Schweizer Staatsschutz 1888 – 1992 – schnelle Fortschritte zur High-Tech-Überwachung

von Beat Leuthardt

Nirgendwo sonst im westlichen Europa konnte ein Überwachungsstaat so umfassend enttarnt werden wie in der Schweiz. Doch die anfängliche Empörung der BürgerInnen ist längst wieder der Resignation gewichen. Und die Staatsschützer sind nach einem vorübergehenden Tief jetzt besser in Form denn je. Der Rechtsabbau im Schnüffelstaat Schweiz geht weiter, wird nunmehr aber rechtlich „sauber“ geregelt und per ‚High-Tech‘ perfektioniert.

Die Schweizer Bundesanwaltschaft hatte auf dem Begleitschutz für den iraki-schen Kurdenführer Massoud Barzani bestanden. Zwei Berner Polizisten in Zivil waren stets dabei, wenn Barzani die Schweizer Diplomatie, ausgewählte JournalistInnen oder Vertreter des Roten Kreuzes traf. Das war Ende August 1989, rund eineinhalb Jahre bevor die USA den Kurdenführer während des Golfkrieges zum Hoffnungsträger gegen den irakischen Gewaltherrscher Saddam Hussein erklärten. Drei Monate nach Barzanis Informationsreise in die Schweiz flog der „Fichenskandal“ auf: Über 900.000 Personen waren als potentielle Staatsfeinde betrachtet und bei der politischen Polizei („Bundes-polizei“, eine Abteilung der Bundesanwaltschaft) registriert worden. Rund zwei Drittel der heimlich Überwachten waren NichtschweizerInnen. In Karteikarten (schweizerisch: Fichen) und Dossiers wurden umfangreiche Angaben zu Person, Beruf und Freundeskreis, zu politischer Gesinnung und Betätigung fest-gehalten. Unter den Registrierten befand sich auch Barzani. Seine seinerzeitige ‚Leibgarde‘ hatte ihn nicht nur geschützt, sondern zu-gleich im Auftrag der Bundespolizei (Bupo) ausgeforscht. Registriert waren auch Barzanis Kontaktpersonen, sowohl die Leute der ‚Asylkoordination Schweiz‘, die ihn eingeladen hatten, als auch Journalisten von Rundfunk und Fernsehen. Einzig seine Gesprächspartner vom Roten Kreuz und dem Bund blieben ohne Fiche.

Die aufgeflogenen Dateien sind zahlreich: Neben den Hauptdateien fanden sich im Eidgenössischen Justiz- und Polizei-Departement (EJPD) zwei Fotodateien, sowie solche über Telefonabhörungen, schwarze Listen über „vertrauenswürdige und verdächtige Beamte“, eine Verräter-Kartei (die STASI läßt grüßen), je eine Separatisten-, Extremisten-, und Älplerkartei sowie eine Kartei der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes.

Registriert wurden auch Unterschriftensammlungen und andere legale politische Betätigungen. Verdächtig waren in erster Linie jene BürgerInnen, welche von den Beamten in Bund und Kantonen als Alt-Kommunisten, Linke, Grüne und Bewegte betrachtet wurden, während man für rechtsradikale und rassistische Kreise (wie etwa die der Nationalen Koordination angehörige Patriotische Front) eher ein gewisses Verständnis zeigte, NichtschweizerInnen schienen grundsätzlich verdächtig. Unter den größten Leidtragenden sind die asylsuchenden Flüchtlinge, deren Akten (Stand 1990: ca. 100.000) systematisch an die Bundesanwaltschaft auszuhändigen sind.

Das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) kannte zudem u.a. Dateien „über Personen, welche der Terroristenszene nahestehen“, und über visums-pflichtige Reisen von MitarbeiterInnen.

Mit dem Rücken zur Wand

Für die Bundesanwaltschaft fiel der Fall Barzani just in eine Zeit, da sie von einer parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) ohnehin schon kritische Vorhalte wegen ausufernder staatsschützerischer Tätigkeiten erhielt. Die PUK, mit bisher nie dagewesenen Sondervollmachten ausgestattet, hatte quasi die Rollen getauscht und sich im Haus der Schnüffler relativ frei bewegt. Ihre intensiven Befragungen führten drei Monate später zur größten Staatsschutzaffäre der Schweiz, die auch über die Landesgrenze hinaus Be-achtung fand. Der Eklat war gewaltig. Die lapidare Feststellung im PUK-Be-richt vom 22. November 1989: „Die zentrale Registratur der politischen Po-lizei enthält rund 900.000 Karten“, hatte im Nu breite Betroffenheit ausge-löst. Nie zuvor seit ihren Anfängen im Jahre 1888 war der Druck auf die Bundesanwaltschaft so groß. Arnold Koller, der Vorsteher des EJPD, ließ die Spitzen von Bundesanwaltschaft und Bundespolizei fallen und verkündetete, den Bupo-Beamten den Zugang zu den Staatsschutzarchiven gesperrt zu haben.

