Interview mit Horst Herold, Teil 2: Prognose und Prävention

Cilip: Eines Ihrer zentralen Ziele war es, die Prognosefähigkeit der Polizei zu erhöhen. Liest man heute die Fachpresse, so stechen dem Betrachter sehr viel mehr die polizeilichen Schwierigkeiten ins Auge, verläßliche Urteile über die „Sicherheitslage“ zu fällen. Hat das Mehr an Informationen, das die Polizei heute besitzt, am Ende nicht zu einer besseren Prognosefähigkeit, sondern zu einem Überhang an unverarbeitbaren Informationen geführt?

Herold: Die Polizei verfügt über kein Mehr an abstraktionsfähigen Informationen. INPOL ragt praktisch über ein bloßes Personen- und Sachfahndungssystem nicht hinaus. Die geplante Straftaten-/Straftäter-Datei, aus der sich prognosefähige Aussagen ergeben hätten, kam nicht zustande. Nach der Verteilung der Straftäterdaten auf Bund und Länder vermag weder die Polizei noch der Bürger zu überschauen, wo welche Daten liegen. Was an Daten für eine gesellschaftliche Einordnung von Kriminalität wichtig wäre, ist nach wie vor in den Aktenfriedhöfen vergraben.

Was ist aus dem Ziel einer effektiven Verbrechensprävention geworden?

Nichts. Hervorheben möchte ich, daß ich unter Prävention nicht die „verbale Prävention“ durch Plakate und Traktate – „Sei schlauer als der Klauer“ – oder die „technische Prävention“ durch Schlösser und Alarmsignale oder die „individuelle“ gar etwa im Sinne einer Tätertyplehre verstehe, sondern die „gesetzgeberische Prävention“, d.h. die Formulierung von Gesetzesnormen zur Aufhebung oder Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Kriminalität entsteht.

Im Hinblick auf das Beispiel der geklauten Wagen leuchten die Möglichkeiten, die aus der elektronischen Datenverarbeitung für die Polizei erwachsen, ja noch unmittelbar ein. Sie gehen aber in vielen Ihrer Aufsätze viel weiter, wenn Sie sinngemäß feststellen, daß die Polizei mit Hilfe der neuen technischen Möglichkeiten in der Lage sein wird, Verbrechen nicht nur zu bekämpfen, sondern Verbrechen zu vermeiden.

Ja, indem die Polizei eben der Gesetzgebung die Daten für eine „gesetzgeberische Prävention“ liefert, zum anderen – was Sie nicht erwähnen, was ich aber als gleichrangig wichtig stets hervorgehoben habe – die Polizei der Politik die Daten vermittelt, um die unerträglich einseitig ausfilternden Selektionsmechanismen des Strafprozesses zu beseitigen. Aus der Dunkelfeldforschung wissen wir, daß sich jährlich zwischen 10-20 Millionen Straftaten ereignen. 4 Millionen Delikte werden entdeckt und in der Kriminalstatistik registriert. Von den 4 Millionen werden nur knapp 2 Millionen aufgeklärt, von den 2 Millionen nur die Hälfte angeklagt, von denen nur die Hälfte verurteilt, von denen wiederum nur ein Bruchteil zu Freiheitsstrafen. Letztlich ziehen dann nach diesem riesigen count down nur 60 000 in die Gefängnisse ein.

Glauben Sie, daß es sich dabei unbedingt um diejenigen handelt, die am gesellschaftsschädlichsten gehandelt haben, oder vielmehr auch zu einem hohen Teil um solche, denen es an Fähigkeiten oder materiellen Möglichkeiten mangelt, um sich selbst oder mit Hilfe von Anwälten und Sachverständigen der Kriminalisierung zu entziehen oder die dem Gelehrtenritual des Strafprozesses und seiner Hochsprachlichkeit buchstäblich sprachlos gegenüberstehen? Es genügt ja wohl, auf die kriminologische Literatur des letzten Jahrzehnts hinzuweisen, die diese Endergebnisse, die den Postulaten unserer Ordnung zuwiderlaufen, eingehend beschrieben hat.

In den Aktenfriedhöfen der Polizei aber wären die massenstatistischen Daten enthalten, die Aufschlüsse darüber liefern, welche Strafrechtsnormen von vornherein der Selektion von Unterschichten dienen – wie etwa in dem berühmten Beispiel von Anatol France: Niemand, ob Arm oder Reich, solle unter den Brücken der Seine sein Nachtlager aufschlagen dürfen -, § 218 war ein modernes Beispiel. Eine Statistik aus den Polizeidaten, welche Strafrechtsnormen welche Bevölkerungsschichten treffen, würde Einsichten in die Normstruktur und in die zugrundeliegenden Interessen liefern. Andererseits würden die Polizeidaten erkennen lassen, weshalb manche Schichten von der Selektion eher betroffen werden als andere, so wie die Ausländer eher in die Mechanismen gelangen, weil sie wegen ihres anderen Aussehens eher auffallen, Jugendliche, weil sie dem erwachsenen Routinier unterlegen sind oder so wie im Kreis der bereits Vorbestraften gesucht wird, weil der einmal verübte Normbruch den ständigen Hintergrund für die Annahme der Wiederholung liefert. Noch gar nicht abschätzbar sind die Möglichkeiten massenstatistischer Forschung, die, ohne personenbezogene Daten zu berühren, die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und Wohnen, Kriminalität und Arbeitslosigkeit, wie überhaupt alle Zusammenhänge zwischen Kriminalität und gesellschaftlichen Massenerscheinungen ergründen könnte.

In der Methode steckt das Politikum. Mit Massenstatistik haben Sie zunächst mal Daten, aber keine Informationen, d.h., Sie wissen noch nicht, was der Berg von Daten, den Sie gesammelt haben, ihnen sagt. Ein Datum ist wie ein Sack mit etwas drin, aber man weiß nicht, was drin ist, man kann es erst durch eine ganz bestimmte Theorie oder eine Hypothese zu einer Information machen. Das zweite: Mit Massenstatistik, gerade wenn Sie das Gesetz der großen Zahl erwähnen, haben Sie nur Merkmale, aber keine sozialen Konfigurationen. Und das dritte ist: Wenn Sie Korrelationen nehmen zwischen Merkmalen in der Massenstatistik, können Sie keine kausalen Aussagen machen. Sie können sagen, das ist eine Korrelation. Das mag etwas Wichtiges sein, kann aber auch völlig ins Irre führen. Wenn Sie da aufgrund von Korrelationen schon handeln, dann schaffen Sie das, was Sie als kausal unterstellen, als Kausalität erst.

