Seit einigen Jahren häufen sich Meldungen, wonach einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union Geflüchtete an ihren Außengrenzen aufgreifen und mit Gewalt zurückweisen. In der Ägäis hat die griechische Küstenwache in Hunderten Fällen Boote mit Schutzsuchenden in türkische Gewässer geschleppt oder auf Rettungsinseln ausgesetzt, damit sie in Richtung der Türkei zurücktreiben. Auch in Kroatien ist die völkerrechtswidrige Praxis von internationalen Medien zweifelsfrei belegt, ähnliche Berichte kommen beinahe täglich aus Litauen und Polen an der Grenze mit Belarus.
Mit Ausnahme von Polen ist Frontex in allen Regionen in verschiedenen Missionen im Einsatz, einige der Pushbacks erfolgten unter den Augen oder sogar unter Mithilfe der Grenzagentur. Eigentlich müsste der Direktor Fabrice Leggeri den Artikel 46 der Frontex-Verordnung aktivieren und – wie in Ungarn – die Zusammenarbeit mit den betreffenden Ländern einstellen. Stattdessen geht Leggeri zum Angriff über und behauptet, Zurückweisungen könnten sogar legal sein. Darüber haben wir mit dem Rechtsanwalt und Experten für Migrationsrecht, Matthias Lehnert gesprochen.
CILIP: Lieber Matthias, was ist eigentlich ein Pushback?
Matthias Lehnert: Pushbacks sind Zurückweisungen von schutzsuchenden Menschen an der Grenze ohne ein Verfahren. Sie richten sich also gegen Menschen, die Schutz und Asyl suchen, was ihnen aber verwehrt wird, ohne dass ihr Gesuch geprüft wird.
Gegen welche internationalen Konventionen wird dabei verstoßen?
Die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die Europäische Grundrechtecharta und andere internationale Verträge enthalten Zurückweisungsverbote, wenn eine politische Verfolgung oder eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung drohen. Ob eine politische Verfolgung oder eine Menschenrechtsverletzung drohen, kann aber nicht mit einer schnellen Kontrolle durch die Grenzpolizei festgestellt oder verneint werden, sondern dafür braucht es ein Verfahren: Ein Verfahren, in dem die schutzsuchende Person befragt wird, in dem die Fluchtgründe ordentlich geprüft werden, und in dem es die Möglichkeit gibt, gegen eine negative Entscheidung vor Gericht zu klagen. Dass all diese Facetten eines Verfahrens gewährleistet werden müssen, ist in verschiedenen Gerichtsentscheidungen, unter anderem des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, ausbuchstabiert worden. Und wenn all diese Facetten nun also an der Grenze nicht beachtet werden, sondern eine Person einfach ohne ein Verfahren zurückgeschoben wird, dann ist das ein Pushback, der zahlreiche menschenrechtliche Verpflichtungen verletzt.
Was steht dazu in entsprechenden EU-Gesetzen?
Das EU-Recht macht in mehreren Richtlinien und Verordnungen Vorgaben zum Asylrecht und zum Asylverfahren. Neben der sogenannten Qualifikationsrichtlinie, die inhaltlich definiert, wer als Flüchtling anerkannt werden muss, ist vor allem die Asylverfahrensrichtlinie von 2013 von zentraler Bedeutung. Sie macht konkrete Vorgaben, wie ein Asylverfahren ausgestaltet sein muss, und dabei sagt sie insbesondere in ihrem Art. 3 Abs. 1: Jede Person, die die explizit oder implizit im Hoheitsgebiet eines Staates einschließlich der Grenze und der Hoheitsgewässer einen Schutzantrag stellt, hat ein Recht auf ein Verfahren und muss zu ihren Schutzgründen angehört werden.
Auf welche Weise setzen die EU-Mitgliedstaaten die Richtlinie um?
Bei der Umsetzung können wir zwei Probleme beobachten: Zahlreiche Mitgliedstaaten stehen auf dem Papier zu diesen Vorgaben, sie halten sich aber faktisch nicht daran. Das sehen wir unter anderem in Griechenland, wo Schiffe – auch unter Beteiligung von Deutschland und von Frontex – ohne jegliches Verfahren in die Türkei zurückgedrängt werden; an der Grenze von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina, wo Tausende Menschen gewaltsam zurückgedrängt und an der Einreise gehindert werden; weitere Beispiele, wo offen der Zugang zu einem ordentlichen Asylverfahren verwehrt wird, finden sich in Ungarn, Bulgarien oder Spanien. Es gibt also eine sehr verbreitete Missachtung des geltenden Rechts.
