Politische Instrumentalisierung von Kriminalstatistiken

von Werner Lehne

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die jährlich von den Landeskriminalämtern (LKÄ) als Landes- und auf dieser Datenbasis vom Bundeskriminalamt (BKA) als Bundesstatistik herausgegeben wird, ist in Deutschland die einzige kontinuierlich verfügbare Datenquelle für Aussagen über die Kriminalitätslage und -entwicklung. Die Zahlenwerte und Trends der PKS bilden dem-entsprechend einen zentralen Bezugspunkt für die politische Dis-kussion um Kriminalität und Innere Sicherheit.

Die bedeutsamste Bühne dabei ist die öffentliche Diskussion in den Medien, an der sich neben Journalisten insbesondere Partei-Politiker und (Stan- des-)Vertreter der Polizei beteiligen. Die PKS wird in diesem Zusammenhang in-strumentalisiert sowie über- und fehlinterpretiert, um z.B. den innen- und rechtspolitisch eingeschlagenen Kurs zu legitimieren oder die Aufmerk-samkeit für einen politisch besonders willkommenen Themenbereich am Le-ben zu halten. Daß sich die PKS so gut für Instrumentalisierungen eignet, hat viel mit den Eigenheiten dieser Statistik zu tun.

Ansatzpunkte zur Instrumentalisierung

Um eine Statistik sachgerecht interpretieren zu können, benötigt man als wichtigste Information Kenntnisse über die Gewinnung der ausgewerteten Daten. Die PKS ist eine Tätigkeitsstatistik der Polizei. Hierfür werden nach einem bundeseinheitlichen Verfahren von den LKÄ die Straftaten erfaßt, die im entsprechenden Jahr von der Polizei des Bundeslandes registriert und ab-schließend bearbeitet wurden. Schon dieser Entstehungsprozeß birgt eine Menge an Unwägbarkeiten, die sowohl eine seriöse Interpretation erschweren, als auch viele Einfallstore für die Instrumentalisierung der Daten bieten:

So werden nur die Straftaten registriert, die der Polizei bekannt wurden. Zu über 90% geht das polizeiliche Bekanntwerden einer Straftat auf die Anzeigeer-stattung bzw. Alarmierung von Bürgern, Kaufhausdetektiven, Verkehrsbetrieben etc. zurück. Neben der polizeilich registrierten Kriminalität existiert indes immer ein Dunkelfeld unbekannten Ausmaßes. Ein Anstieg oder Rückgang der registrierten Straftaten muß daher nicht notwendig eine Veränderung im Aufkommen ausdrücken, sondern kann ebenso auf Veränderungen im Anzeigeverhalten oder der Intensität polizeilicher Präsenz und Kontrolle begründet sein. Das BKA räumt dieses Problem offen ein. In der Vorbemerkung der Bundesstatistik ist stets deutlich hervorgehoben: „Die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik wird besonders dadurch eingeschränkt, daß der Polizei ein Teil der begangenen Straftaten nicht bekannt wird. Der Umfang dieses Dunkelfeldes (…) kann sich unter dem Einfluß variabler Faktoren (z.B. Anzeigebereitschaft der Bevölkerung, Intensität der Verbrechensbekämpfung) auch im Zeitverlauf ändern. Es kann daher nicht von einer festen Relation zwi-schen begangenen und statistisch erfaßten Straftaten ausgegangen werden. Die Polizeiliche Kriminalstatistik bietet also kein getreues Spiegelbild der Verbrechenswirklichkeit“.

Diesem Problem kann man nur begrenzt und bezogen auf einzelne Deliktbereiche gerecht werden. Für jedes Delikt bzw. jeden Deliktbereich ist gründlich zu prüfen, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, daß statistische Entwicklungen auf Veränderungen der Anzeigebereitschaft oder der Kontrollintensität zurückzuführen sind. Die Sensibilität einzelner Delikte für solche Einflüsse ist strukturell sehr unterschiedlich. So gibt es den Bereich der sog. „opferlosen Delikte“, z.B. weite Bereiche der Drogen-, Wirtschafts- oder Umweltkriminalität, bei denen eine enge Koppelung zwischen polizeilichem Enga-gement und statistischer Erfassung besteht. Daß die registrierte „Umwelt-kriminalität“ von 1991 auf 1992 bundesweit nahezu konstant geblieben, die „Softwarepiraterie“ um ca. 50% zurückgegangen oder die „Wirtschafts-kriminalität“ 1993 um 31% angestiegen ist, sagt weniger über das Aufkom-men, als über Schwerpunktsetzungen polizeilicher Arbeit aus.

