von Fredrik Roggan
Dass der Eindruck habe entstehen können, beim Einsatz von Brechmitteln handele es sich um eine „alltäglich anzuwendende abschreckende Strafe statt um notwendige Beweissicherung“, das ertrage er nicht. So begründete der Leiter des Hamburger Landeskriminalamtes am 16. Januar 2002 das Rücktrittsgesuch an seinen Vorgesetzten. Wenige Tage zuvor war ein 19-jähriger Kameruner an den Folgen eines solchen Brechmitteleinsatzes gestorben.[1]
Achidi J. war am 9. Dezember 2001 unter dem Verdacht des Drogenhandels festgenommen und ins Rechtsmedizinische Institut des Hamburger Universitätskrankenhauses Eppendorf gebracht worden. Da die Polizei davon ausging, dass er die Drogenportionen verschluckt hatte, wurde der Einsatz des Brechmittelsirups Ipecacuanha angeordnet. Achidi J. warnte, dass er sterben werde. Dennoch hielten vier Polizisten den sich heftig wehrenden Mann fest, während eine Ärztin ihm – nach zwei vergeblichen Versuchen – insgesamt 30 Milliliter Brechmittelsirup und 800 Milliliter Wasser durch eine Magensonde einflößte. Danach war der junge Mann zu Boden gerutscht und regungslos liegen geblieben. Nach dreitägigem Koma war er am 12. Dezember 2001 verstorben.[2]
Der Hamburger Todesfall hat eine längere Vorgeschichte. Immer wieder war von Betroffenen zu hören, dass sie nach einer solchen Brachialbehandlung tagelang Beschwerden wie Brechanfälle, Durchfall, Appetitlosigkeit und Herzbeschwerden hatten.[3] Mitunter mussten sich Betroffene anschließend für mehrere Tage in stationäre Behandlung begeben.[4] In Bremen erlitt 1996 ein 16-Jähriger nach der Brechprozedur einen Schwächeanfall, so dass ein Rettungswagen kommen musste. Ein Bremer Hausarzt hat mehrfach erlebt, dass mit dem Brechmittel Ipecacuanha traktierte Patienten körperlich und seelisch traumatisiert waren. In einem Fall registrierte er Erosionen der Magenschleimhaut und blutiges Erbrechen über mehrere Tage.[5] Schon diese bekannt gewordenen Einzelfälle – das Dunkelfeld ist unbekannt – widerlegen die gelegentlich aufgestellte Behauptung, der zwangsweise Einsatz solcher Vomitivmittel sei „harmlos“[6] oder – wie z.B. zwangsweise Blutprobenentnahmen – „absolut ungefährlich“.[7]
1997 fällte das Oberlandesgericht Frankfurt ein Grundsatzurteil zum zwangsweisen Brechmitteleinsatz: In einem Fall, in dem der Betroffene nach einer solchen Behandlung bewegungsunfähig war und auf einem Aktenbock in die Haftzelle gefahren werden musste, entschied das Gericht, dass eine solche Behandlung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zulässig sei. Die Beweismittel waren also rechtswidrig erlangt worden. Sie durften nicht verwertet und der Betroffene musste freigesprochen werden.[8] Für die Generalstaatsanwaltschaften von Berlin und Hessen war jenes Urteil der Anlass gewesen, die Brechmittelanwendung – vorübergehend – auszusetzen.
Das Wissen des Hamburger Justizsenators
Maßstab für die Zulässigkeit des Brechmitteleinsatzes ist § 81a der Strafprozessordnung (StPO). Dort heißt es in Absatz 1 Satz 2, dass körperliche Eingriffe ohne Einwilligung des Beschuldigten nur dann zulässig sind, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Gesundheitliche Nachteile müssen also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sein.[9]
In der medizinischen Literatur wird aber nicht nur vor den Risiken des im konkreten Fall eingesetzten Brechsirups Ipecacuanha gewarnt, der starke Bewusstseinstrübungen und manifeste Herz- und Ateminsuffizienz auslösen könne.[10] Vielmehr muss der Einsatz von Brechmitteln grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Gefahren eines solchen Eingriffs waren auch Hamburgs Justizsenator Roger Kusch nicht unbekannt. Einen Tag vor dem Tod des jungen Kameruners beschrieb Kusch in einem Zeitungsinterview, dass es am Kehlkopf Nerven gebe, die bei Berührung – etwa durch eine Magensonde – einen Herzstillstand auslösen könnten.[11] Hierbei handelt es sich um den Nervus vagus (Vagus-Nerv), der Teil des parasympathischen Nervensystems ist. Im Gegensatz zum Sympathikus, der für die Zunahme der Herzfunktionen – zum Beispiel zur Bewältigung von Flucht- und Angriffssituationen – verantwortlich ist, sorgt der Nervus vagus nach Reizung für die Abnahme von Herzfrequenz und Kontraktionskraft des Herzmuskels.[12] Beim zwangsweisen Einführen einer Magensonde gegen den Widerstand des Betroffenen oder auch beim Vorgang des Brechens an sich besteht demnach das Risiko, dass dem menschlichen Organismus ein Impuls vermittelt wird, der der natürlichen Abwehrreaktion des sympathischen Nervensystems widerspricht. Das mit diesem Impuls verbundene Risiko reicht bis zum Stillstand des Herzens. Wie stark der Nervus vagus reagiert, lässt sich – auch bei vorheriger ärztlicher Untersuchung – nicht exakt vorhersehen. Maßgeblich sind sowohl die momentane wie auch generelle körperliche Konstitution des Betroffenen, die Tageszeit etc.
