Todesschüsse: Gnade vor Recht gegenüber Polizeibeamten?

von Harald Freytag

Von Zeit zu Zeit wird die These vertreten, Straftaten von Polizeibeamten würden mit einem viel milderen Maßstab gemessen als die anderer Bürger. Kaum ein Polizist werde für seine Verfehlungen – insbesondere, wenn sie in Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten begangen werden – zur Rechenschaft gezogen. Wenn überhaupt Ermittlungen aufgenommen würden, so würden sie meist bald wieder eingestellt. Komme es einmal zu einem Urteil, so sei dem Täter in Uniform Milde sicher. 1) Exemplarisch zeigt sich dies an einem Fall tödlichen polizeilichen Schußwaffeneinsatzes vom Januar 1988, dessen justitielle Erledigung dieser Beitrag analysiert.

Nicht leicht ist freilich, die These der weitgehenden Sanktionsimmunität der Polizei unwiderlegbar zu beweisen. Die Tatsache, daß ein Großteil der Ermittlungen gegen Polizeibeamte nicht zu einer Verurteilung führt, ist zwar ein bemerkenswertes und unverzichtbares Indiz für ihre Richtigkeit 2), aber als Beweis alleine nicht ausreichend. Denn eine solche Tendenz zur Verfahrenseinstellung besteht generell: Nur ein Bruchteil (ca. 25-30%) aller von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Ermittlungsverfahren führt zu einer Anklage und von diesen Fällen endet wiederum nur ein Bruchteil mit einem belastenden Strafurteil. Statistische Belege lassen naturgemäß die Frage unbeantwortet, um welche Fallkonstellationen es sich jeweils handelt, ob wirklich Verfahrenseinstellungen bzw. Freisprüche angebracht waren, oder ob nicht vielmehr Gnade vor Recht ergangen sei. Daher wird an dieser Stelle die These der weitgehenden Sanktionsimmunität einmal nicht durch Zahlen belegt; sondern die vorhandenen statistischen Befunde werden durch die exemplarische Betrachtung eines aktuelleren Einzelfalles, der einer eingehenden juristischen Prüfung unterzogen wird, ergänzt. Durch diesen VErbund induktiver und deduktiver Methode wird die genannte These nicht nur anschaulicher, sondern sie wird vor allem weiter abgesichert.

1. Fallbeschreibung

An einem Mitwoch im Januar 1988 wurde ein 32 Jahre alter Polizeibeamter zusammen mit einem Kollegen und einer Kollegin zur Überwachung eines Parkhauses eingesetzt, weil sich dort Autoeinbrüche gehäuft hatten. Gegen 18.00 Uhr fiel den Beamten ein mit vier Personen besetzter PKW auf, dessen Insassen sie zutreffend der Drogenszene zuordneten. Als das Auto eine halbe Stunde später das Parkhaus verließ, stellte sich ihm der Polizist in den Weg mit den Worten: „Halt – Polizei! Motor aus, aussteigen!“ Einer der Insassen rief daraufhin: „Scheiße, Polizei“ und startete durch. Hierbei wurde die Polizisten mit dem rechten Scheinwerfer gestreift und auf die Seite geschleudert. Sie erlitt Prellungen und ein Schleudersyndrom. Ihr Kollege zog darafhin seine 9 mm-Dienstpistole und feuerte einen schuß in das Auto ab. Die Kugel durchschlug die geschlossene Fahrertür und drang durch die Schulter in das Herz des Fahrers, der kurz darauf seinen Verletzungen erlag.

Gegen den Polizeibeamten, der 12 Jahre Berufserfahrung aufweist, wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft kam zu dem Ergebnis, der Polizist habe den Fahrer durch einen Schuß in den Arm lediglich kampfunfähig machen wollen. Sein Verhalten sei durch Nothilfe gerechtfertigt gewesen. Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft (im August 1988) die Ermittlungen ein und verzichtete auf eine Anklageerhebung.