Ein anderer Bereich ist die Schädigung von Kaufhäusern, Verkehrsbetrieben u.ä., die selbst interne Kriminalitätskontrolle durchführen und i.d.R. nur Taten zur Anzeige bringen, für die sie einen Verdächtigen ermittelt haben. Weiter gibt es Delikte, deren Erfassung auf die Anzeigeerstattung individu-eller Opfer zurückgeht, insbesondere den großen Bereich der Eigentumskri-minalität: Einmal gibt es hier die typischen „Versicherungsdelikte“ (z.B. Woh-nungseinbruch, Auto- und Fahrraddiebstahl etc.), bei denen aufgrund der Vorgabe der Versicherungen, als Voraussetzung der Schadensabwicklung Anzeige zu erstatten, nur von einem relativ geringen Dunkelfeld auszugehen ist. Was als Störfaktor allerdings mit einfließt, sind die Betrugsfälle, deren Anteil (z.B. beim PKW-Diebstahl) von manchen Versicherungen auf ca. 50% geschätzt wird. Anders verhält es sich bei Körperverletzung, Raub oder Vergewaltigung, bei denen kein solcher Zwang zur Anzeige existiert und Opfer nach eigenen Er-wägungen entscheiden, ob sie eine Anzeige erstatten (womit die Tat in der PKS erfaßt wird). Daß z.B. die Registrierungsrate von Vergewaltigungen in den letzten Jahren konstant bis rückläufig ist, kann sehr gut auf eine rückläufige Anzeigebereitschaft zurückzuführen sein. Wenn das Delikt „Raub auf Straßen, Wegen und Plätzen“ in der PKS ansteigt, kann das durchaus Folge einer ge-steigerten Bereitschaft sein, Auseinandersetzungen, die früher informell ge-regelt wurden, vermehrt zur Anzeige zu bringen. Registrierungen von sexuellem Mißbrauch von Kindern (1992 um 9,4% gestiegen, 1993 um 10,9% gesunken) sind, das räumt auch das BKA ein, ebenfalls mit hoher Sicherheit eher Indikatoren des Anzeigeverhaltens, als entsprechender Veränderungen in der Gesellschaft.
Verschiedenste Verfälschungen schleichen sich auch durch die Modalitäten und sich verändernde Rahmenbedingungen im bürokratischen Erfassungsprozeß ein. So werden z.B. für ein bestimmtes Jahr systematisch auch Taten gezählt, die u.U. lange vorher passiert sind, im entsprechenden Jahr aber erst abschließend polizeilich bearbeitet wurden. Aktuellstes Beispiel sind hier die Mauerschützenfälle aus 40 Jahren DDR-Vergangenheit, die die ‚Zentrale Ermittlungsgruppe Regierungs- und Vereinigungskriminalität‘ (ZERV) in Berlin im Bereich Mord und Totschlag erfaßt hat, und die 1993 komplett in den Statistiken der Neuen Bundesländer und Berlin mitgezählt wurden. Auf diese Weise sind die registrierten „Straftaten gegen das Leben“ 1993 in den alten Bundesländern (einschl. Berlin) um 8,2% gegenüber dem Vorjahr gestiegen, was in der öffentlichen und politischen Diskussion gut in das Bild steigender Gewaltbereitschaft und zunehmendem Aufkommen an ‚Mafia-Morden‘ paßt. Zieht man von den Zahlen aber diese Alt-Fälle ab, ergibt sich sogar ein leichter Rückgang in dieser Deliktgruppe, eine Tendenz, die übrigens seit Jahren anhält.
Die Straftatenerfassung in den Neuen Bundesländern gestaltet sich bisher ins-gesamt sehr problematisch. Aufgrund von Anlaufschwierigkeiten bei der Ein-führung des einheitlichen Erfassungsverfahrens sind die Daten stark fehler-behaftet. Konsequenterweise wird in der Statistik daher auf eine Ermittlung der Anstiege von 1992 auf 1993 für das gesamte Bundesgebiet verzichtet. Ganz anders allerdings in der öffentlichen Diskussion.
Die Einstufung von Straftaten (z.B. als Körperverletzung, versuchter Totschlag oder versuchter Mord) für die PKS geschieht durch die Kriminalpolizei. Nicht selten hält deren Einordnung der späteren gerichtlichen Überprüfung nicht stand und es kommt zu Herabstufungen des Tatvorwurfs – bis hin zu Freisprüchen. So wurden z.B. 1988/89 in Berlin von 249 polizeilich regi-strierten Tötungsdelikten lediglich 69 überhaupt abgeurteilt und davon nur 52 entsprechend der ursprünglichen Registrierung verurteilt.
Soll die PKS seriös interpretiert werden, müssen all diese Probleme bedacht werden, was allerdings seine deutlichen Grenzen darin findet, daß notwendige Informationen nur bruchstückhaft und teilweise zufällig vorhanden sind: Wer weiß z.B. Genaueres über den polizeiinternen Erfassungsvorgang? Als Konsequenz bleibt also nur eine sehr vorsichtige Interpretation. Etwas entschärfen ließe sich ein Teil der Problematik, indem man sich bei kurzfristigen Statistik-Vergleichen (z.B. von einem auf das andere Jahr) mit Interpretationen zurückhält und sich besser auf längerfristige Trends bezieht. Einige der angeführten Probleme (z.B. Über- und Untererfassungen) gleichen sich längerfristig wieder aus. Während in der PKS solche Überlegungen und Relativierungen gelegentlich noch einfließen und angemerkt werden, sind sie in der politischen Diskussion nahezu unbekannt. Dort wird in aller Regel von der Entwicklung der Gesamtkriminalität oder von einzelnen Deliktgruppen wie der Gewaltkriminalität gesprochen und die herausstellbaren Trends politisch bedenkenlos ausgeschlachtet.