Zunächst einmal wären schon Korrelationen wichtig, denn bis jetzt haben wir überhaupt nichts. Es wäre schon ein enormer Zugewinn, wenn die unglaublich grobe Kriminalstatistik, nach der die Politik derzeit ihre Kriminalitätssteuerung versucht – und damit natürlich an der Wirklichkeit vorbei -, verfeinert werden könnte, wie z.B. die derzeitige Statistik zum Betrug. Betrug, der statistisch nur als juristischer Oberbegriff erscheint, besteht ja aus höchst unterschiedlichen Varianten; er kann Zechprellerei, Heiratsschwindel, Subventionsbetrug oder eine Devisenmanipulation sein. Wie will die Politik die Wirtschaftskriminalität bekämpfen, wenn sie nicht einmal weiß, wie sich das Hellfeld zusammensetzt?

… aber würde es ausreichen, z.B. aufgrund einer solchen, verbesserten heuristischen Grundlage präventiv oder pro-activ zu handeln, oder gar zu sagen, die Kriminalgeographie der Bundesrepublik ist so und so, und wir würden so und so handeln aufgrund dessen?

Offenbar sind die statistischen Fachwissenschaften, gegen die sich Ihre Einwände in sehr grundsätzlicher Weise richten, ganz anderer Meinung, denn sie beklagen nicht nur das Fehlen jedwelcher Arbeitsgrundlagen auf dem Sektor der Kriminalität, sondern stellen denkbare Ergebnisse in Aussicht, wenn auch nicht schon aufgrund verbesserter Beschreibungen. Daß Sie den Begriff der Kriminalgeographie in diesem Zusammenhang erwähnen, läßt befürchten, daß Sie entweder den Begriff der Prävention in einem gänzlich anderen Sinne sehen oder aber die Kriminalgeographie mißverstehen.

Kriminalgeographie hat eine Doppelnatur. Einerseits soll sie den räumlichen Anfall der Kriminalität zählen und tabellieren oder kartographisch darstellen, um auf diese Weise die Schutzpolizei zu der Zeit mit den Kräften an die Orte zu lenken, an denen Verbrechen ihrer statistischen Wahrscheinlichkeit nach geschehen. Mich hat jedoch die andere, die präventive Seite der Kriminalgeographie noch stärker interessiert, die Frage nämlich, welche räumlichen Faktoren dafür ursächlich sind, daß es an bestimmten Orten zu Kriminalitätsmassierungen kommt. Bei näherer Untersuchung ergeben sich berechenbare Zusammenhänge zwischen den Strukturelementen eines Raumes – Geschoßflächendichte, Schaufensterdichte, Angebot an abendlichen Treffpunkten, kulturellen Begegnungen usw. – und dem kriminellen Magnetismus dieses Raumes. Natürlich können diese Zusammenhänge auch zu der Frage umgekehrt werden, ob sich Kriminalität durch eine andere Stadtstruktur bewußt und gewollt minimieren läßt.

Was ist eigentlich aus Ihrem Nürnberger Modell geworden, weil wir schon lange nichts mehr davon gehört haben. Wo sehen Sie die Gründe?

1971 wurde die Stadtpolizei Nürnberg verstaatlicht und das Experiment eingestellt. Aus der Sicht Münchens haben solche Fragen offenbar keinen Stellenwert. Hieran ließe sich auch das Wirken von Befehlen und hierarchischen Eingriffen im und auf den Polizeiapparat veranschaulichen. Die Polizei ist, wie alle von Menschen getragenen Institutionen, gezwungen, sich beständig den Veränderungen von Gesellschaft und Umwelt anzupassen. Dazu sind drei Arten von Information kontinuierlich nötig: Informationen aus der Um- und Außenwelt, aus dem eigenen Status und Informationen aus der Vergangenheit.

Werden Informationen aus der Außenwelt nicht wahrgenommen oder nicht verarbeitet, so geht die Lern- und Anpassungsfähigkeit verloren. Das wichtigste Instrument der Zukunftsbewältigung bricht ab. Die Institution tritt in eine degenerative Phase ein. Sie wird von Informationen aus der Vergangenheit oder von Befehlen, die wie Desinformationen wirken, an ihrem Ziel vorbeigetrieben.  Gerade weil die Polizei Außeninformationen über gesellschaftliche Zusammenhänge zur Kriminalität vermitteln könnte – mit personenbezogenen Daten hat dies überhaupt nichts zu tun -, halte ich den enthierarchisierenden Einsatz von Computern für unverzichtbar.

Die Zuordnung von umbautem Raum zur Kriminalitätsdichte ist ein Faktor, der sicherlich wichtig ist, aber ob das der Faktor ist, das ist eine andere Frage. Da kommen Sie natürlich immer in eine bestimmte Interpretation von Wirklichkeit, weil Sie die Totalität des Wirklichen nicht erfassen können. Ich wollte auf die Gefahr hinweisen, daß Sie im Grunde aufgrund von Normaltypen handeln, die sich technisch eingespeichert haben, wo dann der einzelne Polizist, der einzelne Polizeidirektor oder wer immer im Grunde handelt, als ob die Wirklichkeit richtig wäre.

Sie sprechen jetzt von der repressiven Seite der Kriminalgeographie, also der Funktion des Computers, die Polizeikräfte in adäquater Stärke automatisch an die Brennpunkte des Geschehens zu lenken. Die „präventive Kriminalgeographie“ betrifft ja nicht die Polizei, sondern die Stadt- und Raumsoziologie als Auftrag zu kriminalitätsminimierenden Änderungen der Stadtstruktur. Bei der repressiven Kriminalgeographie aber möchte ich den steuernden Polizeidirektor eben nicht haben. Steuern müssen ausschließlich die Informationen aus der Wirklichkeit. Je mehr Informationen aus der Wirklichkeit – zur Kriminalitätsdichte und zur Raumstruktur – ständig hereinfluten, umso mehr verfeinert sich der Thesaurus. Ziel eines hohen, von jeglicher hierarchischer Einflußnahme freien Informationsdurchsatzes ist die Bildung immer neuer Stichworte, ob nun im Kriminalitätsregister, im Literaturregister, im Krebsregister, im Wissenschaftsregister -, ich sage nochmals: ohne personenbezogene Daten. Wenn sich zu einem Stichwort soviel Material angesammelt hat, daß es eine Aussage ergibt, die nicht mehr verkürzt werden kann, haben wir eine Elementaraussage vor uns.

Was danebensteht, wird als Informationsballast oder Textmüll erkannt und ausgeschieden. In einem permanent verdichteten Geflecht von Elementaraussagen bildet sich eine Topographie der Sachzusammenhänge, ein ständiger Prozeß der allmählichen Annäherung an eine vollständige Abbildung der Wirklichkeit. Es liegt auf der Hand, daß die Geschwindigkeit dieses Prozesses eine Funktion des Informationsdurchsatzes ist.

