Zur Kontrolle der nordirischen Polizei – Bestandsaufnahme und Ausblick

von Birgit Schippers

Mit der Erklärung eines Waffenstillstandes durch die Irisch-Republikanische Armee (IRA) Ende August 1994 erhält die schon seit langem geführte Debatte um die Kontrolle der nordirischen Polizei, der ‚Royal Ulster Constabulary‘ (RUC), erstmals Perspektiven auf wirkliche Veränderungen. Während Forderungen nach einer Auflösung der RUC, die vor allem aus dem nationalistisch-repu-blikanischen Spektrum und von Teilen der Bürgerrechtler erhoben werden, äußerst umstritten sind, scheint in weiten Teilen der Gesellschaft zumindest darüber Konsens zu bestehen, daß aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit eine effektive Kontrolle der Polizei Bestandteil jeder neuen Regelung sein muß.

Obwohl Nordirland konstitutiver Bestandteil des ‚United Kingdom‘ ist, un-terscheidet sich die RUC sehr von der englischen Polizei: Sie hat ihren Ur-sprung in der Teilung Irlands und sah sich selbst stets als Schützerin des nordirischen Staates und Wächterin protestantischer Interessen gegenüber einer illoyalen katholisch-nationalistischen Minderheit. Die RUC ist eine zu über 90% protestantische, paramilitärisch ausgerüstete Polizeitruppe, die – zusammen mit der britischen Armee – auf dem Boden weitreichender Not-standsgesetze operiert und über keine Akzeptanz in der katholisch-nationali-stischen Bevölkerung verfügt.

Mit Beginn der ‚troubles‘ Ende der 60er Jahre und dem Einsatz der britischen Armee in Nordirland entzog die britische Regierung der nordirischen Regierung die Verantwortung für die Innere Sicherheit. Da die RUC durch brutales Vor-gehen gegen Proteste der Bürgerrechtsbewegung für die Eskalation des Kon-flikts wesentlich mitverantwortlich gemacht wurde, sollte eine eilig einge-setzte Untersuchungskommission (Hunt-Commission) Konzepte entwickeln, um die RUC nach britischem Vorbild zu reformieren und zu modernisieren.

Institutionen der Polizeikontrolle

Seit ihrer Reform 1970 ähnelt die RUC nun stark den Polizeien in Großbri-tannien: Sie ist in eine dreiteilige Struktur eingebunden, bestehend aus dem Polizeichef (Chief Constable), dem Nordirlandminister (Secretary of State for Northern Ireland) sowie der ‚Police Authority for Northern Ireland‘ (PANI).

– Der ‚Secretary of State for Northern Ireland‘ bestimmt die Richtlinien der Sicherheitspolitik und ist dem Parlament verantwortlich; er ist zuständig für die Finanzierung der RUC und ernennt die Mitglieder der PANI.
– Der ‚Chief Constable‘ setzt die vom Nordirlandminister vorgegebene Politik um. In der Wahl der Einsatzstrategien ist er völlig unabhängig und nur dem Gesetz verantwortlich. Er trägt die Verantwortung für das Management der Polizei und muß der Police Authority einen jährlichen Bericht über die Tä-tigkeiten der RUC liefern.
– In Anlehnung an die englische Tradition lokaler Polizeien ist die RUC nicht der Regierung oder dem Parlament verantwortlich, sondern der Bevölkerung Nordirlands, repräsentiert durch die PANI. Um die enge Bindung zwischen Polizei und Regierung zu beseitigen und die Autonomie der RUC von politischer Einflußnahme zu gewährleisten, wurde mit der PANI eine Institution zwischen Regierung und Polizei geschaffen. Rein formell betrachtet ist die Police Authority das eigentliche Kontrollgremium der RUC. In Fragen polizeilicher Einsätze bleibt die RUC aber unabhängig und ist der Police Authority gegenüber nicht verantwortlich.

