaltet sehr nachvollziehbar und detailliert die „Grundregeln im Umgang mit einer aggressiv gestimmten Person in einer akuten Krise“ (eine Folie, die auf jedem Revier aushängen sollte!). Lorey entwirft einen Baukasten zur Entwicklung der polizeilichen Aus- und Fortbildung, den sie mit den Befunden empirischer Bestandsaufnahmen – u. a. ihrer eigenen Erhebung bei der baden-württembergischen Polizei – begründet. Ihr Vorschlag skizziert drei Problemkreise: Auf der Ebene des Personals gehe es darum, Motivation und Erfahrungen von Polizist*innen zu nutzen; im Hinblick auf die Person sollten Einstellung, Wissen und Verhaltensweisen beeinflusst werden; auf der Ebene der Organisation stelle sich schließlich die Frage nach Anlass, Kooperationen, Budget und Nachhaltigkeit der Fortbildung.
Feltes, Thomas; Alex, Michael: Polizeilicher Umgang mit psychisch gestörten Personen, in: Hunold, Daniela; Ruch, Andreas (Hg.): Polizeiarbeit zwischen Praxishandeln und Rechtsordnung, Wiesbaden 2020, S. 279-299
Weil Polizist*innen regelmäßig mit psychisch gestörten Personen konfrontiert seien, komme es zunächst darauf an, die Polizei in die Lage zu versetzen, Signale für psychische Auffälligkeiten zu erkennen. Sofern diese sich zeigten, solle „sofort professionelle Hilfe angefordert werden“. Für das Verhalten der Polizist*innen werden konkrete Ratschläge gegeben: von „offene und empathische Ansprache“ bis „nicht provozieren lassen“ und „Drohungen vermeiden“. Professionelles Verhalten setze eine entsprechend Aus- und Fortbildung voraus, in der Stigmata aufgebrochen und Kommunikations- und Verhaltenssicherheit vermittelt werden.
Thüne, Martin: „Also, ich halte uns da alle für relativ inkompetent.” Zum polizeilichen Umgang mit psychisch gestörten Personen, Bochum 2014, 166 S., (Master-Arbeit), www.researchgate.net/publication/3710 22926
In dieser – bereits zehn Jahr alten – Masterarbeit hat der Autor Wissen, Einstellungen, Emotionen und Wahrnehmungen von Polizist*innen der thüringischen Polizei untersucht. In vier Gruppen diskutierten insgesamt 31 Polizist*innen ihren Umgang mit psychisch gestörten Personen anhand von drei Szenarien. Die Bestandsaufnahme ist ernüchternd: Kognitiv (s. den Titel als Fazit) sind den Polizist*innen die Rechtsgrundlagen bekannt, ihr Wissen über psychisch gestörte Personen fußt auf ihren Alltagserfahrungen und auf Intuition. Der Umgang mit diesen Personen wird als belastend, die Zusammenarbeit mit medizinischen Hilfen als unbefriedigend wahrgenommen. Ihre Einstellungen sind geprägt von Ambivalenz: je geringer das Wissen, desto stärker schlagen Vorurteile gegenüber psychisch Kranken durch. Im Anschluss entwickelt Thüne „Möglichkeiten der Professionalisierung polizeilichen Handelns”, die sich auf Aus- und Fortbildung, die taktische Einsatzkompetenz (mehr Polizeipersonal, Einsatz ohne Uniform und in „gelassener Autorität” …) und „organisationsstrukturelle Rahmenbedingungen” (etwa Bildung speziell ausgebildeter und ausgerüsteter Einheiten) erstrecken.
Rühl, Sophia: Polizeilicher Umgang mit psychisch gestörten Personen. Eine medienbasierte Einsatzanalyse, Frankfurt am Main (Verlag für Polizeiwissenschaft) 2021, 159 S., Preis?