Daß der Computer dabei ein Hilfsmittel ist, die Latenz von Informationen zu beheben, mag ein Beispiel zeigen: Die Techniken der doppelten Buchführung und des Status waren den großen englischen Handelskompanien des Mittelalters völlig unbekannt. Sie besaßen keinen Überblick über ihre Gewinne und Verluste. 1978 bereiteten drei englische Wirtschaftswissenschaftler die erhaltengebliebenen Geschäftsbücher der East India Company aus den Jahren 1660 bis 1760, 400 Bände, computergerecht in langer Arbeit auf. Nach nur einem Tag des Computereinsatzes wissen wir über die Company, ihre Schiffe, ihre Besatzungen, die Löhne, die Ein- und Verkaufspreise, die Kautionen und Versicherungen mehr, als die Direktoren und Aktionäre, die Ankläger und Kontrolleure im englischen Parlament jemals wissen konnten. Bemerkenswert an diesem Beispiel ist, daß sich die Menschen der Latenz von vorhandenen Daten zu keiner Zeit bewußt gewesen sind, so wie wir auch heute nicht erkennen, daß die Welt erst zu einem minimalen Bruchteil angeeignet ist.

Es geht ja in einem solchen Gespräch sowieso nicht darum, zu sagen: Schafft die Computer wieder ab, was ohnehin reichlich naiv wäre. Aber es stellen sich eine Fülle von Fragen. Selbst wenn es möglich wäre, daß das System der Verbrechensbekämpfung sich nur den Veränderungen oder den Stimuli von potentiellen oder tatsächlichen Verbrechen anpassen würde, gibt es dauernd Rückkopplungseffekte, so daß die kriminalpolizeilichen oder politischen Reaktionen natürlich das Phänomen mit produzieren, das ihnen diese Stimuli schafft. Insofern bleiben Wahrheits- und Richtigkeitskriterien ein Problem. Und die zweite Frage ist, wenn Sie so „reagieren“ und zugleich „mitschaffen“, wie wollen Sie denn in die Prävention kommen? Denn das Versprechen, mit dem Sie angetreten sind, war doch immer wieder, nicht nur Verbrechen, wenn sie passieren, besser zu bekämpfen, sondern, bevor es überhaupt zu Stimuli kommt, die Stimuli zu vermeiden?

Dabei habe ich stets hervorgehoben, daß es mir um das Erkennen und Beseitigen der gesellschaftlichen Stimuli geht und nicht, wie man mir immer wieder unterstellte, um die individuelle Prävention der Markierung von präsumptiven oder potentiellen Tätertypen: Der hat blonde Haare und blaue Augen, das ist ein Typ, der stehlen wird. Die „gesetzgeberische Prävention“ ist als eine Aufforderung an den Gesetzgeber zu verstehen, Gesetze zu formulieren, die, dem Gebot der Rechtsgleichheit entspringend und ausschließlich am Maßstab der Sozialschädlichkeit orientiert – und nicht an Gruppen- oder Sonderinteressen -, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Stimuli, aufheben oder ändern, unter denen Kriminalität entsteht. Auch zu seiner Hochzeit habe ich öffentlich den Terrorismus als eine objektive Erscheinung bezeichnet, die auch dann aufgetreten wäre, wenn es Baader und Meinhof nicht gegeben hätte. Terrorismusbekämpfung ist in erster Linie eine politische Aufgabe, die gesellschaftlichen Ursachen aufzuheben oder zu verändern, die Terrorismus möglich machen.

Ja, dann fragt man sich eigentlich, warum es noch nicht passiert ist, warum Ihnen vorgeworfen wird, daß Sie ein Systemveränderer sind.

Im Grunde genommen besteht ein unversöhnlicher Widerspruch zwischen der traditionellen Auffassung, die das Gesetzes- und Normensystem als Mittel der Konservierung des Bestehenden betrachtet, und einer dynamischen Vorstellung vom Recht, das als zeitbezogen und veränderbar das ununterbrochene Werden einer stets fließenden, nie fertigen Gesellschaft widerspiegelt. Wer dem letzteren zuneigt – und das Bundesverfassungsgericht scheint sich dem immer stärker anzuschließen -, wird die Frage der Aufnahme neuer Informationen in den Mittelpunkt aller Überlegungen rücken. Ich meine, daß jede Veränderung von Systemen in dem Maße erfolgreich sein muß, in dem sich das System bereits verändert hat.

Das ist ja erst mal richtig. Es erscheint mir als Utopie, weil die Politik erst langsam in dem Augenblick…

Deshalb kommt es mir ganz wesentlich auf die Installationen von Regelkreisen an, die den Selbstlauf stimulieren, die Selbstoptimierung, und die unabhängig sind von Eingriffen, die dem System die Lernfähigkeit nehmen und es destabilisieren. Ich glaube, es wäre heute gar nicht mehr möglich, wie 1972 ein polizeiliches Informationssystem mit 30 – 50 Großrechenanlagen zu errichten. Wäre es gar damals gelungen – was ja mit allseitiger politischer Zustimmung bereits beschlossen war -, diesem System neben der höchst wichtigen Aufgabe der Verbrechensbekämpfung auch die der Analyse und Prognose zuzuweisen, so stünde der Gesetzgebung heute auf einem wichtigen gesellschaftlichen Teilgebiet ein Veränderungsinstrument zur Verfügung. Es ist schon ziemlich grotesk, daß vor allem diejenigen, die ständig nach Veränderung rufen, mit der geradezu schamlosen Behauptung, es würden Bürgerdaten mißbraucht, die Zerstörung des Instrumentes bewerkstelligt haben.

Aber krankt nicht jeder Versuch, theoretisch-prognostische Erklärungen aus einem geschlossenen Regelkreissystem ableiten zu wollen, zwangsläufig an dem in den Sozialwissenschaften ja insgesamt feststellbaren Problem, daß empirisch sinnvolle und prognostisch triftige Indikatoren und „Stellgrößen“ sich gerade nicht von selbst aus noch so vielen Informationen ergeben?

Das Modell eines enthierarchisierten, allein von Außeninformationen gesteuerten Selbstlaufes in einem sich optimierenden Regelkreis scheint mir in keiner Weise widerlegt. In der Sozialwissenschaft ist mir kein einziges Beispiel für die computerunterstützte Untersuchung großer Datenbestände bekannt. Deshalb fehlen in der Sozialwissenschaft auch Erfahrungen mit der Mehrdimensionalität und insbesondere der „Thesaurierung“, die die von Ihnen geschilderte Aussagenverengung überwindet. Bis jetzt hat die Sozialwissenschaft diesen Prozeß der Bildung neuer Stichworte, der Auffächerung und Materialanreicherung zu Elementaraussagen überhaupt noch nicht untersucht. Wie überhaupt die Sozialkybernetik nach den hoffnungsvollen Anfängen zur Mitte der siebziger Jahre wieder in Resignation verfallen ist.

Lösungen dürfen nicht in den Köpfen erfunden, sie müssen in der Wirklichkeit gefunden werden – ein Satz, der sowohl bei Lenin wie bei Manfred Eigen, Nobelpreisträger 1967, nachgelesen werden kann -, diese Einsicht wird von der Kybernetik in Modelle umgesetzt, die auf alle Wissenschaften anwendungsfähig sind. Indem Kybernetik erstmals die Wissenschaften nicht mehr trennt, sondern wiedervereinigt, führen alle spezialisierten Anwendungsformen wieder auf eine Überschau zurück. Wenn diese vollständig sein soll, dürfen wir in ihr die Betrachtungselemente des Gebietes nicht fehlen, das wir als Kriminalität bezeichnen.