In der Zusammensetzung unterscheidet sich die PANI von den englischen Police Authorities erheblich: Während sich in England die Police Authorities zum Teil aus gewählten Repräsentanten der Lokalparlamente und aus Frie-densrichtern zusammensetzen, werden die Mitglieder der nordirischen Police Authority vom Nordirlandminister ernannt. Dieser greift dabei auf eine im ‚Police Act‘ von 1970 verankerte Liste von Organisationen zurück, die einen repräsentativen Querschnitt der nordirischen Gesellschaft bilden sollen (Mitglieder örtlicher Behörden und öffentlicher Institutionen, Juristen, Ver-treter aus Industrie, Handel und Gewerkschaften sowie von Hilfsorgani-sationen).
Die Police Authority hat auch die finanzielle Kontrolle über die RUC, sie ist verantwortlich für die Personalstärke, die Bereitstellung und Unterhaltung der erforderlichen Infrastruktur und die Ernennung höherer Polizeioffiziere. Sie muß sich über Beschwerden gegen die RUC informieren und überwacht Beschwerdeverfahren gegen höhere Offiziere. In der Wahrnehmung ihrer Aufgaben bleibt die Police Authority dabei abhängig von der Zustimmung des Ministers und muß dem Minister berichten.
Auch wenn sich die PANI in der Vergangenheit durchaus kritisch zur RUC geäußert hat (z.B. im Zusammenhang mit umstrittenen Verhör- und Folter-techniken sowie der Verwendung von Plastikgeschossen), und einzelne Mit-glieder schon aus Protest zurückgetreten sind, stand sie der RUC in der Ver-gangenheit dennoch grundsätzlich positiv gegenüber und warb um Verständnis und Sympathie für die Polizei.

Wichtigstes Kontrollgremium neben der PANI ist die 1987 gegründete ‚Independent Commission for Complaints against the Police‘ (ICPC). Sie befaßt sich mit Beschwerden, die gegen die RUC vorgebracht werden. Ihre Mitglieder werden ebenfalls vom Nordirlandminister ernannt.
Die Commission hat das Recht, alle polizeilichen Untersuchungen über Beschwerden gegen die Polizei zu überwachen und muß alle Untersuchungen bei Todesfällen, die von der RUC verursacht wurden, beaufsichtigen. Sie muß weiterhin Untersuchungen beaufsichtigen, die von der Polizeiaufsichtsbehörde oder vom Nordirlandminister an sie verwiesen wurden und die im öffentlichen Interesse liegen, auch wenn sie nicht Gegenstand einer Beschwerde sind. Allerdings konnte die ICPC bis vor kurzem nur dann tätig werden, wenn sie entweder vom Chief Constable, dem Nordirlandminister oder der PANI dazu aufgfordert wurde. Das Recht, eigenständig Un-tersuchungen zu beantragen, wurde ihr erst mit Beginn des Friedensprozesses übertragen.

Neben der PANI und der ICPC gibt es weitere Gremien, deren Existenz sich weitgehend aus dem paramilitärischen Charakter der RUC erklärt:
– Die ‚Lay Visitors‘ sind zivile Besucher in Polizeistationen, die von der PANI ernannt werden und ohne vorherige Ankündigung Polizeistationen in ganz Nordirland besuchen können, um sich über die Situation der Gefangenen zu informieren. Von ihren Kontrollen ausgeschlossen sind die Verhörzentren, in denen Personen festgehalten werden, die eines terroristischen Verbrechens oder eines Vergehens in Zusammenhang mit den Notstandsgesetzen beschuldigt werden.
Für diese Aufgabe wurde 1993 erstmals ein ‚Independent Commissioner for the Holding Centres‘ ernannt, der ausschließlich für die Kontrolle der drei nordirischen Verhörzentren zuständig ist.
– Die 1973 eingerichtete ‚Standing Advisory Commission on Human Rights‘ beschäftigt sich nicht ausschließlich mit der Polizei, sondern im weitesten Sinne mit Menschenrechtsfragen und berät den Nordirlandminister.
Schwierigkeiten der Kontrolle

Unabhängig von der spezifischen Situation Nordirlands, läßt die dreiteilige Struktur der Kontrolle zu wünschen übrig. Schon die umstrittene politische Anbindung der RUC und das ineffiziente Beschwerdesystem verhindern, daß sie wirklich kontrolliert werden kann. Die bestehenden Kontrollinstanzen sind ineffektiv und zu eng mit der RUC verbunden. Daß sowohl die Mitglieder der PANI als auch der ICPC vom Nordirlandminister ernannt werden, läßt bereits Zweifel an ihrer Unabhängigkeit aufkommen. Die Glaubwürdigkeit der PANI als Kontrollinstanz ist daher stark beeinträchtigt, vor allem in der nationalistischen Bevölkerung.

