von Ronald Hitzler
Wenn man die Welt betrachtet, wie sie in den Medien präsentiert wird; wenn man Zeitungen liest und Illustrierte durchblättert oder durch die Fernsehkanäle irrt, so wird der Eindruck schier unabweisbar: Wir leben in unsicheren Zeiten. Lauscht man auf ‚Volkes Stimme‘, hört seinen Nachbarn zu oder fragt Verwandte und Bekannte, dann bestätigt sich im vielstimmigen Echo: Wir leben in unsicheren Zeiten. Glaubt man aber denen, die gewählt oder wiedergewählt werden wollen, ist kaum noch zu zweifeln: Der Kampf gegen die Angst hat längst begonnen.
Alle, so scheint es, reden von Kriminalität: von Drogen-, Straßen- und Ban-denkriminalität; von Einbrechern, Vandalen, Strichern; von Vergewaltigern und Räubern; von Extremisten und von Asylanten. Unsicherheit, so die ebenso simple wie falsche Argumentationslogik, resultiert aus Gefährdung, Gefährdung aus Bedrohung, Bedrohung aus Kriminalität.
Gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion
Seriöse Beobachter aus Wissenschaft, Publizistik und auch aus der Politik weisen immer wieder daraufhin, daß die Rate gerade solcher Delikte, die im Kontext allgemeiner Verunsicherung vorzugsweise thematisiert werden, in der letzten Zeit eher stagniert oder gar zurückgeht. Aber die subjektive Unsi-cherheit läßt sich gleichwohl nicht wegdiskutieren, geschweige denn wegzählen. Gar zu augenfällig erscheint die Korrelation von selbst erlebten wie von anderer Seite vernommenen Belästigungen und Gefährdungen, von Diebstählen, Bedrohungen und Überfällen hie und von Verlusten an faktischer, potentieller oder auch nur erträumter Lebensqualität da. Somit rollt regelmäßig eine ‚Welle‘ von professionellen Welt- und Realitätsausdeutern an die Talkshow-Front, um zu erläutern, warum in der Bevölkerung, (besonders gravierend bei den Menschen in den neuen Bundesländern) die Bedrohungsgefühle, die Furcht vor Kriminalität und die Angst vor Gewalt zunehmen, auch wenn die Kriminalitätsrate fast nur bei Bagatelldelikten ansteigt.
Weitgehend einig sind sich die Interpreten dabei, daß wir es mit einem Paradebeispiel gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion zu tun haben. Strittig hingegen ist die Frage, wer und was hinter diesen Konstruktionen steckt und worauf sie abzielen bzw. hindeuten: Sind es die Medien, die, getrieben von der Gier nach Sensationellem, Bürger hysterisieren und Politiker zu populistischen Äußerungen verführen? Sind es die Politiker, die ein banales Thema forcieren, das die Medien willfährig aufgreifen? Oder sind es doch die Bürger, die sich gegen unliebsame Mitmenschen zu wehren beginnen und damit sowohl die mediale Aufmerksamkeit auf sich und ihre Anliegen lenken wie auch die Politiker zu Reaktionen zwingen? Und welche Rolle spielen bei all dem u.U. die bürokratischen und berufsständischen Belange der Polizei und die Diskussionsleidenschaft der Wissenschaftler?
Reaktionsformen
Wie auch immer sich welche Interessen und Chancen mit welchen Verlust-ängsten und Existenznöten verbinden, im Hinblick auf die unübersehbare Tatsache einer, weite Teile der Bevölkerung erfassenden Verunsicherung lassen sich derzeit zwei banale Reaktions- und Bewältigungsformen erkennen, die ihrerseits wieder vielfältige Binnendifferenzierungen aufweisen. Da ist zunächst die analytisch-therapeutische Attitüde. Sie zielt im wesentlichen da-rauf ab, die als die ‚eigentlichen‘ deklarierten (sozialen, wirtschaftlichen, psychischen) Ursachen hinter sämtlichen gesellschaftlich oder teilgesellschaftlich als ‚problematisch‘ etikettierten Verhaltensweisen von Personen aufzudecken und zu beseitigen. Stets in der Annahme, damit würde folgerichtig auch das verschwinden, was lediglich als Symptom anzusehen sei. Therapeutisch geht es hierbei vor allem um die Beseitigung sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten und um verstärkte moralische Sozialisation usw.