Einen anderen Zugang hat diese (ebenfalls in Bochum entstandene) Master-Arbeit gewählt. Weil offizielle Daten über Polizeieinsätze wegen psychisch gestörten Personen fehlen, hat die Autorin die Berichte in Printmedien (1 Wochen- und 4 Tageszeitungen) analysiert. Begrenzt auf das Erscheinungsjahr 2019 wurden in einem mehrstufigen Verfahren insgesamt 70 Fälle bestimmt, anhand derer die Einsatzanlässe, die Hinweise auf psychische Störungen und „die Probleme bei der Interaktion“ identifiziert werden sollten. Die Ergebnisse zeigen ein recht buntes Bild: Bei 50 Fällen enthielten die Berichte Hinweise auf psychische Störungen; 42 Fälle waren durch Angriffe oder Bedrohungen veranlasst worden; 50-mal kam es zu freiheitsentziehenden Maßnahmen (Psychiatrie oder Gewahrsam); in 30 Fällen, in denen über das Verhalten der „Störer*innen berichtet wurde, kam es zu aktivem (13) oder passivem (7) Widerstand, zu Fluchtversuchen (4) und zu „widerstandslosem Verhalten“ (6). Wegen der vielfältigen Erscheinungsformen kommt die Autorin auch nur zu einer sehr allgemeinen Schlussfolgerung. Es müsse „in jeder Situation ein Gefahrenradar vorhanden sein und durch die Risikoeinschätzung (müsse) das Verhalten der Beamten lageangepasst verändert werden“ (S. 92). In den anschließenden Empfehlungen findet sich dann die in der Literatur bereits hinlänglich beschriebenen Verhaltensweisen (s. o.)
Wittmann, Linus: Braucht die Polizei multiprofessionelle Ansätze für die Interaktion mit psychisch erkrankten Menschen?, in: Polizei & Wissenschaft 2021, H. 1, S. 24-29
Die Frage des Titels ist rhetorisch. Dass Polizist*innen im Umgang mit psychisch gestörten Personen oder solchen, die sich in einer psychosozialen Ausnahmesituation befinden, grundsätzlich überfordert sind, ist unmittelbar evident. Wittmann stellt deshalb in diesem Aufsatz drei multiprofessionelle Ansätze von Interventionen bzw. deren Vorbereitung vor. Neben dem „Trialog“, also Gesprächen zwischen psychisch Kranken, ihren Angehörigen und Polizist*innen, die im Rahmen von Aus- oder Fortbildungen dem Abbau von Unwissen, Vorurteilen und Stigmatisierungen dienen sollen, sind die „Crisis Intervention Teams“ (CIT) und die „Street Triage“ von Bedeutung, weil sie über die Qualifikation hinausgehen. Durch das CIT sollen die polizeilichen Einsatzalgorithmen verändert werden, indem die Notrufstellen auf Lagen mit psychosozialen Problemen vorbereitet sind. Bei „Street Triage“ werden Polizist*innen, begleitet von Gesundheitsexpert*innen, im Streifenwagen zu entsprechenden Einsätzen geschickt.
Aus dem Netz
Das Thema unseres Schwerpunkts gibt Gelegenheit, die Aktivitäten von „Frag den Staat“ zu würdigen. Unter „https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2023/05/polizei-krisen fasst Aiko Kempen die Reaktionen zusammen, die er auf die an 16 Landesinnenministerien, 17 Polizeiausbildungseinrichtungen und fünf Landespolizeien gerichteten Anfragen zum Stand der polizeilichen Aus- und Fortbildung und zu den behördlichen Vorgaben zum Umgang mit Menschen in psychischen Krisen bzw. in suizidalen Lagen erhielt. Das Ergebnis ist ernüchternd. Auf die Mehrheit der Anfragen wurde nicht reagiert, oder eine Antwort wurde explizit abgelehnt. Der Hamburger Innensenat teilte schlicht mit, dass der Behörde „keine Unterlagen“ zum Thema vorlägen. Nur fünf Innenministerien (Bayern, Bremen, Sachsen, Saarland, Schleswig-Holstein) antworteten inhaltlich; nur drei (Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern) der 17 Polizei(fachhoch)schulen antworteten überhaupt; und von den fünf Landespolizeien kam nur eine Antwort aus Berlin.