Der zweite Punkt: Es wird nicht nur faktisch das Recht missachtet – und dies dann mit dem klassischen Einzelfall-Narrativ und der Übertretung durch einzelne Beamt*innen entschuldigt, wenn eben ein solcher Einzelfall oder sehr viele Einzelfälle aufgedeckt werden. Sondern zunehmend wird auch das Recht als solches in Frage gestellt: Ganz gegenwärtig sehen wir das in Polen, wo jüngst eine Änderung des Ausländergesetzes beschlossen wurde: Demnach können schutzsuchende Menschen unmittelbar und ohne weiteres Verfahren zurückgewiesen werden, wenn sie unerlaubt einreisen. Auch in Litauen hat das Innenministerium im August ein solches Gesetz erlassen.
Wie ist die Situation in Deutschland, was bestimmt das deutsche Asylgesetz dazu?
Da Deutschland keine europäische Außengrenze hat, ist der Rechtsrahmen mit dem Schengener Recht und der grundsätzlichen Freizügigkeit und dem Verbot von Grenzkontrollen noch mal ein anderer. Insofern ist man hier eher stille und zustimmende Beobachter*in von Pushbacks an den EU-Außengrenzen. Auch das deutsche Asylgesetz ist an sich eindeutig und verbietet Zurückweisungen an der Grenze. Falls es politisch nötig oder opportun erscheint, ist man aber auch hierzulande skrupellos: 2018 hat die Bundesregierung mit Griechenland eine Vereinbarung geschlossen, nach der Geflüchtete an der deutsch-österreichischen Grenze zurückgewiesen und unmittelbar nach Griechenland abgeschoben werden dürfen, wenn sie sich – das kann anhand der EU-Fingerabdruckdatenbank Eurodac festgestellt werden – vorher in Griechenland aufgehalten haben. Eine gleiche Vereinbarung wurde mit Spanien geschlossen. Dieses Konstrukt – bekannt als der sog. „Seehofer-Deal“ – verstößt ebenfalls gegen das Zurückweisungsverbot, wird aber weiterhin – wenn auch nicht in sehr vielen Fällen – von der Bundespolizei angewendet.
Wie Frontex an den Pushbacks direkt beteiligt ist, kann bislang schwer nachgewiesen werden. Die Organisation schaut aber weg, bagatellisiert und legitimiert die illegalen Zurückweisungen, die beispielsweise hundertfach von der griechischen Küstenwache begangen werden. Nun ziehen erstmals Betroffene vor den Europäischen Gerichtshof. Welche Bedeutung hat diese Klage?
Tatsächlich gab und gibt es auch schon jetzt vielfache Hinweise und Indizien, die darauf hindeuten, dass Frontex auch aktiv in Pushbacks involviert ist. Die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), mit dem nun eine Familie Schadensersatz gegen Frontex geltend macht, will genau das nun in einem einzelnen Verfahren klären: Ob nämlich Frontex die griechischen Behörden bei einer Operation 2016 unterstützt hat, die Betroffenen ohne Verfahren in die Türkei abzuschieben. Es ist sehr wichtig, dass dies in einem Einzelfall nachgewiesen wird – dass also nicht allein die Mitgliedstaaten, sondern die EU für Pushbacks verantwortlich ist. Denn die menschenrechtswidrige Politik an den europäischen Außengrenzen ist kein Versagen einzelner Staaten, sondern europäische Politik.
Eigentlich müsste der Frontex-Direktor Fabrice Leggeri gemäß Artikel 46 der Frontex-Verordnung die Unterstützung eines Landes beenden, wenn dort schwere Verletzungen internationaler Verträge und damit auch von EU-Konventionen belegt sind. Warum geschieht das zwar in Ungarn, aber nicht in Griechenland oder Kroatien ?
Im Fall von Ungarn war die strukturelle Verletzung von Menschenrechten – auch dank verschiedener Berichte von NGOs und eines daraufhin ergangenen Urteils des EuGH zum Umgang mit Schutzsuchenden im Dezember 2020 – derart offensichtlich, dass Frontex nicht umhin konnte, sich gemäß Art. 46 zurückzuziehen. Zumal sich die Regierung in Ungarn noch mehr als andere Staaten ausdrücklich damit brüstet, dass sie die Rechte von Geflüchteten missachtet.
In Griechenland und in Kroatien sind die Missachtungen des Rechts zwar ähnlich evident und nachgewiesen – aber zum einen steht hier weiterhin auch in den Verlautbarungen der Regierungen das Narrativ im Vordergrund, dass es sich um Einzelfälle handelt und man sich an das Recht grundsätzlich gebunden fühlt. Zum anderen haben die EU und Frontex ein Eigeninteresse daran, den Grenzschutz an möglichst vielen Bereichen der Außengrenze den Grenzschutz zu unterstützen, das ist ja gerade der Sinn von Frontex – dem würde es widersprechen, wenn man sich allzu schnell aus Griechenland zurückzieht oder die Unterstützung von Kroatien beendet.
