von Wilhelm Achelpöhler
Die Reichweite der Versammlungsfreiheit für die NPD und sonstige rechtsradikale Veranstalter ist seit einiger Zeit Gegenstand einer bemerkenswerten Kontroverse zwischen dem nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgericht (OVG) und dem Bundesverfassungsgericht.[1] Doch wie weit reicht die Versammlungsfreiheit von Anti-Nazi DemonstrantInnen?
Nahezu jede Demonstration von Nazi-Kameradschaften oder der NPD provoziert Demonstrationsauflagen und Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bis zum Bundesverfassungsgericht. Bemerkenswert wenig Entscheidungen gibt es dagegen zu den Demonstrationen der Gegenseite, den Antifa-Demonstrationen. Dies dürfte zwei Gründe haben: Zunächst gibt es recht häufig Gegendemonstrationen, die von einem sehr breiten gesellschaftlichen Spektrum getragen werden und bei denen von vornherein jeder Konflikt etwa mit der Polizei oder auch mit den Nazi-DemonstrantInnen vermieden werden soll. Hier stellt sich die Frage gerichtlichen Rechtsschutzes schon deshalb nicht, weil er schlicht nicht benötigt wird: Das Vorhaben kollidiert in der Regel kaum mit den Einsatzplanungen der Polizei.
Der zweite Grund liegt darin, dass es auf Seiten der GegendemonstrantInnen vielfach gar nicht das Bemühen gibt, durch die Anmeldung einer Gegendemonstration dem eigenen Vorhaben einen „offiziellen“ Anstrich zu geben. Man versammelt sich – z.T. im Anschluss an eine der zuvor erwähnten Demonstrationen – und zieht zum Ort des Geschehens – ohne Anmeldung zwar, aber natürlich gleichfalls unter Inanspruchnahme der in Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) garantierten Versammlungsfreiheit.
Das Ziel des polizeilichen Handelns ist durchgängig darauf gerichtet, ein Aufeinandertreffen dieser DemonstrantInnen mit den Nazis zu verhindern. Als die NPD beispielsweise am 2. Februar 2002 in Bielefeld gegen die dort gezeigte Wehrmachtsausstellung demonstrieren wollte, nutzte die Polizei die Teilung der Stadt durch einen Bahndamm, um Nazis und GegendemonstrantInnen zu trennen. Hier die Nazis, dort die Antifas. Im Bielefelder Osten, von der Polizei für den Nazi-Aufmarsch vorgesehen, gab es deshalb ein faktisches Demonstrationsverbot für „Antifas“, oder wie diese sarkastisch bemerkten: eine „temporär national-befreite Zone“.[2] Dass als Aufmarschweg ausgerechnet die frühere „Schlageterstraße“ in einem traditionellen Arbeiterviertel vorgesehen war, dürfte nicht nur die in gewerkschaftlicher Tradition stehende Wohnungsbaugesellschaft „Freie Scholle“ für eine Instinktlosigkeit gehalten haben.[3]
Rechtsprobleme nicht angemeldeter Versammlungen
Dortmund ist offenbar in besonderer Weise von Rechtsextremen als Versammlungsort auserkoren. Gleichzeitig gibt es dort eine erfreulich agile Antifa-Szene. Ein Merkmal von Antifa-Demonstrationen ist, dass sie häufig unangemeldet stattfinden. Trotzdem ist die Teilnahme an solchen mehr oder weniger spontanen Demonstrationszügen zum Sammelpunkt der Rechtsradikalen von der Versammlungsfreiheit gedeckt. Bis zu einer Auflösung der Versammlung steht der Polizei nur das eingeschränkte Instrumentarium des Versammlungsrechts zur Verfügung.