Die andere Reaktionsform ist die präventiv-repressive Attitüde. Bei ihr steht nicht die Frage nach den Ursachen unliebsamer Erscheinungen im Vordergrund, sondern die Frage nach effizienten und effektiven Mitteln zur Beseitigung oder zumindest Eindämmung und Zurückdrängung eines als ‚problematisch‘ definierten, augenfälligen Tatbestandes. D.h., es werden abstrakte Umstände und strukturelle Bedingungen als ‚bis auf weiteres‘ gegeben angenommen, auf deren Basis Handlungskonzepte zu entwickeln und umzusetzen sind. Konkret geht es hier vor allem darum, wie auch immer verursachtes, jedenfalls sozial unerwünschtes Verhalten anderer Personen durch Wachsamkeit und Sanktionsbereitschaft zu verhindern und/oder zu unterbinden.
Die staatlichen Organisationsformen, die diese beiden Attitüden prototypisch zu repräsentieren scheinen, sind die öffentliche Fürsorge bzw. die Sozialar-beit einerseits sowie die Polizei und der Strafvollzug auf der anderen Seite. Natürlich ist dies eine überspitzte Darstellung, denn tatsächlich weist die Sozialarbeit auch stark repressive Züge auf, und ist die moderne Polizeiarbeit hochgradig psychologisch und soziologisch informiert und keineswegs nur punitiv orientiert. Von der Grundidee aber läßt sich die Polizei sicherlich als staatliche Organisation zur präventiv-repressiven Herstellung bzw. Gewähr-leistung innerer Sicherheit definieren.
Daneben gab und gibt es die kommerziellen Dienstleistungen zur präventiv-repressiven Herstellung bzw. Gewährleistung innerer Sicherheit: Das Ange-botsspektrum reicht vom ‚klassischen‘ Nachtwächter und firmeneigenen Werkschutz über die traditionellen Privat-Detekteien bis hin zum kräftig boomenden privaten Sicherheitsgewerbe, in dem hierzulande bereits mehr Personen beschäftigt sind als bei der Polizei. Die Service-Leistungen privater Sicherheitsunternehmen werden ständig ausgeweitet und umfassen gegenwärtig vor allem Objekt-, Werk- und Personenschutz, Durchführung und Schutz von Werttransporten, Revierstreifen und Alarmmeldezentralen. ‚Betreut‘ werden öffentliche, halböffentliche und private Verkehrsräume, Wohnquartiere, Geschäfte bzw. Geschäftsviertel sowie Anlagen (z.B. Kasernen der Bundeswehr und der Polizei). Das Problem mit diesen Sicherheitsdienstleistungen liegt aber eben darin, daß sie kommerziell sind, daß sie also von denjenigen, die sie in Anspruch nehmen, auch bezahlt werden müssen. Die Alternative für Bürger, die ihre Sicherheit durch die Polizei nicht hinlänglich gewährleistet sehen und zugleich nicht willens oder in der Lage sind, sich kommerziell an-gebotenen (Zusatz-)Schutz zu kaufen, besteht deshalb darin, selbstschützerisch aktiv zu werden. Sich abschotten, einschließen, einbunkern, das sind bis jetzt noch die verbreitetsten Reaktionsweisen auf die Angst vor dem, was sich ‚da draußen‘ abspielt und einen in vielfältigen ‚Masken‘ zu bedrohen scheint. Türriegel, Vorhängeschlösser, Mehrfachsicherungen, Alarmgeber und Überwachungskameras breiten sich von den Großbürger-Villen in die Kleinbürger-Quartiere aus.
Wo derlei ‚individualistische‘ Vorkehrungen zum Schutz von Leib und Leben oder Hab und Gut jedoch das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit auch nicht mehr so recht gewährleisten wollen, hilft nur noch, sich mit anderen zu entsprechenden Interessengemeinschaften zusammenzuschließen. Schon früher reisten aus diesem Grunde z.B. Kaufleute vorzugsweise in Gruppen durch die Lande; Siedler in zivilisatorischen Grenzgebieten wehrten sich dergestalt gemeinsam gegen äußere Feinde; vorzugsweise in Städten gründen Frauen heutzutage Selbstverteidigungsinitiativen gegen potentielle Räuber und Ver-gewaltiger; selbsternannte, ehrenamtliche ‚Schutzengel‘ patroullieren nächtens in U-Bahnen und Fußgängerzonen. Vor allem in den USA und in Großbritannien entstehen vielerorts Nachbarschaftshilfen, und insbesondere (aber nicht nur) in den neuen Bundesländern Deutschlands wähnen sich viele Bürger von der Politik und der Polizei allein- und im Stich gelassen und machen sich mithin auf Bürgerversammlungen Luft und in Bürgerwehren mobil.