Die Stellung des Polizeichefs innerhalb des Systems polizeilicher Kontrolle, seine Unabhängigkeit bezüglich der Wahl der Einsatzstrategien verhindert, daß diese Gegenstand externer Überprüfung werden. Während der Ursprungsgedanke darin bestand, die polizeiliche Arbeit von parteitaktischen Interessen und Streitigkeiten frei zu halten, hat die Entwicklung dahin geführt, daß die Polizei in weiten Bereichen ohne jegliche Kontrolle ist.
Weder die PANI noch der Nordirlandminister bzw. das britische Parlament haben das Recht, den Polizeichef für die Wahl der Einsatzmittel zur Verantwortung zu ziehen. Im Alltag hat sich jedoch, ähnlich wie in Großbritannien, die Tradition herausgebildet, daß der Minister hinter dem Polizeichef steht und ihn unterstützt.

Der paramilitärische Charakter der RUC und ihre hervorgehobene Rolle in der Aufstandsbekämpfung sind immer wieder Anlaß für zahlreiche Beschwerden: Mißhandlungen während der Verhöre in den Polizeistationen, um Geständnisse zu erzwingen, der Gebrauch von Plastikgeschossen als Mittel der Aufstandsbekämpfung, die Liquidierung von IRA-Mitgliedern unter ungeklärten Umständen (’shoot to kill‘) und die alltägliche Schikane der Bevölkerung in den nationalistischen Gebieten sind die häufigsten Anschuldigungen. Auch wenn die Vorwürfe teilweise von regierungsnahen Untersuchungskommissionen bestätigt werden, bleibt dies für die Verantwortlichen in der Polizei ohne Konsequenzen. Sie werden weder gerichtlich noch disziplinarisch zur Verantwortung gezogen.
Massive Proteste, insbesondere gegen die ‚Shoot to kill‘-Politik, führten 1984 zur Einsetzung einer Untersuchungskommission, mit der der stellver-tretende Polizeichef von Manchester John Stalker beauftragt wurde. In seinen Recherchen wurde er sowohl von den beteiligten Polizisten als auch von der Polizeiführung behindert. Dennoch kam er zu dem Ergebnis, daß Beamte der RUC sich eines kriminellen Vergehens schuldig gemacht hätten. Stalker wurde daraufhin noch vor Beendigung seiner Arbeit wegen eines disziplinarischen Vergehens vom Dienst suspendiert. Die Art der Anschuldigungen gegen Stalker wurde nie genau bekannt. Die Untersuchung wurde von einem anderen englischen Polizisten fortgesetzt. Der Abschlußbericht allerdings wurde nie veröffentlicht.

Daß die Polizei Beschwerden, die gegen sie erhoben werden, selbst untersucht, ist ebenfalls Gegenstand massiver Kritik. Die RUC lehnt unabhängige Unter-suchungen mit der Begründung ab, daß sie selber am kompetentesten für diese Aufgabe sei. Inwieweit die Vermutung, daß die RUC eigene Straftaten reinwäscht, tatsächlich zutrifft, ist nicht eindeutig zu bewerten. Zumindest zeigt das Beispiel der Stalker-Untersuchung, daß eine externe Untersuchung durchaus in der Lage sein kann, Mißstände aufzudecken.
Für die Polizei besteht so das Dilemma, daß der unzureichende Kontrollprozeß dem Ansehen und der Akzeptanz der Institution schadet, eine gründliche und unabhängige Untersuchung andererseits Gefahr läuft, die Moral der Truppe zu untergraben.

Der Independent Commission for Police Complaints fehlen die Ressourcen und die Kompetenz, um den Beschwerdeprozeß effektiv zu beaufsichtigen. Ähnlich der PANI ist die ICPC, obwohl formal unabhängig, zu eng mit der RUC verbunden und eher bestrebt, ihrem Vertrauen in die Polizei Ausdruck zu geben, als eine effiziente Kontrollinstanz darzustellen.
Da Entscheidungen über polizeiliche Einsatzstrategien zudem nicht juristisch überprüfbar sind, ist es äußerst schwierig, vor Gericht eine Verurteilung ei-nes Polizisten zu erreichen.

Dies liegt einerseits an der Organisation des Beschwerdeprozesses gegen die RUC, der bewirkt, daß nur in den seltensten Fällen überhaupt Anklage erhoben wird. Der andere Grund liegt im Umgang der Gerichte mit der RUC. In den meisten Fällen scheint die Justiz auf der Seite der RUC zu stehen.