Dennoch machte sie in Dortmund mehrfach vom Instrument des „Kessels“ Gebrauch, das vor einigen Jahren noch skandalisiert wurde, inzwischen aber wohl zu den polizeilichen Standardmaßnahmen zählt. Dabei werden die TeilnehmerInnen einer Versammlung von der Polizei umstellt und am Weggehen gehindert, u.U. auch nach einiger Zeit in eine Gefangenensammelstelle verfrachtet. Nach Mitteilung des Dortmunder Polizeipräsidenten wurden am 21.10.2000 411 und am 16.12.2000 595 Personen in Polizeigewahrsam genommen. Eine solche Vorgehensweise ist evident rechtswidrig. Gegenüber dem Polizeirecht ist das Versammlungsgesetz eine Lex Spezialis, die Vorrang genießt. Das Versammlungsgesetz kennt allerdings keine derartige Möglichkeit der Ingewahrsamnahme.[4]
Dies führte Anfang 2001 zu einer denkwürdigen Entscheidung des nordrhein-westfälischen OVG.[5] Das Gericht untersagte der Polizei im Wege des vorbeugenden Rechtsschutzes im gerichtlichen Eilverfahren, DemonstrantInnen ohne vorherige Auflösung der Versammlung in polizeilichen Gewahrsam zu nehmen. Die Antragsteller hätten glaubhaft gemacht, dass die Polizei „am 21. Oktober 2000 und 16. Dezember 2000 Versammlungen i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 VersammlG ohne vorherige Auflösung der Versammlung eingekesselt hat und in gleicher Weise gegebenenfalls auch in Zukunft verfahren will“. Entgegen der Annahme der Polizei handele es sich bei den Demonstrationszügen durchaus um Versammlungen. Mehrere hundert Personen, die zuvor an Kundgebungen anderer Veranstalter teilgenommen hatten, waren mit Fahnen und Transparenten durch die Dortmunder Innenstadt zum Versammlungsplatz der Nazis gezogen. Ob es durch diese Demonstrationszüge zu Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gekommen sei, ist nach Ansicht des OVG für die Frage, ob es sich um eine Versammlung nach Art. 8 Abs. 1 GG handele, irrelevant – solange jedenfalls, wie die Versammlung nicht insgesamt ein unfriedliches Gepräge habe. Juristisches Neuland hatte das OVG hier eigentlich nicht betreten. Bemerkenswert ist nur, dass es überhaupt eines solchen Beschlusses bedurfte.
Die durch das OVG festgestellte Rechtswidrigkeit der Einkesselungen hatte natürlich ein großes öffentliches Echo, zumal es um Hunderte von Menschen ging.[6] Die Polizei rechtfertigte ihre Maßnahmen jetzt anders: Nicht mehr Gründe der Gefahrenabwehr seien es gewesen, die zur Einkesselung führten, sondern Zwecke der Strafverfolgung. Es sei um die vorläufige Festnahme mehrerer Hundert Personen gegangen, die sich des Landfriedensbruchs verdächtig gemacht hätten. Daran ist bemerkenswert, dass seit dem dritten Strafrechtsreformgesetz vom 20. Mai 1970 (!) nicht mehr wegen Landfriedensbruch (§ 125 StGB) strafbar ist, wer sich nur an Orten aufhält, an denen Andere derartige Straftaten begehen. Die Betroffenen können zwar nicht mehr strafbar gemacht wer-den; offenbar meint die Polizei, sie aber trotzdem verdächtigen zu können. Tausende Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet und durchweg wieder eingestellt – bei Erwachsenen nach § 153 der Strafprozessordnung, bei Jugendlichen nach § 45 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes. Als Folge blieb die mögliche Erfassung in der Datei „Landfriedensbruch“ sowie bei Jugendlichen zusätzlich der Eintrag ins Erziehungsregister, was in der Lokalpresse noch als „letzte Warnung“ der Staatsanwaltschaft kommentiert wurde.[7]
Die Trennung der verschiedenen Demonstrantengruppen versucht die Polizei nicht allein durch Einkesselungen und Ingewahrsamnahmen zu erreichen. Dasselbe Ziel verfolgt sie mit Verfügungen zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit gegenüber angemeldeten Antifa-Demonstrationen, die sich zu nahe an die Nazi-Demonstrationen heranwagen.[8] Im Zusammenhang mit den bereits beschriebenen Demonstrationen in Dortmund gab es auch den Versuch, mit einer angemeldeten Demonstration in die Nähe des Nazi-Sammelpunktes zu kommen. Diese Demonstrationsroute wurde von der Polizei durch eine beschränkende Verfügung untersagt. Rechtsbehelfe des einstweiligen Rechtsschutzes blieben vor dem Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen erfolglos.[9]