Auch bei den positiven Antworten wurde der Einblick in die gewünschten „Vorgaben, Weisungen, Richtlinien, Rundschreiben, Empfehlungen …“ mit Verweis auf die Vertraulichkeit dieser Dokumente („VS – nur für den Dienstgebrauch“) in keinem Fall gewährt. Immerhin wurden aus Bremen und Berlin einige Handreichungen zugänglich gemacht, die die Polizist*innen über die örtlichen psychologischen Hilfseinrichtungen und sonstige Ansprechpartner informieren. Wie sich die Behörden als Institutionen gegenüber den spezifischen Herausforderungen aufstellen, dazu enthalten die Antworten keinerlei Hinweise.
Die Angaben zu den Aus- und Fortbildungen bestehen fast ausschließlich aus den kompletten Modulhandbüchern, ausgewählten Modulbeschreibungen oder paraphrasierten Modulinhalten. In allen Fällen fehlen Kontextinformationen, um diese Angaben angemessen verstehen zu können. Aiko Kempen zitiert in seinem begleitenden Text einen leitenden Polizeibeamten aus NRW: „In den letzten dreißig Jahren fand der Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmesituationen in der polizeilichen Aus- und Fortbildung quasi überhaupt nicht statt.“ Es gebe nach wie vor „keine abgestimmten Handlungsempfehlungen oder Kommunikationsstrategien“. Ganz zu schweigen von Veränderungen auf der Ebene der Institution Polizei.
Neuerscheinungen
Behn, Helen: Suicide by Cop. Eine vergleichende Fallanalyse auf Grundlage der Pilotstudie vor dem Hintergrund veränderter Gesellschaftsstrukturen, Frankfurt am Main (Verlag für Polizeiwissenschaft) 2024, 409 S., 39,90 Euro
„Suicide by Cop“ (SbC) definiert die Verfasserin als die von einer Person „provozierte Tötung mittels Nutzen eines Gewalt- oder Zwangsmittel einsetzenden Polizeibeamten“ (S. 14). Mit der Studie hat sie die bislang umfassendste Untersuchung zu diesem Phänomen in Deutschland vorgelegt. Ausweislich der Zusammenfassung des Forschungsstandes – pointiert in einer tabellarischen Darstellung (S. 31-43) – stellt dies auch den Versuch dar, Anschluss an die internationale Diskussion zu finden.
Der Gegenstand der Untersuchung ist doppelt begrenzt: Behn beschränkt sich auf das Land Niedersachsen und betrachtet die fünf Jahre von Anfang 2018 bis Ende 2022. Für das so bestimmte Feld strebt sie eine Gesamterfassung an, die methodisch als Aktenanalyse angelegt ist. Gegen Ende des Buches, wenn weitergehende Forschungsoptionen benannt werden, wird deutlich, wovon die Beschäftigung mit SbC motiviert ist: Denn durch ein „erweitertes Wissen“ könne „überhaupt eine Möglichkeit geschaffen werden, … auf der Grundlage von (wissenschaftlichen) Erkenntnissen Leben zu retten, Mehrfachversuche zu unterbinden … und das Ausmaß der emotionalen Folgen zu minieren“ (S. 358).
Den Kern der Darstellung stellen die über 200 Seiten des siebten Kapitels dar, in dem die Ergebnisse der Dokumentenanalyse detailliert dargestellt werden. Diese Dokumente bestehen aus Strafverfahrensakten, die die Verfasserin bei den niedersächsischen Staatsanwaltschaften angefordert hat, und – für jene Fälle, in denen der Einsatzanlass nicht zu einem Strafverfahren führte – den Einträgen in NIVADIS, dem „Vorgangsbearbeitungs-, Analyse-, Dokumentations- und Informationssystem“ der niedersächsischen Polizei. Über NIVADIS hat sie ihre Fälle gefunden, indem sie nach bestimmten Einträgen (Schusswaffengebrauch, Gewalt gegen Polizist*innen, SbC …) recherchiert hat. Mithilfe der Aktenzeichen wurden in 357 Fällen die Akten von den Staatsanwaltschaften angefordert, die in 267 Fällen geliefert wurden. Bereinigt um Doppelzählungen und ergänzt um die Fälle ohne Strafverfahren ergab sich eine Grundgesamtheit von 301 untersuchten Vorgängen (S. 110). Diese Fälle wurden im ersten Schritt einem „4-Kategorien-System“ zugeordnet: (1) eindeutige SbC-Fälle (explizite Ankündigung), (2) SbC-Verdachtsfälle (Verhalten während Polizeieinsatz lässt darauf schließen), (3) unklar, ob SbC-Fall, weil das Gegenüber der polizeilichen Aufforderung nachkommt, und (4) keine Hinweise auf SbC (S. 110f.). Weil 51 Fälle auf die 4. Kategorie entfielen, gingen 250 Vorgänge in die Untersuchung ein; 94 bzw. 93 Fälle fielen in die Kategorien 1 und 2, in jeweils zwei Fällen endeten die Einsätze für die Verursacher*innen tödlich (S. 114).