Der Unmut im Volk wuchs jedoch – nicht zuletzt dank Medienrecherchen, die laufend neue Karteien und Dateien aufdeckten – im Frühjahr 1990 weiter an. Enttarnt wurden im Bereich des EMD eine „Gladio“-artige Geheimarmee („P 26“, „Kaderorganisation für den Widerstand im feindbesetzten Gebiet“) sowie ein „außerordentlicher Nachrichtendienst („P 27“), die neben der „Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr“ (UNA) existiert hatten. Die Abschaffung der Politischen Polizei schien plötzlich in den Bereich des Möglichen zu rücken. Jede zwanzigste Person, gemessen an der Wohnbevölkerung der Schweiz (rund 350.000 von 6,9 Mio.), schrieb im Lauf des Jahres nach Bern und verlangte die Fichen-Kopien, und über 100.000 Schweizer BürgerInnen unterzeichneten bisher die Volksinitiative zur Abschaffung der politischen Polizei, die im Frühjahr 1990 vom ‚Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat‘ initiiert worden war. Das Komitee verlangte umfassendes Einsichtsrecht in die Staatsschutzakten. Offen und politisch noch umstritten ist, ob auch in die zugehörigen Dossiers Einblick gewährt wird. Das Ausmaß der von einem Sonderbeauftragten verfügten Einschwärzungen – dem offiziellen Spitzel- und Beamtenschutz – konnte in vielen Fällen auf Empfehlung eines ebenfalls eingesetzten Ombudsmannes nachträglich gelockert werden. Auch das EMD hatte zeitweise einen Sonderbeauftragten einsetzen müssen und einige hundert Gesuche um Akteneinsicht in ähnlichem Umfang wie im ‚zivi-len‘ Bereich behandelt. In der dortigen ‚Stammkartei‘ befinden sich knapp 8.000 Karteikarten.
Das ‚Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat‘ hat, nicht zuletzt dank seiner vermittelnden Rolle zwischen empörten BürgerInnen und interessierten Poli-tikerInnen, den Frust zahlreicher Fichenopfer in konstruktive Bahnen gelenkt und dadurch sehr viele Erkenntnisse über den Schweizer Staatsschutz gewinnen können.

„Bloße Vermutungen“

Fest steht heute, daß die tägliche Arbeit der 94 Bundespolizisten unsystema-tisch, dilettantisch und diffus gewesen ist. Die Beamten haben, so der PUK-Bericht, „teils belanglose Tatsachen“ und „teils auch bloße Vermutungen ohne entsprechende Überprüfung des Wahrheitsgehalts“ archiviert, die Meldungen „nicht systematisch auf ihre Aktualität hin überprüft“ und auch „Informationen privater oder anonymer Herkunft gesammelt (…), ohne daß sie verifiziert werden“. Unstrukturiertes Vorgehen und unklare Bedrohungs-bilder, aber auch die Personalaufstockung von 66 (1976) auf 94 (1989) Stel-len vervielfachten die Willkür. Eine eigene Wahrnehmung hatte die Bupo bei ihrer Tätigkeit offenbar nicht. Ihre Feindbilder waren und sind aus Deutschland entlehnt: beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden, dem Bundesamt für Verfas-sungsschutz in Köln und der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Dort entworfene „Bedrohungsbilder“ schlugen auf die Schweizer Fichierer durch. (So haben bspw. palästinensische und kurdische Flüchtlinge trotz positiver Vorentscheidungen des Bundesamtes für Flüchtlinge kein Asylrecht erhalten, weil die Bundesanwaltschaft gegenüber SympathisantInnen der PLO und der kurdischen Arbeiterpartei PKK ihr von Deutschland abgeleitetes Veto eingelegt hat.) Derart fremdbestimmt, verloren die Schweizer Staatsschützer sofort ihren Halt, als sie von allen Seiten Hiebe einstecken mußten und ihre Arbeit von Grund auf angezweifelt wurde. Persönlichkeitskrisen und Depressionen waren typische Folgen, ein kantonaler Beamter nahm sich gar das Leben. In der Sache aber verschlossen sie sich jeglicher Kritik.

Bereits Anfang 1991 hatte die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (der Großen Kammer im Parlament) festgestellt, der Bundesrat habe aus der Staatsschutzaffäre nichts gelernt. Zur selben Zeit hatte der Bundesrat seine früheren Versprechen über eng ausgelegten Staatsschutz wegen des US-Golfkrieges gebrochen und per Weisung jede Person mit arabischem Aussehen für potentiell staatsgefährlich erklärt. Ähnlich, wenn auch etwas weniger weitgehend, lautet eine Weisung vom Juni 1991 zu den Gefahren für die innere Sicherheit, die von (ex-)jugoslawischen EmigrantInnen in der Schweiz ausgehen könnte. Es verwundert daher nicht, daß 1991 bekannt wurde, daß die Bupo wieder täglich bis zu 150mal verbotenen Zugriff auf die alten Archive nimmt und bereits rund 20.000 neue Karteikarten über angeblich verdächtige BürgerInnen angelegt hatte.

