Polizeilicher Staatsschutz in Konkurrenz zum Verfassungsschutz – Gedanken zur Aufweichung von Zuständigkeiten

von Lothar Jachmann

1928 plädierte der Berliner Polizeivizepräsident Bernhard Weiß für eine enge Verbindung zwischen politischem Nachrichtendienst und der Polizei, da ein getrennt existierender Nachrichtendienst ansonsten leicht falschen Informationen seiner „Spitzel“ (heute nennen wir sie V-Leute) aufsitzen könne. Auf welche Erfahrungen er diese Auffassung auch stützen mochte, dieser Grundsatz gilt, mutatis mutandis, auch heute noch für die Organisationsstrukturen des polizeilichen Staatsschutzes in nahezu allen demokratisch verfaßten Staaten. Sowohl aus Zweckmäßigkeitserwägungen wie auch aus Effektivitätsgründen ist diese Lösung generell gewählt worden, ohne auf rechtsstaatliche Bedenken zu stoßen.
Für totalitäre Systeme, die jede Gewaltenteilung, -trennung und -hemmung verachten, ist eine Zusammenfassung von Geheimdienst und Polizei ohnehin obligatorisch.

Die verheerende zwölfjährige Terrorherrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland ist nicht zuletzt auch dem systemstabilisierenden Repressionsap-parat Ihrer „Geheimen Staatspolizei “ (Gestapo) anzulasten, der mit nachrich-tendienstlichen Mitteln und – das darf natürlich nicht unterschlagen werden – die mit Foltermethoden gewonnenen Erkenntnisse schrankenlos in exekutive Vollzugshandlungen umsetzen konnte. Ohne damit eine Gleichsetzung der beiden zentralistischen Zwangssysteme, die wir auf deutschem Territorium in jüngster Zeit erlebt haben, vornehmen zu wollen, wiesen die mehr als 40 Jahre Einparteienherrschaft in der ehemaligen DDR doch zumindest in den Strukturen ihres Sicherheitsapparates ebenfalls diese Einförmigkeit auf.

Die in der Bundesrepublik Deutschland vorgenommene Trennung zwischen Polizeibehörden und nachrichtendienstlichen Institutionen zum Schutz des Kernbereichs der von unserem Grundgesetz statuierten verfassungsmäßigen Ordnung ist in der Bundesrepublik freilich keine originäre Festlegung des Parlamentarischen Rates gewesen, sondern kann getrost als Oktroi der We-stalliierten bezeichnet werden, die in dem sog. Polizeibrief an den Verfas-sungsgesetzgeber vom 14.04.49 dieses Trennungsgebot bestimmten. Es besitzt damit, ohne im materiellen Sinne Verfassungsrecht zu sein, einen ver-fassungsrechtlichen Charakter und wurde in allen Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder seit 1950 festgeschrieben. Diese „informationelle Gewaltenteilung“ im Staatsschutzbereich erforderte so zwingend einen Verzicht des Verfassungsschutzes auf polizeiliche Befugnisse und – die andere Seite der Medaille – ein Verbot der Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel durch den polizeilichen Staatsschutz. Das fundamentale Prinzip jeder rechtsstaatlichen Organisation von Staatsgewalt ist die Gliederung in eine feste präzise Zuständigkeitsordnung. Dies ist ein zwar unscheinbares, aber zugleich bedeutsames Merkmal des Rechtsstaates. Dies gilt besonders für das Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei.

Anfang ohne Probleme

In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Gründung der Bundesrepublik ge-staltete sich das Verhältnis zwischen Verfassungsschutz und polizeilichem Staatsschutz, der für die strafrechtliche Verfolgung der sog. Staatsschutzde-likte zuständig ist, auch weitgehend unproblematisch. Allenfalls bei den Er-mittlungen gegen die illegalen Aktivitäten der 1951 verbotenen rechtsextre-mistischen SRP und der 1956 verbotenen linksextremistischen KPD gab es überhaupt ein – allerdings konfliktfreies – Zusammenwirken beider Behörden. Konkurrenzbedingte Spannungsfelder aus diesem Zeitabschnitt sind jedenfalls nicht überliefert.