Frontex hat sich offenbar über das Melilla-Urteil vom Februar 2020 gefreut, in dem der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) die Klage von N.D und N.T gegen Spanien abgewiesen hat. Dort massenhaft vorgenommene „heiße Zurückweisungen“ durch eine Tür im Grenzzaun nach Marokko seien demnach legal gewesen. Wie bewertest du das Urteil?
Das EGMR-Urteil ist einerseits sehr problematisch: Der Menschenrechtsgerichtshof ist hier zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Zurückweisung an der Grenze nicht gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstößt, weil zum einen die Beschwerdeführer illegalerweise und in gewaltsamer Form die Grenze überschritten hätten – wenngleich es für eine solche Einschränkung der Menschenrechte keinerlei Anhaltspunkt gibt. Zum anderen verweist das Urteil auf die Möglichkeit einer legalen Einreise – eine Möglichkeit, die bei genauerem Hinsehen auch in diesem Fall nicht existierte. Meines Erachtens hat sich das Gericht durch diese unfundierten und fast schon herbeifantasierten Begründungen auch ein wenig dem politischen Druck der Staaten gebeugt, die für eine massive Grenzabschottung plädieren.
Andererseits: Das Urteil macht nicht einfach jegliche Pushbacks legal, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens betrifft das Urteil nur das Verbot der Kollektivausweisung aus einem Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention, nicht hingegen den viel wichtigeren Artikel 3 (Verbot der Folter und der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung), der ohne Zweifel ein Recht auf Verfahren enthält, was der Gerichtshof in anderen Entscheidungen auch wiederholt bestätigt hat. Zweitens: Wenn man das Urteil wörtlich nimmt, muss in jedem Fall geprüft werden, ob tatsächlich die alternative Möglichkeit einer legalen Einreise besteht – was etwa am Evros-Fluss, in der Ägäis oder an der bosnisch-kroatischen Grenze offensichtlich nicht der Fall ist.
Ist es möglich, das im Fall N.D und N.T gegen Spanien zu Landgrenzen ergangene EGMR Urteil auf Seegrenzen anzuwenden? So hört man* es jedenfalls in den letzten Monaten immer wieder vom Frontex-Direktor…
Es ist, aus Sicht von Frontex, nur folgerichtig, dass man* die – tatsächlichen oder vermeintlichen – Aussagen aus dem Urteil im Verfahren N.D. und N.T. auf die Seegrenze übertragen will. Auch wird behauptet: Die schutzsuchenden Menschen versuchen, illegal und unter Umgehung von vermeintlich legalen Einreisemöglichkeiten in größeren Gruppen in die EU einzureisen, also können auch sie kollektiv abgewiesen werden. Allerdings gilt auch hier: Die Rechtsprechung des EGMR erlaubt in der Gesamtschau genau dies nicht, sondern der EGMR hat vor allem in der Entscheidung im Fall Hirsi aus dem Jahr 2012 gesagt, dass eine Zurückweisung auf See – in diesem Fall durch die italienische Küstenwache nach Libyen – gegen das Zurückweisungsverbot aus der EMRK verstößt, wenn keine Prüfung des Asylgesuchs stattfindet. Und zwar auch dann, wenn die Zurückweisung außerhalb des italienischen Territoriums stattfindet.
Leggeri verbreitet außerdem seit geraumer Zeit das Narrativ, das „Abfangen“ von Booten mit Geflüchteten sei gemäß der 2014 beschlossenen EU-Seeaußengrenzenverordnung erlaubt. Was steht da genau drin? Wurde die Verordnung nicht eigentlich erlassen, um Pushbacks durch Frontex zu verhindern, statt diese zu begünstigen?
Die Seeaußengrenzenverordnung will regeln, wie in Einsätzen unter der Ägide von Frontex zu verfahren ist und wie mit Schiffen umgegangen werden muss, die auf dem Seeweg nach Europa einzureisen versuchen. Die Verordnung hat, ihren Erwägungsgründen zufolge, zwei Ziele: Einerseits die Verhinderung von undokumentierten Grenzübertritten, andererseits die Sicherung menschenrechtlicher Standards und die Rettung von Menschenleben.