Wir haben am Anfang kurz davon geredet, daß eine technische Expansion, also auch die Möglichkeiten, die der Computer hat, gerade aufgrund der Verknüpfung von Daten neue Rechtsprobleme schafft, das alte Recht durchlöchert oder als obsolet zur Seite drängt. Die Begriffe der körperlichen Unversehrtheit, der Menschenwürde etc. sind nicht mehr zureichend, um die Probleme der Unterwanderung durch moderne Datentechniken zu begreifen. Die Frage wäre: Sehen Sie das Problem auch und würden Sie dann auch rechtliche bzw. organisatorische Lösungen sehen?

Natürlich sind die technischen Möglichkeiten der Überwachung, Kontrolle und Versklavung von Menschen gigantisch, vor allem dann, wenn 1990 die Computer der 5. Generation auf den Markt kommen, die das japanische Wirtschaftsministerium bereits angekündigt hat. Diese Rechner werden klein, billig und transportabel sein. Sie werden Informationen wie mit den Sinnen eines Menschen erfassen können: als gesprochene Sprache, geschriebene Texte, gesehene Menschen, Bilder, Grafiken. Gerade deshalb, weil alle diese Entwicklungstendenzen und Möglichkeiten schon seit zwei Jahrzehnten voraussehbar waren, hat die Kriminalpolizei bereits 1972 Sicherungskonzeptionen für das INPOL-System entwickelt, die die Hauptformen der Gefährdung: die Erstellung von Bewegungsbildern und Persönlichkeitsprofilen, zuverlässig ausschließen. Diese Sicherungskonzeption unterscheidet sich jedoch grundlegend von der, die die Datenschutzbeauftragten vor Augen haben.

Den Datenschutzbeauftragten, die meist aus der juristischen Gelehrtenstube kamen und sich plötzlich in der irritierenden Welt und Kälte von Rechenzentren wiederfanden, ging und geht es um eine Form des Datenschutzes, die ich als „juristischen“ Datenschutz bezeichnen möchte. Die Datenschutzbeauftragten verstehen unter Datenschutz ein System juristischer Rechtsregeln, die an die Staatsbehörden appellieren, sie möchten sorgsam mit den ihnen anvertrauten Personendaten verfahren. Diese Art Datenschutz verhindert nicht Mißbräuche, sondern bestraft sie, was dann voraussetzt, daß sie überhaupt entdeckt werden.

Demgegenüber verfolgten wir ein System des „technischen“ Datenschutzes, das den Computer so konstruiert, daß Mißbräuche von Personendaten bereits physikalisch-technisch ausgeschlossen werden. So wurden z.B. Vorkehrungen getroffen, daß „Bewegungsbilder“ schon deshalb nicht entstehen können, weil die Protokollier- und Aufzeichnungsmöglichkeiten für solche Bilder auf Magnetplatten oder -bändern oder auf Druckern physikalisch unterbrochen wurden. Überhaupt bin ich der Meinung, daß kein Datenschutzbeauftragter den Computer so gut kontrollieren kann wie ein Kontrollcomputer, von den kryptologischen Lösungsformen ganz abgesehen. Leider wurden diese Vorschläge als „technokratisch“ abgetan und unsere Vorstellung von einem anderen Datenschutz so dargestellt, als wollten wir gar keinen Datenschutz. Gegenüber dem, was technisch auf uns zukommt, wird der nur juristisch verstandene Datenschutz alsbald zu einem Datenschutz der Vergangenheit und der Erinnerungen.

Dies alles heißt nicht, daß der „juristische“ Datenschutz sinnlos wäre. Als überwölbendes Sicherungssystem zur Abdeckung von Lücken, die technisch immer wieder neu entstehen, ist er unverzichtbar. Nur glaube ich nicht, daß der Datenschutz den Kern der Probleme wirklich anpackt. Da ist z.B. das System der Kontextveränderung. Das meint folgendes: Der Bürger, der seine persönlichen Daten einer Behörde zur Verfügung stellt, gibt diese Daten in den Kontext der spezifischen Aufgaben dieser Behörde hinein. Gibt die Behörde diese Personendaten einer anderen Behörde weiter so tritt zwangsläufig eine Kontextveränderung ein, weil die andere Behörde ja andere Aufgaben hat. Die Kontextveränderung kann positiv oder negativ für den Betroffenen sein.

Von einer positiven Kontextveränderung wird z.B. zu reden sein, wenn die Rentenversicherer die Krankheitsdaten des Betroffenen einholen, um eine höhere Rente berechnen zu können; eine negative Veränderung liegt vor, wenn die Polizei die gleichen Daten will. Das sog. „Volkszählungsurteil“ des Bundesverfassungsgerichtes hat zwar mit dem sog. „informationellen Selbstbestimmungsrecht“ wesentliche Leitlinien geliefert, verkürzt gesprochen: Es hat für Kontextveränderungen die Genehmigungspflicht des Betroffenen eingeführt, aber diese Verkürzung zeigt schon, daß dadurch der Betroffene einer ununterbrochenen Befragung ausgesetzt wäre, ob er zustimmen will oder nicht. Das Problem muß noch von der objektiven Seite her gelöst werden. Damit wird offenbar, daß der gesamte Amtshilfebereich nach Art. 35 GG sich von Grund auf um die Kontextfrage neu aufbauen muß.

Weiter: Wenn der Bürger sein Auskunftsrecht wahrnehmen oder seine Zustimmung zur Kontextveränderung ausüben will, muß er wissen, was die Behörden eigentlich tun. Das bedeutet, daß sie ihre Systeme offenlegen müssen. Das über Jahrhunderte gepflegte Prinzip der Amtsverschwiegenheit wird sich zu einem Prinzip der Amtsöffentlichkeit für alle nichtpersonenbezogenen Daten umkehren. Damit entfallen die bisherigen Beschränkungen für die Informationsfreiheit, die nach Art. 5 GG Grundrechtsrang besitzt.

Die Entwicklung führt sonach die bisherige Gewaltenteilung zu einer Informationsgewaltenteilung fort, zu einem weiteren Ausbau des Schutzes von persönlichen Geheimnissen, zum weiteren Ausbau des Persönlichkeitsrechts. Dies alles hat dann natürlich seine Entsprechungen im Strafverfahren: Ablösung des Geheimverfahrens durch Parteiöffentlichkeit, Mitwirkungsrechte bei der Beweissicherung usw. Bereits heute hat die Polizei das Prinzip des Programmierten Vergessens in ihre Systeme eingeführt, d.h. der automatischen Löschung aller Straftäterdaten nach Ablauf einer bestimmten Zeit. Auch der Straftäter soll nicht immer wieder mit seiner kriminellen Vergangenheit konfrontiert werden, ihm gebührt die Gnade des Vergessens.