Maßgeblicher Grund für das Gericht: „Das Gericht teilt die Einschätzung des Antragsgegners (der Versammlungsbehörde = Polizeipräsidium Dortmund, d. Verf.), dass es bei einem Aufeinandertreffen der sich ideologisch unvereinbar gegenüberstehenden politischen Gruppierungen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen wird. Die Antragsteller wenden sich mit dem Thema ‘Wir stellen uns quer! – Kein Nazi-Aufmarsch am 21.10.2000!’ unmittelbar gegen die geplante Versammlung der ‘rechten Szene’. Dies legt nach versammlungsrechtlicher Erfahrung nahe, dass zumindest Teile gewaltbereiter Demonstranten bewusst den Konflikt mit dieser suchen werden, um so dem Protest verstärkt Ausdruck zu verleihen. Nach den Erkenntnissen der Kammer … werden sich auf der von den Antragstellern mit ihrem Thema bekämpften Versammlung namhafte, einschlägig in Erscheinung getretene ‘Größen der Neonaziszene’ einfinden. Damit besteht nach Lage der Dinge ein außerordentlich hohes Konfliktpotential.“ Die (örtlichen) Beschränkungen der Antifa-Demonstration hielt das Gericht trotz des zwischenzeitlich von der Versammlungsbehörde erneut ausgesprochenen Verbots der Nazi-Kundgebung für notwendig; es sei ja nicht ausgeschlossen, dass in einem Rechtsmittelverfahren die Veranstalter doch noch ihre Versammlung durchführen könnten.[10]
Das Gericht billigte ausdrücklich das von der Versammlungsbehörde vorgesehene Konzept „der Trennung der Gruppierungen mit nicht verträglichen politischen Standpunkten“, denn: „Nur so wird gewährleistet, dass alle am 21. Oktober 2000 in der Dortmunder Innenstadt anwesenden Gruppierungen ihre Grundrechte im Sinne praktischer Konkordanz verwirklichen können.“ Zumindest letztes wirkt einigermaßen befremdlich, wenn dasselbe Gericht zuvor die Verbotsverfügung gegenüber der Nazi-Demonstration im Eilverfahren gebilligt hat.
Die Versammlungsbehörden setzten, wie die Beispiele Bielefeld und Dortmund zeigen, ihr Ziel, Antifa- und Nazi-DemonstrantInnen zu trennen, z.T. rigoros durch. „Effektivität“ etwa durch das Einkesseln hunderter DemonstrantInnen hat hier den Vorrang. Das Recht der jugendlichen Antifa-Demonstranten, ihren Protest in Sichtweite des Nazi-Aufmarschs wahrzunehmen, wird zurückgestellt. Wenn diese Jugendlichen dann noch – wie in Dortmund und anderswo geschehen – bei der häufig ersten politischen Aktion ihres Lebens gleich in den Polizeigewahrsam wandern, ist das sicher kein geeigneter Beitrag zu deren politischer Sozialisation.
Wilhelm Achelpöhler ist Rechtsanwalt in Münster.
[1] Siehe den Beitrag von Wolfgang Hoffmann-Riem in der Frankfurter Rundschau v. 11.7.2002 sowie die Replik von OVG-Präsident Michael Bertrams in der Pressemitteilung des OVG v. 15.7.2002, http://www.jura.uni-muenster.de/ovg/Presse/2002/p020715.htm.
[2] http://people.freenet.de/buendnis/bericht.htm
[3] http://people.freenet.de/buendnis/freie_scholle.htm
[4] Bundesverwaltungsgericht (Az.: 1 B 219.86), in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ)1988, H. 3, S. 250f.
[5] OVG NW: Beschluss v. 2.3.2001 (Az.: 5 B 273/01), in: NVwZ 2001, H. 11, S. 1315
[6] Die Auseinandersetzungen um die Einkesselungen sind ausführlich dokumentiert auf der sehr lesenswerten Homepage http://www.schroedercoors.de/kessel und auf der Seite der Notgemeinschaft Polizeikessel-Betroffener NRW http://www.polizeikessel-nrw.de; noch am 12.7.2002 berichtete die Westfälische Rundschau über die Vorgänge im Jahr 2000: „Wochenlang gab es Proteste von Eltern, weil Jugendliche fünf Stunden und deutlich länger zunächst im Polizeikessel und dann in großen Käfigen des Polizeipräsidiums festgehalten worden waren. Die Leserbriefspalten der Tageszeitungen standen voll.“
[7] Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 17.5.2001
[8] ebenso etwa 23.2.1999 beim Verbot einer Antifa-Demo in Wurzen
[9] VG Gelsenkirchen: Beschluss v. 20.10.2000 (Az.: 14 L 2314/00). Ein Hauptsacheverfahren ist unter dem Az.: 14 K 1458/01 anhängig.
[10] Vor dem VG Gelsenkirchen blieben die Rechtsradikalen indessen erfolglos.
Bibliographische Angaben: Achelpöhler, Wilhelm: Abgetrennt und eingekesselt. Polizeilicher Umgang mit Antifa-Demonstrationen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 72 (2/2002), S. 43-47