Weiterhin besteht bei jedem Einführen einer Magensonde die Gefahr, dass der Schlauch in der Lunge statt im Magen landet und dadurch schwerste innere Verletzungen hervorruft oder dass der Erbrechende Teile des Erbrochenen aspiriert, d.h. in die Lunge einatmet.[13] Nach Einschätzung der Hamburger Ärztekammer liegen in der gewaltsamen Verabreichung von Brechmitteln so viele Risiken, „dass man das nicht machen darf“.[14] Von einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, dass die zwangsweise Brechmittelanwendung gesundheitlich unbedenklich sei, kann also ganz und gar nicht ausgegangen werden.
Die Reaktionen der Politik auf den Todesfall
Schon kurze Zeit nach dem Tod von Archidi J. wurden in Hamburg wieder Brechmitteleinsätze angeordnet.[15] Auch ansonsten schien man recht unbeeindruckt: Der „tragische Zwischenfall“, so Justizsenator Kusch, sei der Preis, den die „politische Arbeit“ verlange. Das Todesrisiko bei solch einer gewaltsamen Prozedur sei „allen im vollen Umfang bewusst“ gewesen.[16] An der gewaltsamen Brechmittelanwendung solle aber dennoch festgehalten werden, denn: „Eine Änderung der Praxis wäre ein Signal, dass die Strafverfolgung in Hamburg nicht mit der gebotenen Härte durchgeführt wird“.[17] Auch Innensenator Ronald Barnabas Schill lehnte die Beendigung des Brechmitteleinsatzes ab. Dies sei ein „falsches Signal an Kriminelle“.[18] Beide bestätigten damit den Verdacht des zurückgetretenen LKA-Chefs, dass der Brechmitteleinsatz eine „abschreckende (Quasi-)Strafe“ sei.
Indessen: Die Hamburger Drogenpolitik bewegt sich mit der planmäßigen Brechmittelverabreichung auf juristisch brüchigem Eis. Sie bedeutet nämlich eine Instrumentalisierung von lediglich Verdächtigen einer Straftat, die mit der Aufgabe des Strafverfahrens nicht in Einklang zu bringen ist: Ziel dieser Methode ist Abschreckung. Am lediglich verdächtigen Individuum soll verdeutlicht werden, dass bestimmte Störungen der öffentlichen Sicherheit nicht toleriert würden. Abschreckung hat im Ermittlungsverfahren aber nichts verloren. Verdächtige haben bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten. Ihnen dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die zur Sicherung des (Straf-)Verfahrens erforderlich sind. Eine vorweggenommene Quasi-Sanktionierung ist kategorisch unzulässig, weil sie die Betroffenen zum Objekt degradiert. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für eine auch aus Gründen der Abschreckung vollstreckbare staatliche Maßnahme (Bsp.: Freiheitsstrafe) kann es ausschließlich bei rechtskräftigen Verurteilungen geben.[19] Das Verbot von Verdachtsstrafen muss im Rechtsstaat uneingeschränkt gelten; generalpräventive Zwecke dürfen allenfalls durch ein rechtskräftiges Urteil bewirkt werden.[20] Davon aber kann in Hamburg offensichtlich nicht mehr ausgegangen werden.