Diskussion um die Kriminalitätsentwicklung 1993

Die erste Berichterstattungswelle über die Kriminalitätslage 1993 fand sich in den Medien Anfang März 1994, ausgelöst durch eine Pressekonferenz der ‚Gewerkschaft der Polizei'(GdP). Die Schlagzeilen: „Polizei schlägt Alarm: Fast sieben Millionen Straftaten“. „Alle fünf Sekunden eine Straftat. Es ist so schlimm wie nie: 6,7 Millionen Fälle in Deutschland“. In den Artikeln wurden – vorwiegend unter Bezug auf GdP-Chef Hermann Lutz – Aussagen getroffen wie: „Mit mehr als 6,7 Millionen Delikten stieg die Kriminalitätsrate im Vergleich zu 1992 um 7,1%. (…) Mord und Totschlag im Westen (plus 17%), dramatisch steigende Verbrechenszahlen im Osten – in manchen Ländern um bis zu 40 Prozent. (…) Auch die Entwicklung der Gewaltkriminalität mit teilweise zweistelligen Zuwachsraten sei alarmierend“. Alle diese Aussagen sind sachlich unhaltbar. Obwohl selbst das BKA die Berechnung von Anstiegsquoten für Gesamt-Deutschland und die Neuen Bundesländer für unzulässig erachtet, ist die Verlockung, mit dramatischen Anstiegen aufzuwarten, sowohl für die Medien als auch für die GdP, offensichtlich zu groß. Die Versuchung gipfelte darin, daß zudem gezielt die am stärksten fehlerbehafteten Zahlen herausgegriffen wurden. Mit „Mord und Totschlag“ (17%iger Anstieg), sind zielgenau die beiden Gewaltdelikte herausgegriffen worden, in denen sich die Fälle der DDR-Vergangenheit verbergen und ganz allein den Anstieg ausmachen. Sie sind es auch, welche die zweistelligen Anstiege in der Gesamtgruppe der Gewaltdelikte in einigen Neuen Bundesländern verursachen. Worum es den Beteiligten bei solchem Umgang mit den Zahlen der PKS geht, ist offensichtlich: Die Medien wollen spektakuläre und damit gut verkäufliche Nachrichten, und die GdP konstruiert sich selbst einen Ansatzpunkt für die öffentlichkeitswirksame Verbreitung und emotionale Unterfütterung ihrer standespolitischen Forderungen nach mehr Personal, erweiterten Befugnissen etc..

