Polizeilicher Staatsschutz und Strafverfahren – Erfahrungen aus 20 Jahren Strafverteidigung

von Hartmut Wächtler

Während des Studiums kamen Staatsschutzdelikte nicht vor. Man erfuhr zwar am Rande, daß es außer den Diebstahls-, Raub- und Unterschlagungsdelikten, mit denen man sich hauptsächlich herumschlagen mußte, auch noch Vorschriften im Strafgesetzbuch gab, die so abenteuerliche Überschriften wie „Landfriedensbruch“, „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ oder „Hochverrat“ führten, darüber wurde jedoch in den Vorlesungen nicht gesprochen und so hielt man diese Paragraphen für Restbestände des Mittelalters. Die große Welle der Kommunistenprozesse aus den 50er und frühren 60er Jahren war verdrängt und vergessen, die Professoren waren froh, daß über die Vorschriften des politischen Strafrechts niemand redete; sie selbst hatten in der Regel allen Grund das Thema auszuklammern.

Die Situation änderte sich schlagartig mit den ersten größeren Demonstrationen der Studentenrevolte 1966/67. Als Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 von einem Berliner Polizisten erschossen wurde, gab es schon erste Erfahrungen mit dem polizeilichen Staatsschutz. Die Osterunruhen 1968 hatten in München dazu geführt, daß eine Rechtshilfe der APO aufgebaut wurde, indem man begann, die einschlägigen Fälle systematisch zu sammeln und den Betroffenen Rechtsschutz zu vermitteln. Die juristischen Kenntnisse mußte man sich im wesentlichen selbst aneignen. Man lernte, daß im 1.-5. und im 7. Abschnitt des Strafgesetzbuches (StGB) die einschlägigen materiellen Vorschriften versammelt sind und daß man unterscheidet zwischen dem Staatsschutz nach außen (z.B. Hochverrat o.ä.) und dem Staatsschutz nach innen. Dieser innere Staatsschutz bot ein vielfältiges Bild. Nicht immer sah man den Paragraphen an, ob sie ‚politisch‘ waren oder nicht. Die Vorschriften der 74a und 120 VG, die die Zuständigkeit der Staats-schutzkammern bei den Landgerichten und der Staatsschutzsenate bei den Oberlandesgerichten regeln, zählen die Vorschriften, die materielles Staats-schutzrecht enthalten können, nicht abschließend auf.

Die großen Demonstrationen Ende der 60er Jahre schließlich führten zu einer Flut von Prozessen wegen Landfriedensbruch ( 125 StGB), Widerstand gegen die Staatsgewalt ( 113 StGB), Hausfriedensbruch ( 123 StGB), Sachbeschädigung ( 303 StGB) und Nötigung ( 240 StGB), die allesamt keine klassischen Staatsschutznormen sind und infolgedessen auch nicht von den besonderen Staatsschutzgerichten beim Landgericht und Oberlandesgericht abgehandelt wurden. Je nach Bedeutung aus Sicht der Staatsanwaltschaft wurden solche Fälle beim Amtsgericht oder Landgericht vor den buchstabenmäßig zuständigen Spruchkörpern angeklagt. Dies führte dazu, daß Strafrichter, die sich zuvor nicht besonders für das Staatsschutzrecht interessiert hatten, auf die nun beginnenden, von allen Seiten politisch geführten Prozesse nicht vorbereitet waren. Mehrheitlich reagierten diese Richter, die meist ihre juristische Ausbildung in den 40er und 50er Jahren erhalten hatten, hilflos-autoritär auf den neuen Typ von Angeklagten, der sich aktiv und z.T. unter Verletzung der hergebrachten Spielregeln zur Wehr setzte.

Von den akademischen Lehrern war keinerlei Unterstützung zu erwarten. Ungebrochen in der Tradition des Reichsgerichts stehend, referierte etwa der damalige Strafrechtspapst der Münchner Juristischen Fakultät, Reinhard Maurach, zum Thema Hausfriedensbruch u.ä. die herrschende Meinung dergestalt, daß er von einer an sich gefährlichen Masse Mensch ausging, die mit polizeilichen Mitteln im Zaum gehalten werden müsse. Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit kamen in solchen Theorien selbstverständlich nicht vor.