2. Strafrechtliche Würdigung

Für die strafrechtliche Würdigung dieses Falles soll dahingestellt bleiben, ob es sich wirklich bloß um fahrlässige oder um vorsätzliche Tötung handelt, denn vorsätzliche Tötung ist bekanntlich bereits gegeben, wenn der Täter den Tod des Opfers billigend in Kauf nimmt. Hier spricht indes mehr für eine Vorsatztat, da nicht nachvollziehbar ist, wie der Polizist den etwa in Herzhöhe befindlichen Arm eines Autofahrers treffen wollte, ohne eine Tötung billigend in Kauf zu nehmen. In beiden Varianten ist die Tat jedenfalls nicht gerechtfertigt – weder durch Nothilfe, wie von der Staatsanwaltschaft vorgebracht, noch durch eine andere Erlaubnisnorm.

Nothilfe ist nur gegeben, wenn der Angriff noch gegenwärtig ist, also noch andauert. Handelt es sich – wie hier – um eine Körperverletzung, so ist der Angriff nur solange gegenwärtig, wie weitere Verletzungen zugefügt werden oder unmittelbar zu befürchten sind. 3) Die Polizistin wurde von dem schnell anfahrenden Auto zur Seite geschleudert. Damit war die verletzende Einwirkung abgeschlossen. Weitere Verletzungen, insbesondere ein Überrollen durch das Fahrzeug, sind auszuschließen. Hierzu hätte der PKW wegen seines Wendekreises anhalten und gezielt zurückstoßen müssen. Die Täter wollten aber erkennbar nicht verletzen oder töten, sondern flüchten. Auf eine Nothilfehandlung zugunsten seiner Kollegin kann sich der Polizist mangels Gegenwärtigkeit eines Angriffs also nicht berufen. Aber auch wenn der Angriff zum Zeitpunkt der Verteidigungshandlung noch gegenwärtig gewesen wäre, hätte keine rechtfertigende Nothilfehandlung vorgelegen, da die Schüsse nicht erforderlich waren. Denn es hätten auch Schüsse auf die Reifen des PKW ausgereicht. Diese weit weniger gefährliche Maßnahme wäre sogar noch besser geeignet gewesen, um das Fahrzeug zum Stillstand zu bringen.

Es bleibt zu prüfen, ob eine Strafbarkeit des Polizeibeamten ausscheidet, weil er irrtümlich angenommen haben könnte, rechtmäßig Nothilfe zu leisten (sog. „Putativnothilfe“). So könnte er geglaubt haben, auch bei einem bereits abgeschlossenen Angriff noch Nothilfe leisten zu dürfen oder nicht erforderliche Verteidigungshandlungen treffen zu dürfen. Hier handelt es sich aber nicht um einen Bürger, der zufällig einmal in eine solche Extremsituation geraten ist, sondern um einen ausgebildeten Polizeibeamten im Rang eines Polizeiobermeisters mit 12 Jahren Berufserfahrung. Dieser weiß schon aufgrund seiner Ausbildung, wo die Grenzen der Nothilfe liegen, so daß ein entsprechender Irrtum nicht vorgelegen haben kann. Im übrigen hätte solch ein Irrtum (sog. „Erlaubnisirrtum“ gem. 17 StGB analog) 4) nur dann zur Straflosigkeit geführt, wenn er unvermeidbar gewesen wäre. An das Kriterium der Vermeidbarkeit werden von der Rechtssprechung jedoch sehr strenge Anforderungen gestellt; zu berücksichtigen sind die Fähigkeiten und Kenntnisse des Nothelfers. 5) Wegen der spezifischen Eigenschaften des Polizisten wäre der Irrtum hier zweifellos vermeidbar gewesen – unterstellt man einmal sein Vorliegen.