Also Ihr Modell ist sehr faszinierend. Wenn man das mit der Realität konfrontiert, da sieht es doch ein bißchen anders aus. Fast allem, was Bürokratie ist, unterliegt Polizei, wie so schön der Staatsrechtler sagte, d.h. die Polizei enthält qua Gesetzesauftrag Zugriff auf sehr viele Daten, beispielsweise bei der Rasterfahndung.…

Halt, halt, da muß ich widersprechen. Entgegen den Behauptungen der gegen diesen Begriff gerichteten Kampagnen ist die Rasterfahndung die einzig mögliche Form einer polizeilichen Fahndung, die Unschuldige und Nichtbetroffene dem Fahndungsvorgang fernhält. Der Gedankengang ist folgender: Ich sagte schon, daß wir uns auf dem Wege zur Informationsgewaltenteilung befinden. Postgeheimnis, Fernmelde-, Bank-, Statistik-, Steuergeheimnis usw. und vor allem das Sozialgeheimnis schotten die Behörden voneinander ab; der empfindliche Bereich von Gesundheit, Wohnen, Arbeit, Renten usw. ist auch den Strafverfolgungsbehörden verschlossen. Nur dann, wenn die Polizei den Verdächtigen eines Schwerverbrechens bezeichnen kann, darf der Richter die Erteilung von Auskünften über ihn anordnen. Beispiel: Meier ist verdächtig, den Huber getötet zu haben; dann kann der Richter anordnen, daß die Rentenversicherung die Unterlagen herausgeben muß, ob Meier zur Tatzeit im Krankenhaus lag.

Nun kann die Polizei aber nur in den allerseltensten Fällen den Täter von vornherein namentlich bezeichnen. Sie vermag allenfalls Kriterien zu ermitteln, die auf den Täter passen: 1,80 m groß, schwarzhaarig, von Beruf Bäcker usw. Darf die Polizei mit solchen „positiven“ Kriterien nun in Sozialdateien suchen, d.h. alle Krankenhausunterlagen durchblättern, durchblättern, welche Patienten 1,80 m groß, schwarzhaarig und von Beruf Bäcker waren? Die Frage ist offen; im Lichte der Rechtsentwicklung, die in Fragen des Persönlichkeitsrechtes allseits in Gang gekommen ist, wird sie jedoch künftig zu verneinen sein. Denn bei ihrer Suche müßte die Polizei zwangsläufig mit den Personendaten einer Vielzahl von Personen in Berührung kommen, die absolut unschuldig sind. Deshalb begann die Polizei schon 1978 nach Fahndungsformen zu suchen, die auch unter den Aspekten der künftigen Rechtsentwicklung Bestand haben können. Diese Form ist die Rasterfahndung.

Bei der Rasterfahndung forscht die Polizei nicht nach „positiven“ Kriterien, sondern nach „negativen“, d.h. nach solchen, die auf den Täter nicht zutreffen. Beispiel: Der Täter kann kein Rentner, kein Student, kein Bafög-Bezieher, kein Kfz-Halter gewesen sein. Dann nämlich können die Rentenversicherer gebeten werden, ihre Rentnerdaten aus dem Datenbestand, der zu überprüfen ist – z.B. das Magnetband der Einwohner – herauszulöschen. Mit dieser physikalischen Vernichtung der Rentnerdaten bewirkt die Rentenversicherung, daß ihre Daten der Polizei überhaupt nicht zur Kenntnis kommen. Sodann werden die Universitäten gebeten, die Daten der Studenten herauszulöschen – in diese Daten kann die Polizei nicht mehr hineinblicken. Dann folgen die Bafög-Behörden, die Kfz.-Zulassungsstellen usw. usw. Die Löschungen werden solange fortgesetzt, bis anzunehmen ist, daß die Liste der Ausschließungskriterien erschöpft sein müßte. Erst dann läßt die Polizei den Restbestand ausdrucken. Dies sind dann nur noch wenige Personendaten.

Aber gegenwärtig gibt es diese Art von Informationsgewaltenteilung, diese Art auch von technischer Sicherheit doch gar nicht. Denken Sie bloß an die Diskussion um den Kriminalaktennachweis…

Rasterfahndungen gibt es deshalb nicht, weil einige Datenschutzbeauftragte diese Fahndungsform öffentlich in einem genau gegenteiligen Sinne als Eingriff in die Personendaten Unschuldiger dar gestellt und dadurch Wogen einer allgemeinen Empörung über die vermeintliche Polizeiwillkür ausgelöst haben. Ähnlicher Unsinn wird auch über den Kriminalaktennachweis verbreitet.

im BKA-Gesetz von 1973 ist ausdrücklich festgelegt, daß das BKA eine zentrale Straftaten/Straftäter-Datei zu führen hat. Die verurteilten Straftäter werden bekanntlich im Bundeszentralregister nachgewiesen. Da die Straftaten/Straftäter-Datei einige Probleme der Thesaurierung aufgibt, sollte zunächst ein zentrales Fundstellenregister für alle in der Kriminalstatistik nachgewiesenen Straftaten eingerichtet werden. Der Index hätte z.B. auf die Frage: „Gibt es etwas über Richard Maier“? geantwortet: Ja, einen Vorgang wegen schweren Diebstahls beim PP München Az. 11333/80 und wegen Raubes bei Kripo Münster. Dieser „Findex“ sollte zwei Teile haben: einen Zentralen Personen Index – ZPI – und einen Zentralen Fall Index – ZFI. Aufgrund eines Beschlusses der Innenminister wurde der ZPI programmiert, Kosten etwa 9 Millionen DM.

Da die Datenschutzbeauftragten gegen das Projekt massiven Protest erhoben, modifizierte die Polizei den ZPI. Bagatellfälle sollten von der örtlichen Polizei mit einem „Merker“ versehen werden, der bewirkt hätte, daß dieser Täter nur von der örtlichen Polizei abgefragt hätte werden können. Der Badehosendieb aus Passau wäre sonach der Polizei in Hamburg nicht mitgeteilt worden. Hätte der Badehosendieb jedoch auch in Wuppertal und anschließend in Hamburg Badehosen geklaut und wären auch der Wuppertaler und der Hamburger Eintrag mit einem „Merker“ versehen worden, so hätte der Computer das Zusammentreffen von drei „Merkern“ registriert und die zuletzt einstellende Polizei auf die früheren Vorgänge hingewiesen. Die Auskunftssperre hätte jeweils der Deliktschwere angepaßt werden können, so daß einerseits der Bagatelltäter davor geschützt gewesen wäre, daß seine Personalien bundesweit bekannt werden, andererseits der reisende oder überörtliche Täter nicht durch die Maschen schlüpft, weil die Einzelfälle als Lappalien überall eingestellt werden.