In der Spionageabwehr, seit Mitte der 50er Jahre auch Aufgabe der Verfas-sungsschutzbehörden, waren die Aufgabenbereiche ebenfalls sauber abgegrenzt: Vorfeldaufklärung einschließlich Gegenspionage hier, strafrechtliche Ermittlungstätigkeit dort. Problemzonen traten kaum auf. Erst der gewaltori-entierte Linksextremismus in den Erscheinungsformen des Terrorismus und der militanten Aktionen von Autonomen, zwischenzeitlich auch die gewaltin-volvierenden Demonstrationsformen der sog. K-Gruppen, haben die bis dato klaren Überschneidungen ausschließender Zuständigkeiten aufgeweicht.

Auch die terroristischen Aktionsformen von Neonazis seit Anfang der 80er Jahre führen inzwischen dazu, daß Staatsschutz und Verfassungsschutz sich ins Gehege kommen und sich nicht selten Doppelzuständigkeiten ergeben.

Verschiebungen

Die Ursachen liegen blank. Um gewalttätige Demonstrationen polizeilich be-herrschen zu können, bzw. um terroristische Anschläge zu verhindern oder wenigstens aufzuklären, benötigen die Polizeibehörden Informationen, die es ihnen ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Die Prognosefähigkeit des hierfür zuständigen Verfassungsschutzes reicht objektiv betrachtet jedoch selten aus, diese berechtigten Erwartungen der Polizei zu erfüllen. Polizeiführer versuchen aus dieser Not eine Tugend zu machen und über rechtliche Hilfskonstruktionen polizeiliche Arbeitseinheiten zu ge-stalten, die eine Informationssammlung im extremistischen Vorfeld betreiben. Sie unterlaufen damit allerdings ganz eindeutig das Trennungsgebot, auch wenn diese Aktivitäten häufig als Aufklärungen innerhalb bestehender Ermittlungsverfahren unter staatsanwaltschaftlicher Sachleitung kaschiert werden. Vergleichbare Vorgehensweisen dürfen mit einiger Wahrscheinlichkeit auch bei einem Teil der im Rahmen staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen durchgeführten Maßnahmen des polizeilichen Staatsschutzes zur Post- und Telefonkontrolle nach 100 a StPO vermutet werden.

Nun soll keineswegs behauptet werden, daß diese Praktiken der Polizei sich bei der Verfolgung von extremistischen Straftätern nachrichtendienstlicher Mittel zu bedienen, durchgängig in allen Bundesländern ungezügelt sind. Ein Zusammenhang zwischen Informationsdefiziten des Verfassungsschutzes und der Neigung der Polizeien, diese ihre Arbeit behindernden Lücken durch eigene Informationssammlungen – auch durch den trennungsgebotswidrigen Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel – zu füllen, ist jedoch evident.

Fälle, in denen der Verfassungsschutz solche ‚Betriebsunfälle‘, deren Sprengkraft den politisch Verantwortlichen offenbar geworden war, durch die Übernahme dieser „nachrichtendienstlichen Quellen“ der Polizei ausbaden mußte, sind zumindest in Bremen1 und Berlin2 öffentlich geworden: Mit negativen Folgen für alle Beteiligten.

Weiter wie bisher?

Für die Arbeit des polizeilichen Staatsschutzes ist bei der gegenwärtigen Sachlage zunächst eine parlamentarische Kontrolle zu fordern, wie sie für die Nachrichtendienste inzwischen installiert ist.