Unter anderem heißt es dann darin, dass ein Schiff zur Kursänderung angewiesen werden kann, wenn der Verdacht einer Schleusung besteht. Die Verordnung sagt aber auch selbst: Alle Maßnahmen müssen die Menschenrechte und das Flüchtlingsrecht achten. Das bedeutet, dass eine solche Anweisung an ein Schiff, seinen Kurs zu ändern, nicht dazu führen darf, dass schutzsuchenden Menschen ihr Recht auf ein Verfahren entzogen wird.
In einer Reaktion auf einen Artikel von dir auf dem Verfassungsblog argumentiert der konservative Völkerrechtler Daniel Thym, ein Refoulementverbot nach dem EU-Primärrecht könne zwar für das zentrale Mittelmeer für über Libyen Geflüchtete gelten, in die Türkei dürfe aber zurückgeschoben werden, dies entspreche sogar EGMR-Standards. Wie ist das gemeint?
Daniel Thym argumentiert, dass etwa syrischen Staatsangehörigen in der Türkei nicht per se eine menschenrechtswidrige Behandlung droht, und sich damit – im Gegensatz zu den Verhältnissen in Libyen – eine Zurückweisung nicht zwingend verbietet. Er geht noch weiter, und behauptet das Gleiche für die Situation für Afghan*innen in der Türkei und im Iran.
Das ist in der Pauschalität schon tatsächlich falsch: Denn die Türkei ist kein sicherer Drittstaat. Unter anderem deshalb, weil die Genfer Flüchtlingskonvention in der Türkei für syrische und afghanische Geflüchtet nicht gilt; weil Abschiebungen von der Türkei nach Syrien und nach Afghanistan stattfinden; und weil in der Türkei und auch im Iran vor allem afghanische Geflüchtete massiv von Rassismus betroffen sind, und gesellschaftlich wie auch rechtlich ausgegrenzt und in die Illegalität gedrängt werden.
Und rechtlich gilt deshalb erst recht: Die Frage, ob ein Drittstaat sicher ist oder nicht, muss in jedem Fall individuell geprüft werden – es muss also ein Verfahren stattfinden, und es darf nicht ohne Verfahren zurückgeschoben werden.
Der Frontex-Direktor verlangt jetzt Klarheit, was genau der Seeaußengrenzenverordnung entnommen werden soll. Anfang Dezember wird die EU-Kommission außerdem das neue „Schengen-Paket“ vorlegen, dazu gehört auch ein Vorschlag zur Änderung des Schengener Grenzkodex. Laut Aussagen der der Kommissionspräsidentin könnten darin auch Pushbacks geregelt werden, wenn sie als Reaktion auf eine „hybride Bedrohung“ erfolgen. Gemeint sind Situationen wie derzeit an der Grenze Polens mit Belarus. Wird jetzt also das EU-Sekundärrecht für Zurückweisungen in Stellung gebracht?
Ich befürchte, dass genau so auf die Politik von Lukaschenko oder auch von Erdogan reagiert wird: Dass also in Situationen, in denen schutzsuchende Menschen vermeintlich oder tatsächlich instrumentalisiert werden – also zum Beispiel von Staaten außerhalb der EU an die europäische Außengrenze, um Europa unter Druck zu setzen – das Zurückweisungsverbot außer Kraft gesetzt wird. Gerade deshalb ist die unkritische Übernahme von Begriffen wie „hybride Bedrohung“ oder „Migration als Waffe“ so gefährlich. Denn so lässt sich die EU auf die politischen Spiele von Lukaschenko und anderen ein, macht schutzsuchende Menschen selbst zum Objekt, und missachtet ihre Stellung als Personen mit eigenen Rechten. Und schon jetzt funktioniert der Diskurs ja genau so: Die Abschottung durch den polnischen Grenzschutz wird nicht kritisiert, sondern unterstützt und bekräftigt.
Obwohl juristisch eigentlich klar ist, dass eine solche Außerkraftsetzung von Rechten nicht möglich ist: Der Art. 3 EMRK, auf den das Zurückweisungsverbot gestützt wird, kann nach Art. 15 EMRK in keinem Fall, auch nicht im Fall eines Krieges oder eines öffentlichen Notstands, ausgesetzt werden. Auch der EU-Vertrag sieht eine solche Möglichkeit nicht vor: So heißt es in Art. 78 des EU-Vertrages, der hier neuerdings von verschiedener Seite zitiert wird, dass für den Fall, dass sich ein Staat „aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ befindet, die EU-Kommission vorläufige Maßnahmen ergreifen kann. Das bedeutet aber nur, dass der betreffende Staat bei der Aufnahme von Schutzsuchenden unterstützt wird; die Kommission darf natürlich nicht einfach die Menschenrechte außer Kraft setzen.