Der Bezug der Parteien auf die Kriminalstatistik

Innerhalb der Parteienpolitik, zumindest der beiden großen Massenparteien, wird mit den Zahlen der PKS nicht weniger unseriös und instrumentell um-gegangen, was sowohl als Reaktion auf, wie auch als Hintergrund der öf-fentlichen Debatte angesehen werden muß. Wirft man einen Blick in ihre aktuellen Programme zum Thema Innere Sicherheit, dann findet sich bei der SPD ebenso wie bei der CDU eine Einleitungspassage, in der ein erschreckender Kriminalitätsanstieg in den letzten 10 Jahren als Anlaß für die vorgeschlagenen Maßnahmen genannt wird. Die Tatsache, daß es in den letzten 10 Jahren, verglichen mit der vorherigen Dekade, einen herausragenden statistischen Anstieg nicht gegeben hat, sondern sich die Lage vielmehr anders herum darstellt (1972-1982 = +66,9%; 1982-1992 = +13,7%), hat keine Chance, gegen den weitgehend konsensfähigen Mythos der Kriminalitätsexplosion etwas auszurichten. Wagt es ein Politiker, wie jüngst Bremens Justizsenator Henning Scherf (SPD), öffentlich auf diese Diskrepanz hinzuweisen, so setzt man sich damit nicht etwa inhaltlich auseinander, sondern wirft ihm stattdessen großformatig Weltfremdheit vor. Die dominierenden politischen Kräfte, die Medien und sicher auch weite Teile der Öffentlichkeit haben sich längst darauf verständigt, daß es eine wachsende Bedrohung von Gesellschaft und Staat durch Kriminalität gibt und es hierbei somit um ein zentrales Thema der aktuellen Politik geht. Entsprechend wurden die Wahlkampfstrategien konzipiert, und so besteht momentan weder Bedarf noch Bereitschaft, sich durch die PKS dieses Thema wieder kaputt machen zu lassen.

Daß die Kriminalstatistik jenseits der benannten immanenten Schwierigkeiten zudem keine Abbildung der Probleme, Gefahren und Schädigungen in einer Gesellschaft liefern kann, darf beim Einlassen auf die PKS ebenfalls niemals vergessen werden: Es wird eben nur bekannt gewordene Kriminalität registriert und Kriminalität ist nur ein kleiner (und an Kriterien wie Sozialschädlichkeit oder Bedrohungspotential gemessen, relativ beliebiger) Ausschnitt sozialer Probleme. Nur jene problematischen Ereignisse geraten in den Blick, bei denen strafrechtliche Regelungen berührt und angewendet werden. Der große Bereich der legalen ‚Schweinereien‘ und Schadenssituationen (z.B. Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Unterprivilegierung, Gesund-heitsschädigungen) ist weitgehend nicht strafrechtlich reguliert, wird daher nicht als Kriminalität wahrgenommen, taucht in keiner Kriminalstatistik auf und ist aus der Diskussion entsprechend ausgeschlossen. Ginge es jenseits des Strafrechts um eine Bestandsaufnahme des Zustands ‚Innerer Sicherheit‘ im Sinne von Schadensfällen und Gefahrenquellen, so wären es gerade diese Be-reiche, die an erster Stelle stehen müßten. In diesem Sinne ist bereits die Fixierung und Begrenzung der innenpolitischen Diskussion auf Erschei-nungs-formen der Kriminalität das eigentliche Problem, und Fragen des sachgerechten Umgangs mit der PKS sind vielleicht nur von sekundärer Bedeutung.

Werner Lehne ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ‚Aufbaustudium Krimi-nologie‘ der Universität Hamburg
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.