Unter dem Einfluß des damaligen Bundesdatenschutzbeauftragten wurde dieser „Kriminalaktennachweis“ jedoch vollständig dezentralisiert, entsprechend der beinahe ideologischen Grundhaltung, die Prof. Bull gegenüber der TAZ als sein Prinzip „small is beautiful“ eingeräumt hat. Alles, was nicht zur überörtlichen Kriminalität gehört – Frage dazu: Wer sieht das einer Straftat an? – wird nur in den Landesrechnern gespeichert und an das BKA nicht mehr weitergegeben. Bull ging offenbar von der – technisch irrigen – Meinung aus, daß die Verteilung von Daten auf eine Vielzahl von Rechnern die Daten besser vor einem Zugriff sichere, so, als ob es nicht möglich wäre, Rechner über eine beliebige Entfernung – ob von Pernambuco oder Honolulu – zusammenzuschalten. Allerdings wurde mit dieser Zertrümmerung etwas sehr wesentliches bewirkt, was ich allerdings das Gegenteil von Datenschutz halte: Heute weiß weder die Polizei noch irgendein Datenschützer, welche Polizeidateien welche Daten über welche Bürger verwahren.

Einem Bürger, der von seinem Auskunftsrecht Gebrauch machen will, muß entweder vom BKA gesagt werden, daß das Amt über ihn keine Daten habe – was einer Täuschung gleichkäme, da andernorts sehr wohl Daten sein können – oder es müßte ihm eine Fahrkarte für die Rundreise zu allen Landeskriminalämtern übersandt werden, nach deren Abklappern er aber immer noch nicht die Gewißheit vollständiger Auskünfte haben könnte.

Ja, gut, da würde ich Ihnen jetzt erst einmal zustimmen. Meine Frage an Sie ist ja, in der polizeilichen Diskussion kann man ja oft lesen, Datenschutz ist Tatenschutz. Sie postulieren eigentlich ein Modell, eine Offenheit. In der Realität sind doch die zentralen Fragen ungeklärt: die Frage nach dem Zugriff auf Daten in allen anderen Bereichen. Z.B. die Sozialbehörde kann kaum von ihrem Auftrag her berechtigt zur Polizei kommen und sagen, sie soll jetzt mal die Daten rausrücken, weil sie die irgendwo braucht. Von daher ist die Polizei schon in der herausgehobenen Position. Das zweite ist: Wie wollen. Sie das einengen?

Leider gehört es zur Aufgabe der Polizei, daß sie Verbrecher suchen muß, sonst braucht man sie nicht mehr. Zweitens: Wenn sie schon suchen muß, sollen Unschuldige nicht darunter leiden. Eben deshalb wäre die Rasterfahndung, so wie ich sie beschrieben habe, dringend nötig, weil keine andere Form als die der physikalischen Datenvernichtung Personendaten besser schützt.

Weil Sie sagten, es ist nur ein negativer Abgleich. Das ist auf der einen Seite richtig, auf der anderen Seite setzen Sie ja positive Daten. Sie können das Programm immer so gestalten, daß jede beliebige Teilgruppe – wenn man es einmal ganz abstrakt faßt – aufgrund bestimmter Vorstellungen, die sie von der Tätergruppe etwa haben, und die Sie ja beliebig konstruieren können, zum Schluß übrig bleiben.

Unterstellen wir einmal, die Polizei hätte die Freiheit, Tätergruppen nicht nach der Tat, sondern nach ihrem Belieben zu konstruieren: Dann läge der bedeutende qualitative Unterschied doch darin, daß mit den Löschungen der Rasterfahndung ganze Gruppen jedwelchem Einblick entzogen werden. Würde die Polizei nach positiven Kriterien suchen – 1,80 m groß, schwarzhaarig -, so würden natürlich auch die Rentner, Studenten, Bafög-Bezieher darauf „überprüft, ob sie 1,80 m groß oder schwarzhaarig sind. Werden die Rentner, Studenten usw. aber gelöscht, so sind ihre Personendaten keiner Suche mehr zugängig.

Der Streitpunkt ist in gewisser Weise nicht die Kontrolle über den Abgleich, sondern über die Definitionen, die die Polizei benutzen kann, um zu „rastern“. Das „Positive“ ist, daß, abstrakt gesehen, mit dieser Methode aus der Bevölkerung jede beliebige Teilmenge unter sei es herrschaftlichen, sei es kriminalistischen, sei es sozialwissenschaftlich interessanten Kriterien ausgemendelt, d.h. herausdestilliert werden kann, wenn man es so formuliert. Darin, finde ich, steckt ein enormes Maß an Bedrohung.

Genau richtig. Gerade deshalb will ich die Fahndung mit „positiven“ Kriterien ja durch die Rasterfahndung mit Ausschließungskriterien ersetzen. Die Rasterfahndung braucht nur ein einziges positives Kriterium, nämlich ein solches, um den Untersuchungsbestand festzulegen, in dem der Täter enthalten sein muß. Wenn man z.B. weiß, daß Terroristen in einer Großstadt eine konspirative Wohnung unterhalten, so müssen die Tarn- oder Falschnamen – mit richtigem Namen können sie ja nicht auftreten – in dem Magnetband des Elektrizitätswerkes enthalten sein, das alle barzahlenden Stromkunden verzeichnet. Dieses Magnetband wurde in einem Beispielfall vom Richter beschlagnahmt, beschlagnahmt allerdings nicht alles das, was im Band drin steht, sondern nur dasEndprodukt, das nach einer Fahndung herauskommt. Nun habe ich Herrn Bull ganz konkret folgenden Vorschlag gemacht: Wir haben eine Reihe von Ausschließungskriterien ermittelt. Bitte veranlassen Sie, daß die Behörden, die die Daten jener Ausschließungskriterien verwalten, Löschungen in dem Band vornehmen.

Wenn alle Löschungen vorgenommen sind, drucken wir in Ihrem und des Richters Beisein den nicht gelöschten Restdatenbestand des Bandes aus. Dies werden dann nur noch zwei oder drei Personalien sein, die die Polizei zur Kenntnis bekommt. Darunter werden dann die oder der Täter sein. Was hat Herr Bull getan? Er hat abgelehnt! Beim besten Willen kann ich darin keinen Fortschritt im Datenschutz erblicken, daß aufgrund einer solchen Entscheidung die Polizei gezwungen wird, mit einer ganzen Armee von Polizisten auszuschwärmen, um im näheren Lebensbereich aller barzahlenden Stromkunden herumzuhorchen. Ich hätte von Ihnen als kritischem Bürger gern einmal gehört, ob demgegenüber die Rasterfahndung nicht ein datenschutzrechtlicher Fortschritt ist.

Also mein Einwand istja eben, daß ich eine strenge Begrenzung der Methode vom Zweck her haben will. Die Methode als solche stellt ein Herrschaftsmittel dar, das es noch nie in der Geschichte gegeben hat. Weil jede Teilmenge gesondert ausgrenzbar ist.