Die Auswertung dieser 250 Akten/Dokumente führt zu einem SbC-Fall-Profil, das die Verfasserin in einer übersichtlichen Tabelle (S. 248f.) zusammenfasst. Die nach den drei Fallkategorien differenzierten Merkmale reichen von Ort (überwiegend eigene Wohnung), Zeit (abends, nachts) und Dauer der Einsätze (zw. 1 und 3 Stunden), über deren Anlass (Notrufe wg. Suiziddrohung oder Straftat), den Grad der Bedrohung (vorhanden, meist bewaffnet), inwiefern Drogen (meist Alkohol) oder psychische Probleme eine Rolle spielten, bis zum Einsatzausgang, der am Anteil der Verletzten bemessen wird. Allerdings weist Behn mehrfach auf „den Facettenreichtum der Persönlichkeiten von SbC-Verursachern“ hin, so dass die „Fokussierung auf einen Typus … zu einer Verengung von Sichtweisen u. U. zu Fehleinschätzungen führen“ könnte (S. 176).
Die vorliegende Untersuchung schließt an die intensive Beschäftigung der Verfasserin mit dem Thema an. Sie versteht sich insbesondere als intensivierte Fortsetzung ihrer – ebenfalls niedersächsischen – Aktenanalyse einschlägiger Fälle aus den Jahren 2008 bis 2017 (90 untersuchte SbC-Fälle). Den starken Anstieg von durchschnittlich 9 auf 50 Fälle pro Jahr kann sie nicht erklären; allerdings zeigen ihre neuen Zahlen die erhebliche Relevanz des Themas. (Wird die Bevölkerungszahl zugrunde gelegt, so ergäben sich rund 500 Fälle pro Jahr in Deutschland).
Helen Behn arbeitet als Polizistin in Niedersachsen; dies erlaubte ihr den Zugriff auf NIVADIS und hat den Zugang zu den Ermittlungsakten sicher erleichtert. Methodisch ist das ein Glücksfall; statt in Fragebögen oder Interviews erhobene – und entsprechend gefilterte – Erfahrungen, Meinungen, Bewertungen etc. endlich eine gute, klassische Aktenanalyse, in der verschriftlichte Sachverhalte erhoben und analysiert werden. Zugang, Sichtung, Filterung, Auswertung verlangten erheblichen Aufwand; vom Schreiben der eng beschriebene 375 Seiten (mit 1.277 Fußnoten) und den eingestreuten 55 Fallschilderungen ganz zu schweigen.
Gleichwohl bleiben zwei Schwachpunkte der Untersuchung erwähnenswert: Erstens ist die Verfasserin sich der „Limitationen“ ihres Zugangs bewusst, aber sie problematisiert an keiner Stelle, dass die von ihr analysierten Dokumente zu bestimmten Zwecken (Strafverfahren, Dokumentation) von den beteiligten Polizist*innen verfasst wurden. Damit zusammenhängend rückten zweitens vermutlich andere Aspekte in den Vordergrund, wenn die Perspektive der Verursachenden (der vermeintlichen Suizidwilligen) einbezogen würde. Drittens bleiben die konkreten Einsatzhandlungen undeutlich: Wie und warum kam es zu Verletzungen? Welches Vorgehen hat sich bewährt, welches führte zur Eskalation? etc. Nur wenn diese Perspektiven eingebunden und die offenen Fragen beantwortet würden, wäre das Lob des „feinfühligen Handelns“, das die Verfasserin am Ende der Arbeit zitiert, überzeugend. (alle: Norbert Pütter)
Amjahid, Mohamed: Alles nur Einzelfälle, München (Piper) 2024, 352 S., 18,00 Euro
Mohamed Amjahid hat ein mutiges und anschauliches Buch über Polizei und deren Gewalt veröffentlicht, in dem er die Institution ihrer Selbstverständlichkeit entkleidet und analysiert, was übrigbleibt. So zeichnet er die Geschichte der Polizei nach und zeigt, wie tief der Glaube an die prinzipielle Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns gesellschaftlich verankert ist und welche kulturellen und politischen Institutionen von der Kinderserie Paw Patrol bis zu den Polizeigewerkschaften zu dieser Verankerung beitragen. Immer wieder stellt Amjahid die Funktion für die Durchsetzung und den Erhalt von Klassen- und Herrschaftsverhältnissen heraus, sei es im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Polizei oder deren Rolle im Kolonialismus und Faschismus.