Die erste Phase

In dieser Zeit begann auch der Aufbau des modernen polizeilichen Staats-schutzes, wie man ihn heute kennt. Auf die ersten Eruptionen der Studenten-bewegung hatte die Polizei noch hilflos reagiert. Sie war noch traditionell militärisch organisiert und unfähig, flexibel auf die neuen Lagen zu reagie-ren. Die (zivile) politische Polizei war noch an ihrem hierarchisch organi-sierten Feind der 50er und frühen 60er Jahre, den Kommunisten, orientiert. Mit den antiautoritären Studentengruppen konnte sie zunächst nichts anfangen. Das änderte sich jedoch schnell. Frühzeitig wurden in den Strafakten Meldekarten entdeckt, die nach dem Lochkartenprinzip – einer Vorform der EDV – aufgebaut waren. Jedes Delikt, das von der Polizei als „politisch motiviert“ angesehen wurde, wurde so mindestens regional gesammelt und der Betroffene registriert. Auf diese Weise entstanden die ersten brauchbaren Karteien der ‚politischen Polizei‘, die eine zunehmende Bedeutung erhalten sollten. Da sich die hierarchisch gegliederte Polizei eine politische Bewegung nur als ebenfalls hierarchisch gegliedert vorstellen konnte, entstand die Theorie von den Rädelsführern, zu denen dann einzelne Angehörige der Studentenbewegung erklärt wurden. Gegen sie fanden dann die von der Staatsschutzabteilung der Polizei vorbereiteten und von der entsprechenden Abteilung der Staatsanwaltschaft vor besonderen herausgehobenen Spruchkörpern (z.B. erweiteren Schöffengerichten) angeklagten sog. Rädelsführerprozesse statt, deren wesentliche Funktion in der Einschüchterung des politischen Umfelds bestand. Der jeweilige Anlaß war nahezu beliebig. In München beispielsweise wurde Alois Aschenbrenner zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt, weil er mit anderen die Straße vor dem amerikanischen Konsulat blockiert hatte (Landfriedensbruch) und in einer ausgeliehenen Polizeiuniform in eine Vorlesung eingedrungen war, um gegen die ständige Bespitzelung der Studenten innerhalb der Universität zu protestieren (Hausfriedensbruch). Das gleiche widerfuhr Reinhard Wetter wegen einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg, bei dem dubiose Zeugen be-haupteten, er habe eine Scheibe eingeworfen, und dem damaligen ASTA-Vorsitzenden Rolf Pohle, der 15 Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung erhielt, weil er angeblich wenige Sekunden auf einem Polizeifilm zu sehen war, als er eine Aschentonne auf die Straße rollte, um während einer Anti-Springer-Demonstration eine Barrikade zu bauen (schwerer Landfriedens-bruch). Schauplätze dieser Prozesse waren jeweils die ordentlichen Amts- und Land-gerichte, nicht etwa besondere Staatsschutzkammern. Allerdings hatte die Staatsschutzabteilung der Staatsanwaltschaft die Anklage erhoben. Solche Prozesse wurden auch von der Seite der Strafverfolgungsbehörden als politische Prozesse begriffen und mit allgemeiner, nämlich auf Abschreckung und Einschüchterung zielender Wirkung geführt. Dieser politischen Stoß-richtung ordneten sich die agierenden Richter durchwegs unter.

Der Zerfall der Studentenrevolte

Nach dem Zerfall der Studentenrevolte diversifizierte sich auch der polizeili-che Staatsschutz. Die neu entstandene SED-nahe DKP und die Organisationen in ihrem politischem Umfeld waren von Anbeginn an Objekt des polizeilichen Staatsschutzes. Sie wurden observiert und so weit wie möglich in polizeilichen und geheimdienstlichen Karteien erfaßt – notwendige Vorarbeit für die ab 1972 systematisch einsetzenden Berufsverbote. Strafrechtlich boten die Mitglieder dieser Organisationen, die im allgemeinen streng legalistisch arbeiteten, kaum Angriffsflächen. Ein weiteres Spaltprodukt der Studentenbewegung waren die zahlreichen K-Gruppen sowie jene linksradikalen Gruppierungen, die einen revolutionären Prozeß anstrebten, ohne sich in Richtung einer Partei entwickeln zu wollen. In den Prozessen trat auf Seiten der Angeklagten eine große Riege von VerteidigerInnen auf, die aus demselben politischen Umkreis wie ihre MandantInnen stammten und oft unter großen persönlichen Opfern für geringes Entgelt tausende von politischen Prozessen bis zur körperlichen Erschöpfung führten. Die strafrechtlichen Vorwürfe, um die es ging, waren z.T. dieselben wie zuvor anläßlich der Demonstrationen der APO-Zeit, doch es wurden auch neue strafrechtliche Bestimmungen ausgegraben, die sich in erster Linie gegen politische Meinungsäußerungen richteten. Dabei kam es zu grotesken Vorgängen. Hunderte von Prozessen wurden allein wegen des Wortes „Polizeiterror“ im Zusammenhang mit dem Tode Günther Routhiers angestrengt, der als Besucher eines Duisburger Arbeitsgerichtsprozesses 1974, bei dem es um die politisch motivierte Kündigung eines revolutionären Aktivisten ging, im Verlauf einer gewaltsamen polizeilichen Räumung des Gerichtssaales zu Tode gekommen war. Vor Gericht standen presserechtlich Verantwortliche, Drucker, Verleger, Flug-blattverteiler und Broschürenverkäufer, in deren Texten das inkriminierte Wort vorkam. Juristisches Vehikel dieser größten polizeilichen und straf-rechtlichen Verfolgung politischer Meinungsäußerung seit der Kom-munistenverfolgung der frühen 50er und 60er Jahre, war der 90 a StGB (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole), der bis dahin ein reines Schattendasein gefristet hatte. Daß die Justiz von Flensburg bis Passau wie auf Kommando diesen Paragraphen entdeckte und gezielt verwendete, um die unerwünschte Darstellung eines wirklich stattgefundenen Todesfalles aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen, ist ein beredtes Beispiel dafür, was politische Justiz leisten kann.