Straflosigkeit wäre für den Polizisten aber gegeben, wenn er aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken die Grenzen der Notwehr überschritten hätte (sog. Notwehrexzeß gem. 33 StGB). Dies war aber nicht der Fall. Verwirrung und Schrecken scheiden aus, da die drei Beamten das Auto bereits seit längerem beobachtet haben. Da man die Insassen der Drogenszene zurechnete, war mit einem Durchstarten zu rechnen. Auch Furcht scheidet das Motiv für die Überschreitung der Nothilfe aus, da der Angriff bereits beendet war und der PKW sich entfernte. Zudem befand sich der Polizist noch in Begleitung eines unverletzten Kollegen.

Nur der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß auch Vorschriften, welche die Festnahme von Straftätern oder die Gefahrenabwehr regeln (Gesetz über den unmittelbaren Zwang, Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Strafprozeßordnung), hier als Rechtfertigungsgründe ausscheiden, so daß natürlich auch nicht die Voraussetzungen für den immer wieder im Zentrum öffentlicher Diskussion stehenden sog. „finalen Rettungsschuß“ vorlagen. Denn eine Ergreifung oder Unschädlichmachung der unbewaffneten Täter, von denen keine akute Gefahr mehr ausging, wäre – sofern man hier (was freilich kaum vertretbar ist) eine Anwendung von Waffengewalt überhaupt für zulässig erachtet – mit Schüssen auf die Reifen ebenso möglich gewesen, so daß die gezielten Schüsse auf den Arm also weder erforderlich noch angesichts der gesamten Situation verhältnismäßig waren. Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn man die Tat als fahrlässig begangen erachtet, denn es liegt kein Fall des sog. „gerechtfertigten Risikos“ 6) vor: Der Polizist hat nicht alles getan, um das Risiko seines gefährlichen Verhaltens so gering wie möglich zu halten – er hätte nicht auf den Arm zielen dürfen.

Das Verhalten des Polizeibeamten ist – den vorliegenden Informationen über den Tathergang zufolge 7) – somit aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt heraus straflos. Und doch wurde der Polizist nicht nur nicht verurteilt, sondern nicht einmal angeklagt. Daß die Staatsanwaltschaft sich ihrer Sache offensichtlich selbst nicht ganz sicher war, läßt sich daraus ableiten, daß sie eigens eine Pressekonferenz einberufen hat, um der Öffentlichkeit das Ermittlungsergebnis und die sie tragenden Tatsachen zu „verkaufen“. Doch genau die vorgetragenen Fakten ergeben – wie gesehen – bei eingehender strafrechtlicher Würdigung keine Straflosigkeit des Polizisten, sondern Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts.

3. Mögliche Ursachen einer Sanktionsimmunität

Geht man von der These des generell milden Umgangs der Justiz mit Verfehlungen von Polizeibeamten aus – wofür einiges spricht -, so läßt sich über die Gründe und Hintergründe mangels einschlägiger kriminologischer Untersuchungen 8) nur spekulieren. Hier seien mögliche Erklärungsansätze hypothesenartig formuliert und zur Diskussion gestellt. Sie überschneiden sich teilweise und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

– Nahliegend ist, daß eine Trübung des guten Klimas zwischen den Organen der Justiz vermieden werden soll, damit weiterhin eine fruchtbare und reibungslose Kooperation zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafgerichtsbarkeit gewährleistet ist. Staatsanwaltschaft und Strafgericht sind immerhin auf die Polizei als Vollstreckungsorgan angewiesen.

– Teilweise sogar offen ausgesprochen wird die vordergründige Absicht, die Einsatzfreude und Risikobereitschaft der Polizeibeamten – und damit die Funktionstüchtigkeit der Polizei insgesamt – nicht dadurch zu mindern, indem man einzelne Beamte für ihre dienstlichen Verfehlungen zur Rechenschaft zieht.

– Bedeutsam dürfte auch die Furcht sein, Strafverfahren gegen Polizeibeamte könnten das Ansehen der Strafjustiz in der Öffentlichkeit insgesamt mindern. Hartes Durchgreifen hieße also, Fehler der Justiz einzugestehen und somit das eigene Nest zu beschmutzen.