Alternativen zur Brechmitteltortur
Es bleibt die Frage, weshalb angesichts der nach dem Todesfall offenkundigen Risiken von der Brechmittel-Methode überhaupt Gebrauch gemacht wird, denn es gibt Alternativen. Der Zoll in Hamburg, der wie die Polizei im Bereich der Drogenfahndung tätig ist, wartet bei entsprechendem Verdacht das Ausscheiden der verschluckten Drogenpäckchen auf natürlichem Wege ab.[21] Ebenso verfährt Hamburgs Nachbarland Niedersachsen. Abgelehnt wird die Vorgehensweise der Hamburger Polizei deswegen, weil die zwangsweise Verabreichung von Ipecacuanha als „lebensgefährlich“ eingestuft wird.[22]
Bei der Anwendung der Brechmittel-Methode scheint es sich jedoch um eine kriminalpolitische Grundsatzentscheidung zu handeln, die – wie gezeigt – nur „unter anderem“ mit Zwecken der Strafverfolgung gerechtfertigt wird. Diese Entscheidung war unter dem rot-grünen (Vorgänger-)Senat zunächst noch anders ausgefallen: In einer gemeinsamen Presseerklärung von Innen- und Justizbehörde vom 7. Februar 2001 hatte es ausdrücklich geheißen: „Die Verabreichung von Brechmitteln als eine Art der ‚Sofortstrafe‘ wird abgelehnt“.[23] Bereits die Kandidatur des als „Richter Gnadenlos“ bekannten heutigen Innensenators hatte ausgereicht, um die SPD-GAL-Regierung von ihrer Linie abzubringen. Wohl um kriminalpolitische Entschlossenheit zu demonstrieren, kippte der Senat am 5. Juli 2001 seine Entscheidung vom Februar. Nunmehr wurden mit rot-grünem Segen Brechmittel gegen (mutmaßliche) Kleindealer eingesetzt.[24]
Das schlechte Gewissen des Bundesverfassungsgerichts
Nach der Hamburger Tragödie war ein wahrlich ungewöhnlicher Vorgang zu registrieren: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wandte sich mit dem Anliegen an die Öffentlichkeit, ein scheinbar bestehendes Missverständnis aus der Welt zu schaffen. Die Pressesprecherin der Karlsruher RichterInnen schrieb in einer auf der Leserbriefseite (!) der Berliner Zeitung veröffentlichten Erklärung: Es sei nicht richtig, dass das Bundesverfassungsgericht bereits über die Vereinbarkeit der Brechmittelverabreichung mit dem Grundgesetz entschieden habe. Zu diesem Thema existiere lediglich ein Kammerbeschluss.[25] Mit diesem Beschluss sei eine Verfassungsbeschwerde aus prozessualen Gründen nicht angenommen worden. Eine Auskunft über die Verfassungsmäßigkeit dieses Vorgehens gebe der Beschluss aber nicht.[26]
Die Ursache für diese „Einmischung“ in die Tagespolitik dürfte darin liegen, dass die Generalstaatsanwaltschaften von Hessen und Berlin gestützt auf eben diesen Beschluss die zwischenzeitlich der Polizei untersagte Brechmittelanwendung wieder zugelassen hatten. Auch das Kammergericht Berlin berief sich unmittelbar auf die nur vermeintlich unmissverständliche Karlsruher Rechtsprechung. Auf die in Rechtsprechung und Literatur geäußerten (verfassungsrechtlichen) Bedenken gegen diese Art der Beweismittelgewinnung ging es gar nicht erst ein.[27]
Folter zur Sicherung von Beweismitteln?
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass der zwangsweise Brechmitteleinsatz zur Erlangung von Beweismitteln in Form von verschluckten Drogenportionen in vielerlei Hinsicht rechtswidrig ist: Die Voraussetzungen des § 81a Absatz 1 StPO liegen nicht vor. Weder kann festgestellt werden, dass eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens über die Untersuchungsdauer hinaus ausgeschlossen ist. Schon gar nicht kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der Brechmitteleinsatz gesundheitlich unbedenklich sei – insbesondere dann nicht, wenn das Mittel mithilfe einer Magensonde gewaltsam eingeflößt wird. In Betracht käme die Verabreichung eines Brechmittels allenfalls dann, wenn es tatsächlich freiwillig geschluckt würde. Weigert sich der Betroffene, so ist der Brechmitteleinsatz ausnahmslos unzulässig.
„Beweismittel unter Qualen aus einem Körper zu holen, hat etwas von Folter“, sagt Bernd Kalvelage von der Hamburger Ärzteopposition.[28] Und mit einer solchen rechtsethischen Bewertung liegt der Mediziner vermutlich noch ein wenig näher am Kern der hier behandelten Problematik als die zitierten juristischen Ausführungen.