Das ist doch nur richtig, wenn Sie die Fahndung mit „positiven“ Kriterien im Auge haben. Die Rasterfahndung bewirkt das Gegenteil von Herrschaft. Dort, wo gelöscht wurde, gibt es auch keine Herrschaft mehr. In eben derselben „Ausschließungsform“ sollte übrigens bei der sog. Videofahndung vorgegangen werden, die in den Schreckensszenarien der Orwell-Literatur eine so große Rolle spielt. Die Digitalisierung von Bildern sollte doch nicht dem ebenso irrsinnigen wie verbrecherischen Zweck dienen, um alle Bürger Bild für Bild in den Speicher zu nehmen. So wie die österreichische und französische Polizei dies schon lange tun, sollte die Digitalisierung eines Täterfotos, d.h. die Übersetzung des Bildes in Zahlenwerte, in den Computer der Videokamera gehängt werden, um alle Bürger passieren zu lassen und dann genau den herauszufinden, der gesucht wird. Wenn z.B. bei der Videoüberwachung des Hauses des gefährdeten Generals Kroesen, auf den Christian Klar dann ein Attentat verübte, das Bild von Klar gespeichert gewesen wäre, wäre sichergestellt worden, daß alle nichtbetroffenen Bürger dem Speicher ferngehalten werden, der Attentäter aber erkannt wird.

Diese Instrumente können schon in gewissen Fällen so wirken, wie Sie sagen. Wenn aber der soziale und rechtliche Untergrund in vielen Teilen ein voll verherrschaftlichter und undurchsichtiger ist, wenn IMK und andere Institutionen, legislativ außer jeder Kontrolle, ihr Wesen oder auch ihr Unwesen treiben, wenn in einem so verherrschaftlichten und undurchsichtigen politischen Untergrund nun zusätzliche politische Interventionsmittel kommen, die im Prinzip positiv sein können, wenn also der Untergrund anders wäre, dann wirkt, solange dieser Untergrund nicht geändert wird, dann wirkt Angst.

Dies kann ich voll verstehen. Nur meine ich, daß wir eine Demokratie haben, die, bei allen Mängeln, doch funktioniert, was Sie offenbar anders sehen.

Aber das ist der Grund, warum man Ihre Person und auch das BKA in solch einer Weise, wie Sie meinen, mißverstanden hat oder auch kritisiert hat, weil natürlich Sie, wenn man so will, ein I- Tüpfelchen auf einem von Ihnen nicht konstruierten I waren. Dann wird es aber typisch, wenn wir nicht technologisch überfordert, durch das I strukturiert und gefährlich.

An den Mißverständnissen messe ich mir ein gewisses Quantum an Verschulden zu, weil ich es nicht vermochte, mich verständlich zu machen. Umgekehrt verstehe ich nicht, – weshalb die öffentlichen Kampagnen sich nicht gegen das I richten oder für dessen richtige Konstruktion, sondern ausschließlich gegen das Tüpfelchen.

Wenn ich noch einmal zuspitze: Sie haben sicher viele Feinde auf sich gezogen, obwohl Sie sehr pointiert bestimmte Möglichkeiten und auch Probleme darin schon formuliert haben, die auch in den achtziger Jahren weiter existieren.

… die eigentlich erst kommen. Wir sind gerade erst in die Pionierzeit der modernen Technik eingetreten. Wie Sie in Ihrem Brief so schön geschrieben haben: Die Informationsfrage wird die Auseinandersetzung des nächsten Jahrzehnts bestimmen. Nur bin ich dagegen, alle Sorgen und Ängste in das Überwachungsszenario des Großen Bruders hineinzuprojizieren. Die großen gesellschaftlichen Gefahren von Herrschaft und weltweiter Vorherrschaft liegen anderswo.

Der Große Bruder kommt aufgrund des Phänomens, das wir gerade geschildert haben, zustande. Wenn Sie nur die Technologie ausbauen, aber den Unterbau, den herrschaftlichen Unterbau unverändert lassen, dann hat man den Eindruck, daß mit Hilfe dieser Technologie dieser Unterbau sich in dem status quo erhält, gerade in seiner Ungleichheit.

Ausgebaut ist ja doch gar nichts. Wer INPOL studiert, könnte über manche Behauptungen nur den Kopf schütteln. Was ausgebaut werden sollte, sollte aber der Veränderung dienen. Die Herrschaftsprozesse, die Sie meinen, bilden sich in der Arbeitswelt heraus. Dort verdrängen Mikroelektronik und Computer in autonom gewordenen Maschinen menschliche Arbeitskraft oder zerlegen Wissen in routinisierbare Kleinstarbeitsschritte, die dann auch die Maschine übernehmen kann, solange, bis die Herrschaft über die menschenlose Produktion nur noch in der Hand von wenigen liegt. An dieser ungeheuren Gefahr, die weltweit in einem neuen Feudalismus mündet, aber schreibt die auf Orwell fixierte Kritik vorbei.

Sie haben ja zum Teil recht. Lassen Sie uns noch einmal zurückgehen zum gegenwärtigen Stand. Sie haben am Anfang unseres Gespräches Ihren Kollegen Lochte erwähnt. Hat denn Lochte im Sinne der Wirklichkeitsbeschreibung nicht recht, wenn er sagt, dann kommen Daten noch und noch herein, wir können mit denen gar nichts anfangen, oder aber sie sind schlicht banal, so .daß wir im Grunde auf diese Art von Technologie sinnvollerweise verzichten können oder sie jedenfalls sehr erheblich einengen könnten, weil sie im Grunde sinnvoll nur verwendbar wären, wenn andere Voraussetzungen mit geschaffen werden, die nicht da sind.

Lochte sprach nur von der sog. Polizeilichen Beobachtung und auch dort nur von der Wirksamkeit dieses Instrumentes in der Terrorismusbekämpfung. über andere Polizeibereiche konnte er nicht sprechen, weil er sie nicht kennt. An der Wirksamkeit der Polizeilichen Beobachtung im Terrorbereich ist in der Tat zu zweifeln. Dies liegt aber nicht an der Technik, sondern daran, daß das terroristische Umfeld mit Beobachtungen rechnet und sich entsprechend konspirativ verhält. Deshalb klingt das Instrument auch aus.

Aber dann schließe ich gleich mal an: Straftaten/Straftäter-Datei, das war ja eigentlich einmal einer Ihrer ganz zentralen Punkte.

Zentraler Punkt aller Kriminalpolizeien. Nach der Dezentralisierung des Kriminalaktennachweises ist die Datei wohl nicht mehr herstellbar. Da jedes Land seine Daten anders strukturiert, andere Rechner und Datenbanksysteme verwendet, werden die zentrifugalen Kräfte stärker und diese werden in absehbarer Zeit auch die letzten Reste polizeilicher Informationseinheit auf dem schmalen Handtuch Bundesrepublik zum Bersten bringen. Damit entfallen auch die Möglichkeiten, die das noch geltende BKA-Gesetz dem BKA als Pflicht auferlegt, die Entwicklung der Kriminalität zu beobachten, zu analysieren und statistisch aufzubereiten. Dennoch wurden nicht die geringsten Verbesserungen im Datenschutz erreicht.