– Denkbar ist auch eine falsch verstandene Fürsorgepflicht gegenüber der Polizei, insbesonsere seitens der Staatsanwaltschaft: Man könne nicht einerseits der Polizei gegenüber weisungsbefugt sein, ihr andererseits aber bei Verfehlungen in den Rücken fallen.

– Vorbereitet sein dürfte auch ein Hang zur bewußten oder unbewußten Bagatellisierung polizeilicher Verfehlungen als „Betriebsunfälle“. Oder es wird die Auffassung vertreten, eine wirklich effektive Polizeiarbeit ließe sich ohne gelegentliche Gesetzesübertretungen gar nicht bewerkstelligen, so daß eine (harte) Sanktionierung der Straftaten einzelner Beamter unangebracht sei.

– Der Staatsanwaltschaft und den Strafgerichten könnten aber z.T. auch einfach die Hände gebunden sein. So könnten Polizeibeamte aufgrund ihrer einschlägigen Rechtskenntnisse den Sachverhalt von vornherein zu ihren Gunsten darstellen (insbesondere z.B. einen Angriff behaupten). Die Beweissicherung geschieht in der Regel durch Kollegen, und wenn Zeugen vorhanden sind, so sind es auch nicht selten Kollegen des Täters. Vielfach liegt es auch in der Hand der Polizei, die Staatsanwaltschaft erst sehr spät zu informieren und so bestimmte weitere Ermittlungen zu vereiteln.

– Möglich ist ferner, daß Staatsanwaltschaft und Strafgerichte den eigentlichen Verantwortlichen nicht im unmittelbaren Täter sehen, sondern im Führungsstab der Polizei, wenn von dieser Seite aus z.B. Aggressionen geschürt worden sind oder andere, weniger gefährliche Strategien möglich gewesen wären, bei denen es nicht so leicht zu Fehlern und Übergriffen der einzelnen Polizeibeamten hätte kommen können. Dies dürfte insbesondere bei Straftaten durch Polizeibeamte bei Demonstrationen und ähnlichen Einsätzen der Fall sein.

Betont sei abschließend, daß es hier nicht darum geht und gehen kann, Polizeibeamte, die immerhin nicht selten ihr eigenes Leben für andere riskieren, um jeden Preis und möglichst hoch zu bestrafen. Sie dürfen aber keine strafrechtliche Privilegierung im Sinne einer Sanktionsimmunität

1) So z.B. Buchert, Zum polizeilichen Schußwaffengebrauch, Lübeck 1975, S. 27; Gössner/ Herzog, Der Apparat – Ermittlungen in Sachen Polizei, Köln 1983, S. 203 ff; Kühne, Juristische Strategien bei der Kontrolle rechtswidrigen Verhaltens der Polizei, in: Kriminologische Forschung in den 80er Jahren – Projektberichte, hg. von Kaiser u.a., Freiburg 1988, S. 193 – 200; Walter/Werkentin, Die justitielle Kontrolle polizeilicher Todesschüsse, Bürgerrechte und Polizei (CILIP), Heft 26 (1/1987), S. 5 – 36.
2) Nachweise jüngst bei Walter/Werkentin (o.Fn. 1), S. 5 ff.
3) Vgl. Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch, 44. Auflage, München 1988, Rdn. 10; Lenckner in Schönke/Schröder, 23. Aufl., München 1988, 32, Rdn. 15; BGH NJW 1979, S. 2053.
4) Cramer in Schönke/Schröder (o.Fn. 3), 17, Rdn. 10; BGH JZ 1978, S. 762.
5) Dreher/Tröndle (o. Fn. 3), 17, Rdn. 7.
6) Zu dieser Rechtsfigur z.B. Lenckner in Schönke/Schröder (o. Fn.3), Vorbem. zu 32 ff., Rdn. 100 ff.
7) Ott in Frankfurter Rundschau v. 20.8.1988, S. 9.
8) Vgl. aber die Ansätze z.B. bei Kühne (o.Fn. 1), S. 197 f.; Walter/Werkentin (o.Fn.1), S. 22 ff.