Neue Vigilanten
Solche Entschlossenheit der Bürger, unterhalb oder neben und im Zweifels- oder selbstdefinierten Notfall auch gegen die behördlich organisierten Schutzversprechen, selber für das zu sorgen, was sie unter ‚Recht und Ordnung‘ verstehen, irritiert naheliegenderweise schon von der Idee her das staatlicherseits beanspruchte Gewaltmonopol. Je nach ‚Temperament‘ und Organisationsform, schaffen diese neuen Vigilanten dort, wo ihnen die tra-dierten zivilisatorischen Routinen des Zusammenlebens suspendiert erscheinen, neue, eigene Spielregeln und befördern Solidarität und kollektives Selbstvertrauen unter den in solchen Initiativen Engagierten. Und sie schüren zugleich nervöse Wachsamkeit, Mißtrauen gegenüber allem und jedem, was nicht ‚dazugehört‘ und somit präventiv als ‚verdächtig‘ einzustufen ist. Dergestalt könnten sich in einer einschlägig sensibilisierten und formierten Gemeinschaft schnell ‚Wagenburg-Mentalitäten‘ ausbreiten, sprich, hohe Sozialkontrolle ’nach innen‘ und abwehrbereite Geschlossenheit ’nach außen‘. Kurz: Der sich selber mobilisierende Bürger droht, zumindest in seiner verallgemeinerten Form, unsere modernen Gemeinwesen von Schauplätzen aller möglichen, mehr oder minder expressiv inszenierter Ungleichheiten in Nahkampfstätten heterogener und vielfach antagonistischer Wohn- und Lebensinteressen zu verwandeln. Diesem keimenden ‚Wildwuchs‘ Form zu geben, d.h. dem ‚unbeherrschten‘ Treiben Einhalt zu gebieten und den wehrwilligen Bürger unter Kontrolle zu halten oder wieder unter Kontrolle zu bringen, scheint deshalb eines der zentralen, wenn auch selten explizierten Anliegen der aktuellen, staatlich-polizeilich getragenen ‚Politik Innerer Sicherheit‘ zu sein – und zwar, mit mancherlei (verborgenen) Anleihen in der eigenen Geschichte, etwa dem Blockwartsystem des Nationalsozialismus oder den ‚Freiwilligen Helfern‘ der Volkspolizei in der DDR; wie im Ausland, z.B. dem ‚Nationalen Rat für Kriminalitätsverhütung‘ in Schweden oder das ‚Sicherheitskonzept Zürich‘.
Anders als die seit Jahrzehnten mit umfassenden obrigkeitlichen Befugnissen ausgestatteten freizeitlichen Hilfspolizisten nach Art der 1961 gegründeten Freiwilligen Polizeireserve Berlin und dem 1962 installierten Freiwilligen Polizeidienst Baden-Württemberg, die ausdrücklich die ‚reguläre‘ Polizei auch von durchaus prekären Aufgaben entlasten sollen, erscheinen die derzeit teils in Planung, teils in Versuchsphasen befindlichen neuen Formen behördlich organisierter Bürgerbeteiligung an Maßnahmen zur Herstellung bzw. Gewährleistung Innerer Sicherheit (z.B. Sicherheitswacht und Sicher-heitsbeiräte in Bayern, Sicherheitspartner in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen, Kommunale Präventionsräte in Niedersachsen und Rat für Kri-minalitätsverhütung in Schleswig-Holstein ) im Hinblick auf eine mögliche Entlastungsfunktion für die Polizei als untauglich, wenn nicht gar als kon-traproduktiv. Die Bürgerwachten haben nicht oder jedenfalls kaum mehr als die ‚Jedermannrechte‘. Sie sind gehalten, ‚gefährliche‘ Situationen zu meiden und bei etwaigen ahndungswürdigen Beobachtungen nicht selber einzuschreiten, sondern umgehend Meldung an die für sie zuständige Polizeidienststelle zu machen. Die behördlich organisierten, legitimierten und kontrollierten Bürgerwachten dürfen also keineswegs mehr, sondern eher weniger als sich die frei entstandenen Bürgerwehren an Ordnungsbefugnissen ohnehin schon angemaßt und herausgenommen haben. Die unter Polizeiaufsicht agierenden Bürgerwachten repräsentieren im wesentlichen also wohl den politischen Versuch, das (potentiell anarchistische) Phänomen präventiv-repressiver Selbsthilfe in einer Art ‚Mitverantwortung‘ des Bürgers für die Ordnungs- und Kontrollinteressen des Staates zu disziplinieren. Diese staatliche Vereinnahmung des ‚freien Vigilantentums‘ scheint dabei durchaus der öffentlichen Meinung zu entsprechen. Laut einer jüngst bekanntgewordenen Umfrage des ‚Forsa-Institutes‘ wollen 60% der Deutschen (63%-West/48%-Ost) keine privaten Bürgerwehren.