Diese zusätzliche Reglementierungsinstanz sollte nun keineswegs die Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel durch die Staatsschutzpolizeibehörden salvieren, sondern dazu beitragen, sie nachhaltig zu vermeiden. Eine scharfe Einhaltung des Trennungsgebots und der speziellen Übermittlungsregelungen bei personenbezogenen Daten in beide Richtungen müßte das Hauptziel dieser parlamentarischen Kontrolle sein, die dann dual ansetzen könnte. Innen-ministerielle Zusammenarbeitsweisungen für Staatsschutz und Verfassungsschutz, die sich nach politisch motivierten Kapitalverbrechen wiederholen, kämen so hinsichtlich ihrer Rechtsstaatlichkeit auf den parlamentarischen Prüfstand. Der Rechtsstaat darf kein Schönwetterstaat sein; er bewährt sich vornehmlich in kritischen Phasen. Der Erfolg allein hat keinen Rechtswert.

Kein Denkverbot

Wer jedoch fundiert der Auffassung zuneigt, das Trennungsgebot sei überholt und dabei nicht vordergründig nur die Abschaffung des Verfassungsschutzes verfolgt, dem darf kein Denkverbot erteilt werden. Es gibt sicherlich auch bedenkenswerte Argumente, sich andere Organisationsformen bei einer veränderten politischen Gesamtlage vorzustellen, als sie gegenwärtig gegeben sind. Die historischen, speziellen deutschen Erfahrungen mit allmächtigen Staatsschutzpolizeien unterschiedlicher Provenienz, sollten nicht den Blick dafür verstellen, daß Bonn (oder in Zukunft Berlin) weder Weimar noch Pankow ist. Innerhalb eines gefestigten demokratischen Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland sollten auch Reformen von Zuständigkeiten möglich sein, die in besonderen geschichtlichen Phasen festgelegt wurden.
In anderen tradierten Demokratien der westlichen Welt bestehen Staats-schutzpolizeien mit nachrichtendienstlichen Befugnissen, die offensichtlich nicht zu staatsterroristischen Erscheinungsformen führen. Ohnehin ist landauf, landab eine zunehmende Tendenz zu erkennen, den deutschen Polizeibehörden zumindest bei der Drogenbekämpfung und bei der Aufklärung der organisierten Kriminalität den Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln bis hin zum „großen Lauschangriff“ zuzugestehen. Warum dann nicht, so könnte man fragen, auch bei der Bekämpfung politisch motivierter Gewalttaten.

Ein ‚weiter wie bisher‘ darf es bei dieser Sachlage nicht geben. So oder so, eine sachliche Diskussion dieses Problems sollte ohne Tabuisierung des Trennungsgebotes möglich sein und eine Lösung erbringen, die die gegenwärtige Konkurrenzsituation zwischen dem polizeilichen Staatsschutz und dem Verfassungsschutz beendet.

Lothar Jachmann ist stellvertretender Amtsleiter des Landesamtes für Verfas-sungsschutz (LfV) in Bremen. Von 1963 bis 1982 war er beim LfV Berlin zunächst als Sachbearbeiter in der Spionageabwehr, ab 1975 als Referats-leiter für Terrorismusaufklärung tätig; 1982 Wechsel nach Bremen. Von 1975 bis 1989 war er Sprecher der Bundes-fachgruppe Verfassungsschutz in der ÖTV. In dieser Funktion ist er 1988 als Verfasser der „Thesen zur Entmy-thologisierung des Verfassungsschut-zes“ hervorgetreten.
1 vgl. Frankfurter Rundschau v. 5.10.84; die tageszeitung v. 5.10.84, 6.10.84, 11.10.84, 16.10.84; Weserkurier v. 5.10.84, 13.10.84; Nordsee-Zeitung v. 6.10.84; Bremer Blatt 11/84
2 vgl. Bericht der ‚Projektgruppe Verfassungsschutz‘ des Berliner Innensenators: „Betr.: Aufgaben von Verdeckten Ermittlern“ v. 7.6.89; Der Tagesspiegel v. 27.1.89, 16.2.90, 22.5.91; die tageszeitung v. 16.2.90; Stadtillustrierte zitty v. 9.2.89; „EA informiert“, ohne Datum, ca. 1991