Dabei wird immer deutlich, dass das System Polizei in der Praxis Menschen trifft. Diese Menschen werden erniedrigt und gedemütigt, wie im Fall von rassistischen Polizeikontrollen, verächtlich gemacht und in ihrer Lebensplanung eingeschränkt, wie beim Vorgehen gegen sog. Clanmitglieder, verletzt und traumatisiert, wie bei Einsätzen gegen Demonstrierende oder sogar getötet, wie die Fälle von Oury Jalloh, Mouhamed Dramé und anderen deutlich machen.
Das Buch beschreibt, wie wirkmächtig Rassismus, toxische Männlichkeit, Antisemitismus und Autoritarismus in den Polizeiapparaten sind und wie diese nicht nur die alltägliche Praxis strukturieren oder sich in volksverhetzenden Chatgruppen niederschlagen, sondern sich auch in rechtsextremen Netzwerken wie NSU 2.0 oder dem rechtsterroristischen Netzwerk Nordkreuz kristallisieren. Es zeigt, wie gefährlich und gewaltvoll das Polizeisystem ist. Amjahid zeigt allerdings auch auf, wie menschengemacht dieses System ist, dass sich an vielen Orten Widerstand und Protest dagegen regt, dass es eine Reihe praktischer Ansätze gibt, wie dieser Gefahr kurz- und mittelfristig begegnet werden kann, und dass dieses System prinzipiell überwindbar ist, wenn die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse entsprechend verändert werden. (Sebastian Wehrhahn)
Schweizerisches Nationalmuseum (Hg.): Kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz, Zürich (Scheidegger & Spiess) 2024, 283 S., 37,40 Euro
In dieser reich bebilderten, aufwändig produzierten und in drei Sprachen (dtsch., franz., engl.) erhältlichen Publikation wird in 14 Einzelkapiteln die Vergangenheit (die nicht vergehen will) einer Kolonialmacht ohne Kolonien nachgezeichnet. Dass die Schweiz sich spätestens seit dem 15. Jahrhundert in Europas Königs- und Fürstenhäusern einen Namen als ‚Söldnernation‘ gemacht hat – „(s)pätestens seit den Burgunderkriegen (1474-1477)“, wie Philipp Krauer schreibt (S. 145) – und seit 1506 die Schweizergarde in Vatikanstadt stellt, dürfte Allgemeingut sein.
Weniger bekannt ist, dass eine sehr große Zahl Schweizer Protestanten aktiv am Sklavenhandel – insbes. der bis ins 19. Jahrhundert geschätzt 12 Mio. vom afrikanischen Kontinent Verschleppten – u. a. als Händler, Investoren, Kreditgeber und Transportversicherer sowie Plantagenbesitzer und Kolonialsiedler, führend mitgewirkt hat. Die als Indiennes bezeichneten bedruckten Baumwolltücher, die vorwiegend in Deutschland, Holland und der Schweiz produziert wurden und als das zentrale Handelsgut des 18. Jahrhunderts für den Tausch gegen Menschen an der westafrikanischen Küste fungierten, bildeten eine wichtige Achse im sog. Dreieckshandel: In europäischen Häfen wurden die Schiffe mit solchen und anderen Waren beladen, bei kreolischen, afrikanischen und arabischen Händlern gegen afrikanische Sklaven getauscht, diese nach der Überfahrt in Nordamerika verkauft und die Arbeitserträge der Versklavten aus Minen oder von Plantagen zurück in Europa auf den Markt gebracht.