129/ 129a StGB

Noch keine Rolle spielte der 129 StGB (Bildung einer kriminellen Vereini-gung). In den 50er Jahren waren nach dem Verbot der alten KPD zunächst die Anhänger und Mitglieder der Umfeld-Organisationen nach dieser Vorschrift verfolgt worden, die auch schon in der Weimarer Zeit und im Kaiserreich eine unselige Rolle bei der Verfolgung der politischen Opposition gespielt hatte. Nachdem auf der politischen Ebene entschieden worden war, die DKP als Partei zuzulassen und sie nicht als Nachfolge-Organisation der verbotenen KPD zu behandeln, flackerte das Problem noch einmal kurz auf, als die K-Gruppen sich ihrerseits zu neuen (maoistischen) KPDen zu formieren begannen. Frühzeitig jedoch stellte der Bundesgerichtshof klar, daß es sich hier um Parteien handelte, die nicht unter das KPD-Verbot von 1956 fielen. Damit war der Weg abgeschnitten, diese Parteien und ihre Umfeld-Organisationen mit der organisationsrechtlichen Waffe des 129 StGB zu verfolgen. Umso mehr wurde dieses Mittel auf dem Gebiet des sog. Terrorismus und seines politischen Umfeldes strapaziert. Unter 129 StGB fiel die „Baader-Meinhof-Bande“ (später RAF), ebenso wie der „2. Juni“ und die „Revolutio-nären Zellen“. Darüber hinaus wurde versucht, die Vorschrift auch auf Haus-besetzerszenen, Gefangenenhilfsorganisationen und kleine, oft nur aus weni-gen Personen bestehende autonom operierende militante Gruppen auszudeh-nen. Die Vorschrift des 129 StGB und seines Nachfolgers von 1976, dem 129 a StGB (Terroristische Vereinigung) erwies sich dabei als wahres ‚Se-sam-öffne-Dich‘ für den polizeilichen Staatsschutz. Ist ein Ermittlungsverfah-ren mit dem Vorwurf des Verstoßes gegen 129 /129a StGB eröffnet, kön-nen richterliche Beschlüsse über das Abhören von Telefonen, das Öffnen von Briefen und die Durchsuchung von Wohnungen erwirkt werden, die auf andere Weise nicht oder nur schwer zu erreichen wären. Unter dieser rechtlichen Flagge segelten auch die ersten massenhaften Datenabgleiche, Rasterfahndungen und Straßenkontrollen in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Schwammigkeit seiner Tatbestände ermöglichte es den Staatsschutzbehörden zudem auch, das jeweilige politische und soziale Umfeld der Beschuldigten in einer vorher nicht gekannten Tiefe und Systematik auszuleuchten und datenmäßig zu erfassen. Die dabei oft erreichte diskriminierende und isolierende Wirkung war erwünscht. Ob am Ende des Verfahrens wirklich noch eine Anklage und eine Verurteilung folgte, war demgegenüber oft unerheblich. Aus Statistiken geht hervor, daß es lediglich in 5% der Ermittlungsverfahren nach 129 / 129a StGB zu Anklagen und öffentlichen Hauptverhandlungen gekommen ist – der Rest wurde ergebnislos eingestellt.1

Kam es jedoch zu Prozessen nach den Vorschriften der 129 / 129a StGB, wirkten die auslegungsfähigen Tatbestände häufig genug als Beweisersatz und Krücken in einer unzulänglichen Beweiskette. Fehlende Tatsachen wurden durch vermeintliche Erkenntnisse oder Mutmaßungen über die politische Gesinnung der Beschuldigten ersetzt. Diese Tendenz zeigte sich schon bei den ersten RAF-Prozessen Anfang der 70er Jahre. Diese Verfahren fanden noch vor den Staatsschutzkammern der Landgerichte statt. Sie waren Vorübungen für das, was sich ab 1975 vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart in der Prozeßfestung Stammheim abspielen sollte. Unter der Wirkung des Traumas dieser Prozesse stehen wir noch heute. Daß es möglich war, mit den Stimmen aller im Parlament damals vertretenen Parteien Maßnahme-Gesetze zu erlassen, die die Verteidigung zerschlugen, die Angeklagten wesentlicher Verteidigungsmittel beraubten und es zuließen, monatelang mit durch die Isolationshaft prozeßunfähig gemachten Angeklagten zu verhandeln, stellt einen nachhaltigen Einschnitt in der westdeutschen Rechtsgeschichte dar, dessen Folgen nach wie vor anhalten.

Hartmut Wächtler ist Rechtsanwalt in München.
1 Gössner, Das Anti-Terror-System (Terroristen und Richter, Bd. 2), Hamburg (VSA) 1991, S. 51