Die RUC im Friedensprozeß

Mit der Erklärung des IRA-Waffenstillstandes im August letzten Jahres rückten die RUC und die Frage nach ihrer Kontrolle wieder ins Zentrum des Interesses.
Da die britische Armee von den Straßen abgezogen wurde (sie ist immer noch in Nordirland stationiert), ist die Polizei nun allein verantwortlich. Die RUC versucht, sich selbst ein neues Profil zu erarbeiten, das sie in beiden gesellschaftlichen Gruppen akzeptabel machen soll. Dabei kommt es jedoch zu Konflikten mit der protestantischen Bevölkerung, welche sie nun nicht mehr als ihre Interessenvertreterin sieht. Zudem trägt die RUC die Bürde der letzten Jahrzehnte mit sich, die sie in der nationalistischen Bevölkerung nur schwer akzeptabel macht.

Auf der Suche nach einem neuen Profil ist aber nicht nur die RUC, sondern auch die Police Authority: Sie will sowohl mehr Verantwortung wie auch ihre Akzeptanz in der nationalistischen Bevölkerung erhöhen; weiterhin soll unter ihrer Verantwortung die RUC reformiert werden. Dem widersetzen sich aber sowohl die Polizei wie auch der Nordirlandminister. Der Chief Constable steht nicht nur der Ausweitung der Rechte für die PANI kritisch gegenüber, sondern zweifelt grundsätzlich an dem Konzept der Police Authorities als Kontrollin-stitution.

Noch vor der Ankündigung des Waffenstillstandes veröffentlichte das Nordirlandministerium ein Papier, in dem eine Reform der bestehenden dreiteiligen Struktur angekündigt wurde, ohne diese jedoch grundsätzlich ab-schaffen zu wollen. Insbesondere der Chief Constable soll mehr Rechte er-halten, z.B. die Kontrolle über die Finanzen, die bisher in der Kompetenz von PANI liegt. Der Minister soll weiterhin die Gesamtverantwortung für die Sicherheitspolitik gegenüber dem Parlament vertreten. Für Dezember 1995 wird ein Weißbuch zur künftigen Sicherheitspolitik erwartet, in dem die neuen Strukturen polizeilicher Verantwortung für Nordirland und die Anpassung an die veränderte Sicherheitssituation festgelegt werden sollen.

Ob und inwiefern die RUC und die sie kontrollierenden Institutionen refor-mierbar sind, hängt selbstverständlich in starkem Maße vom weiteren Verlauf des Friedensprozesses ab. Neben den Vorstellungen von Sinn Féin, welche die Auflösung der RUC verlangt und die Etablierung einer neuen, akzeptablen Polizei an die Debatte um eine politische Lösung des Konflikts bindet, gibt es weitere Vorschläge zur Reform der RUC:
So soll eine neue Police Authority geschaffen werden, der die Mitverant-wortung für die Gestaltung polizeilicher Einsatzstrategien gesetzlich übertragen wird. Sie soll aus hauptamtlichen, bezahlten Mitgliedern bestehen und den Police Chief und die übrigen höheren Polizeioffiziere ernennen und entlassen können.

Sowohl von Seiten der britischen Regierung als auch in den nationalistischen Gegenden Nordirlands wird eine intensive Diskussion um ein künftiges ‚Community Policing‘-Konzept geführt, bei dem Mitglieder der jeweiligen Gemeinden Mitverantwortung für die polizeilichen Aufgaben übernehmen sollen. Um relativ schnell den Anteil katholischer RUC-Angehöriger zu erhöhen, sollen auch höhere Offiziere der ‚Garda‘, der Polizei der Republik Irland, in die oberen Ränge rekrutiert werden. Ebenso könnten nach diesen Vorstellungen (ehemalige) Mitglieder der paramilitärischen Gruppen aufgenommen werden, die auch bisher schon quasi polizeiliche Funktionen übernommen haben und über größere Akzeptanz als die RUC verfügen. Von wem dann ehemalige IRA-Polizisten kontrolliert werden sollen, bleibt allerdings unklar.

Birgit Schippers ist Doktorandin am ‚Fachbereich Politikwissenschaft‘ an der FU Berlin
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.