Das Schweizer Söldner(un)wesen hatte seine Ursprünge in Europa, doch im Zuge des Kolonialismus entwickelte sich auch ein globaler Markt: Die englischen West- und Ostindienkompanien, die Niederlande und ab dem 18. Jahrhundert „auch die französische Krone setzte(n) nun auf Schweizer Söldner zur Verteidigung ihrer überseeischen Gebiete“, so Philipp Krauer (S. 147). Der Band verbindet die jeweiligen thematischen Schwerpunktsetzungen mit Kurzbiographien damals handelnder Akteure. Charles-Daniel de Meuron etwa, der sich als 13-Jähriger an eine kaufmännische Lehre machte, sie auch abschloss, aber 1755 dem französischen Marineregiment Hallwyl beitrat, ist so ein Fall. 1765 beauftragte ihn die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) ein Kolonialregiment auszuheben, mit dem er sodann am Kap der Guten Hoffnung im Einsatz war, um ab 1786 im damaligen Ceylon (Sri Lanka) die niederländischen Zimtplantagen zu schützen. Der Einmarsch Frankreichs in die Niederlande 1795 führte für die VOC zunächst zu finanziellen Schwierigkeiten, so dass sie die Söldner nicht mehr bezahlen konnte und sodann zum Verlust des Söldner-Regiments, weil die Briten de Meuron abwarben und mit seinen Truppen zudem noch Ceylon eroberten und den Niederlanden entrissen.
Während in Europa Kriege im 19. Jahrhundert zunehmend durch nationale Armeen geführt (oder verhindert, wie manche meinen) wurden, feierte der koloniale Söldnermarkt fröhliche Urständ. Zwischen 1815 und 1962 dienten bis zu 40.000 Schweizer Söldner in der französischen Fremdenlegion und 7.600 in der niederländischen Kolonialarmee, in der u. a. der Bündner Hans Christoffel eine auf Hinrichtungen, Folter und Entführungen basierende Anti-Guerilla-Kampf-Karriere machte.
Als einfacher Söldner kämpfte er zunächst gegen das Sultanat Aceh (Sumatra), wo zwischen 1873 und 1909 über 75.000 Einwohner*innen ermordet wurden. 1902 wurde er in die aus europäischen Offizieren und je zur Hälfte aus ambonesischen (Molukken) und javanesischen Soldaten bestehende Spezialeinheit Maréchaussée te voet versetzt, die etwa fünf bis 12 Prozent der einheimischen Gajo und 20 Prozent der Alas ermordeten. Zur ‚Belohnung‘ durfte er ab 1905 eine eigene Brigade, die „Tigerkolonne“, führen, mit der er auf Borneo (1905), auf Celebes (1906), in Aceh (1907, 1908) und auf Flores (1907) Massaker an der Zivilbevölkerung verübte, um nach seinem Ausscheiden 1910 als einer der höchstdekorierten Offiziere der niederländischen Kolonialarmee noch bis 1962 unbehelligt in Antwerpen zu leben.
Was im Vergleich zwischen der Züricher Ausstellung und dem Ausstellungskatalog, sagen wir, auffällt: Einige großbürgerliche und im kleinbürgerlichen Milieu auch heute noch angesehene und weiterhin einflussreiche Familien(firmen) fallen – ja, es musste eine Auswahl getroffen werden – aus dem Katalog heraus. Die Stimmen der Betroffenen bzw. ihrer Angehörigen lesen Interessierte reichlich knapp am Ende des Bandes. Gleichwohl: Chapeau!
Ab dem 27. März 2025 wird die Ausstellung im Château de Prangins (Schweizerisches Nationalmuseum, Prangins/Waadt) in „angepasster Form“ (so die Website des Landesmuseums Zürich) gezeigt; es wäre interessant zu sehen, was „angepasst“ meint). Bis zum 19. Januar war sie im Landesmuseum Zürich zu sehen. (Volker Eick)