Sie wurden auch der Beobachtung zustimmen, daß im BKA zumindest die sozialwissenschaftliche Forschung kaum mehr stattfindet?

Weil sie, das sei ohne jeden Vorwurf gesagt, wegen des Fehlens von Daten nicht mehr stattfinden kann.

Was nicht einleuchtet, ist, daß Sie sagen, es sei zerstört, was Sie wollten. Die neue Regierung würde sich ja, wenn es ihrer Herrschaftslogik entspricht, und dort, wo es vielleicht spektakuläre Erfolge ermöglichen könnte, gegen solche Überlegungen gar nicht sperren…

Ohne die neue Regierung in Schutz nehmen zu wollen, wüßte ich eigentlich nicht, wie man durch eine Straftäterdatei Herrschaft über das Volk begründen kann. Davon abgesehen, glaube ich nicht, daß eine Bundesregierung, die, wie immer sie zusammengesetzt sein mag, von Verfassung wegen weit weg ist von Polizeihoheit und polizeilichen Problemen, die Sachkunde haben kann, um die komplizierten, bis zur polizeilichen Basis reichenden Probleme zu übersehen. Die Eingriffe von hoher Hand waren bisher stets von dem Bestreben motiviert, Entlastung vom Augenblicksdruck momentan bedrängender Probleme zu erlangen. Zum anderen sind die Länderparlamente so erstarkt, daß die Elektronik, die einmal – bei dezentralisierter Organisation – die Informationseinheit schaffen sollte, die Partikularisierung für immer versteinert hat.

Was ist denn auf der Länderebene Ihrer Meinung nach von dem, was Sie technisch initiiert haben, verwirklicht?

Ich kann nur sehen, daß die Länderentwicklung sehr unterschiedlich ver läuft. Teils werden streng zentralistische, teils abgestufte Systeme errichtet. Eine gemeinsame Linie ist nicht mehr zu erkennen.

Der bürokratische Pluralismus, den wir ja in der Bundesrepublik haben, kann natürlich viel gefährlicher sein…

für Bürger und Polizei gleichermaßen. Dezentralisation bedeutet Einbußen an Kontrollierbarkeit und Transparenz.

In Bezug auf EDV und Kommunikationsstrukturen insgesamt gilt das sicher. Sehen Sie auch im zentralen System der Polizei bessere Ansätze zur Kontrolle?

Es gibt keine anderen. Ich habe ja schon erläutert, daß das INPOL-System der Polizei im herrschaftsfreien Selbstlauf nach kybernetischen Prinzipien funktionieren sollte: als gemeinsames Notizbuch aller Polizeibeamten, jeder schreibt – natürlich nach strengen Regeln – hinein, jeder Berechtigte holt heraus. Keiner ist so klug wie alle – so klug wie alle ist das System. Es gibt keine Herrschaft, keine Instanzen, keine Hierarchie, so wie dies für alle gesellschaftlichen Teilgebiete gelten könnte: enthierarchisiert, fundamentaldemokratisiert, wenn Sie so wollen, der Kontrolle der Datenschützer und den Auskunftsbegehren der Bürger offen.

Also gegen das Auskunftsrecht z.B., da laufe ich bei Ihnen offene Türen ein?

Das habe ich schon vor vielen Jahren geschrieben.

Aber im Polizeiapparat ,da stehen Sie oder da standen Sie immer allein, da waren die Reaktionen auf solche Forderungen…

Ja, soweit die Polizei, die die Effizienzkriterien sehr begrüßte, meinte, ich überschritte mit meiner Forderung nach einer gesellschaftsbezogenen Auswertung der angehäuften Kriminalitätsdaten in spinöser Weise die Grenzen unseres Amtes…

…Erkenntnisprivileg…

…, ja, auch, weil kein anderes Staatsorgan so real konfrontiert ist mit den bedrängenden Problemen: Hausbesetzungen, Startbahn, Friedens-Demos, Terror. Da liegt die Anmaßung auf der Seite derer, die zu uns sagen, wir hätten, bitte schön, nur dreinzuschlagen.

Wenn das Erkenntnisprivileg nicht zum Macht- oder Herrschaftsprivileg werden soll, dann würde das ja in der Tat bedeuten, daß das Erkenntnisprivileg mit einer ganzen Reihe von Kontrollformen, Prozeßformen verbunden wäre, die diese Verherrschaftlichung dieses Privilegs verhinderten. Und das ist gegenwärtig de facto nicht der Fall.

Ich bedaure, das Wort jemals gebraucht zu haben. Denn es assoziiert die Mißverständnisse, die in Ihrem Vorbehalt wiederkehren. Wer meine Schriften gelesen hat, der wird allerdings erkennen, daß damit nur der tatsächliche Zustand der realen Konfrontation beschrieben wird, aus dem ich die Folgerung gezogen wissen wollte, der Politik und der Gesetzgebung die Einsichten nicht vorzuenthalten, die die Polizei in der Konfrontation gewonnen hat.

Nehmen wir noch mal die Zentralisierung von diesem Wissenspool, von dem Sie sagen, alle sollen abrufen können. Das ist ja richtig, daß man ein so zentrales memory haben kann. Wenn dieses nicht zu einem optimalen Ansatz, einer Form von Herrschaft werden soll, wo man dann mit Wissen oder auch Pseudowissen Wirklichkeit schafft und die Leute kognitiv enteignet, was ja jetzt gegenwärtig die Gefahr ist, ist es unabdingbar, daß man etwas zur Institutionalisierung dieser Art von Wissen sagt. Das ist in Ihren Modellvorstellungen nicht mit artikuliert. Und da es nicht mit artikuliert ist, da ist es die Gefahr, daß es sozusagen im Sinne des Herrschaftsapparates funktioniert, gegeben.

Wenn die Polizei die Daten von Straftaten und Straftätern sammelt – und nicht mehr erstrebt das zentrale memory -, so könnte sie Herrschaft ja nur über Straftäter begründen, obwohl selbst dies nur schwer vorstellbar ist, weil die Entscheidungen nicht bei ihr, sondern bei den Staatsanwaltschaften und den Gerichten liegen. Insoweit funktioniert die herkömmliche Gewaltenteilung doch unbestreitbar.

Leider ist mir zu spät aufgegangen, woran ich in Traum nicht dachte, daß man der Polizei die Sammlung von Daten aller Bürger unterstellt. Wie das polizeiliche Informationssystem im Rahmen der bestehenden Kompetenzen zu konstruieren und zu organisieren ist, habe ich, einschließlich aller Rechtsgarantien für den Bürger, bis ins Detail beschrieben. Ich gebe Ihnen zu, daß dies unter dem ständigen Druck bedrängender Probleme nicht stets mit der gebotenen Präzision gelungen ist.