Phönix aus der Asche

Die Schweizer Bundesanwaltschaft wird mit jedem Fehltritt nur noch mächtiger. Dieser Grundsatz gilt, seit die demokratische Schweiz 1889 eine Politische Polizei auf die Beine stellte. „Vorlagen, die eine weitere Verstärkung der Gesinnungspolizei beinhalteten, wurden vom Volk zwar regelmäßig abgelehnt, doch die Politische Polizei war jeder Kritik oder Kontrolle entzogen und arbeitete unbehelligt weiter“, schreibt der Historiker Jean-Daniel Blanc.1 Der Beweis: Wie nach jedem früheren Überwachungsskandal wird auch diesmal aufgestockt statt abgebaut.

Nachdem zuvor bereits eine erste Staatsschutzverordnung wegen mangelnder Akzeptanz zurückgezogen werden mußte, wird derzeit an einem Staats-schutzgesetz gearbeitet, dessen Entwurf wiederum jede Form geheimer In-formationsbeschaffung erlaubt. Plötzlich ist auch ein neuer Nachrichtendienst im Gespräch, und in den Katakomben Berns werden zwei Supercomputer ein-gerichtet: je einer für den Staatsschutz und die Drogenfahndung. Beide Überwachungscomputer könnten schon im kommenden Jahr Karteikarten und Dossiers ersetzen und zu einer der „modernsten“ Anlagen Europas werden. Die Vernetzung mit der parallel dazu in Straßburg aufgebauten Zentraleinheit des ‚Schengen Informationssystems‘ (SIS) sowie mit dem geplanten ‚Europäischen Informationssystem‘ (EIS) ist Technikern zufolge bloß ein Kinderspiel.

Das Andocken an Schengen ist seit zwei Jahren das erklärte Ziel des zustän-digen Bundesrates Koller. Kein Wunder: Der umstrittene Art. 99 des Schengen-Zusatzübereinkommens von 1990 erlaubt es der Politischen Polizei, Überwachungen ungeliebter BürgerInnen auch heimlich vorzunehmen. Die Inhalte sämtlicher rund 900.000 Karteikarten samt zugehöriger Akten würden gemäß der von Schengen gesetzten Norm wieder legal. Nicht umsonst kursierte vor zwei Jahren, noch zu den Zeiten des Fichenskandals, im angeschlagenen Justiz- und Polizeidepartement der Satz: „Schengen gibt der Schweizer Bundespolizei neuen Mut.“ Als entscheidender Anstoß, um die innenpolitische Kritik im Keim zu erstikken, ist ‚Schengen‘ allerdings kaum mehr notwendig. Gegen die einst so heftige Kritik am Schnüffelstaat genügt bereits wieder der Taschenspielertrick vom „gewandelten Bedrohungsbild“: Ein Staatsschutzgesetz wird jetzt nicht mehr gegen den Feind im Osten, sondern „zur Verhinderung des Terrorismus, des verbotenen Nachrichtendien-stes, des gewalttätigen Extremismus und gewisser Formen des organisierten Verbrechens“ gebraucht. Ein im Frühjahr 1992 vorgelegter „Extremismus-bericht“ liefert dazu die nötigen Stichworte. Ein neuer „strategischer Aus-landsnachrichtendienst“ soll alle „der Bevölkerung und dem Staat aus dem Ausland drohenden Gefahren“, also auch zivile Bedrohungsformen“, aufspü-ren: neben militärischen auch wirt-schaftliche, ökologische, technische und demographische Risiken, sprich: Schnüffeln gegen Flüchtlinge. Ein „europäisches Informationssystem über Fingerabdrücke von Asylbewerbern“ soll der Schweiz zudem einen Prestigeauftrag verschaffen. Auf umgerechnet rund 20 Mio. DM sind die Investitionen veranschlagt, auf rund 17,8 Mio. DM die jährlichen Betriebskosten. Die Schweiz wagt damit einen Wettlauf mit „Eurodac“, einem EG-Konkurrenzprodukt der Innen- und Justiz-minister.

Beat Leuthardt ist freier Journalist und Mitarbeiter im Schweizer ‚Presse-büro Flüchtlingsinformation‘

Literatur:

Bericht der PUK I (Parlamentarische Untersuchungskommission über Vorkommnisse im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement) v. 22.11.1989 samt Ergänzungsbericht v. 29.5.1990
Bericht der PUK II (Parlamentarische Untersuchungskommission zur besonderen Klärung von Vorkommnissen von großer Tragweite im Eidgenössischen Militärdepartement) v. 17.11.1990
Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat, Schnüffelstaat Schweiz. Hundert Jahre sind genug, Zürich (Limmat) 1990
Großer Bruder Schweiz, von Urs Paul Engeler, Zürich (Weltwoche) 1990
Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat, Das Europa der Überwacher. Dossier EG 91-93, Bern (Eigenverlag) 1992

1 Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat, Schnüffelstaat Schweiz – Hundert Jahre sind genug, Zürich (Limmat) 1990