Am 5. April dieses Jahres warnte die „tageszeitung“ ihre LeserInnen: „Nächste Woche wird in Karlsruhe die europäische Integration in Frage gestellt. Einfach so, weil den Verfassungsrichtern des Zweiten Senats danach ist.“ Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte sich erdreistet, eine ungewöhnlich umfangreiche Anhörung zum Europäischen Haftbefehl anzusetzen und nach den verfassungs- und vor allem grundrechtlichen Grenzen der EU-europäischen Integration auf dem Gebiet des Strafrechts zu fragen.
Anlass dazu hatte die Verfassungsbeschwerde Mamoun Darkanzalis, eines deutschen Staatsbürgers syrischer Herkunft, geboten, dessen Auslieferung die spanischen Strafverfolgungsbehörden mit einem Europäischen Haftbefehl beantragt hatten, weil er durch in Deutschland begangene Handlungen den Terrorismus der Al Qaida unterstützt habe – und zwar vor dem Jahre 2001, also zu einem Zeitpunkt, da der § 129b des Strafgesetzbuchs, der die Mitgliedschaft in ausländischen terroristischen Vereinigungen und deren Unterstützung unter Strafe stellt, noch nicht in Kraft getreten war. Der von den spanischen Behörden ausgestellte Europäische Haftbefehl bezog sich also auf eine Handlung, die in Deutschland (noch) nicht strafbar war. Am 24. November letzten Jahres stoppte das BVerfG die Auslieferung Darkanzalis im letzten Moment durch eine einstweilige Anordnung.
Das Urteil, das das BVerfG am 18. Juli fällte, erklärt zwar das Gesetz für nichtig, mit dem der Bundestag den Rahmenbeschluss des EU-Rates zum Europäischen Haftbefehl in deutsches Recht überführt hat (EuHbG). Die „tageszeitung“ kann aber beruhigt sein: Der Rahmenbeschluss selbst und mit ihm die gesamte EU-Strafrechtspolitik bleiben unangetastet.[1]
Das Gesetz, so die Argumentation der VerfassungsrichterInnen, verstoße gegen Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG). Dieser untersagte vor seiner Änderung im Jahre 2000 jede Auslieferung deutscher StaatsbürgerInnen. Die neue im Vorgriff auf die EU-Strafrechtsharmonisierung beschlossene Fassung erlaubt eine Auslieferung an einen EU-Staat auf der Grundlage eines Gesetzes und, „soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“ Das EuHbG konkretisiert zwar den Gesetzesvorbehalt, greift aber nach Ansicht des BVerfG unverhältnismäßig in das Grundrecht ein. Die GrundrechtsträgerInnen, d.h. die Deutschen, müssten sich darauf verlassen können, dass ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt rechtstreues Verhalten nicht nachträglich kriminalisiert werde. Dies gelte bei allen Handlungen, die im Inland begangen wurden. Bei Strafvorwürfen, die sich auf Handlungen im EU-Ausland beziehen, sei das anders: Wer in einer anderen Rechtsordnung handele, müsse damit rechnen, dort zur Verantwortung gezogen zu werden.
Der Rahmenbeschluss erlaubt es den Mitgliedstaaten, Hindernisse für eine Auslieferung festzulegen – u.a. dass eine Straftat Gegenstand eines inländischen Verfahrens ist oder dass ein Verfahren im Inland eingestellt wurde. Das EuHbG stelle aber die Bewertung dieser Hindernisse und damit den Eingriff in das Grundrecht der Deutschen auf Auslieferungsfreiheit ins Ermessen der Bewilligungsbehörden – d.h. der Bundesregierung resp. der Landesjustizministerien. Es entziehe sie damit einer Überprüfung durch die Gerichte und verstoße gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.
Solange kein neues Gesetz erlassen ist, können deutsche StaatsbürgerInnen nicht ausgeliefert werden. Diejenigen, die in Auslieferungshaft saßen, wurden entlassen. Dennoch bleibt das Verfassungsgericht mit seinem Urteil weit hinter der Kritik am EU-Haftbefehl aus Kreisen der Strafrechtslehrer zurück:[2] Es thematisiert weder die Form des Rahmenbeschlusses, dessen Zustandekommen ausschließlich in der Hand des Rates, also der Exekutiven, liegt. Noch lässt es sich über die Folgen dieser straf(verfahrens)rechtlichen Harmonisierung aus: Die Gefahr einer Auslieferung aufgrund eines im Inland straffreien Verhaltens wird nur für die Deutschen gesehen. Die Gefahr des „forum shoppings“, d.h. der Auswahl des für die Strafverfolgungsbehörden günstigsten Gerichtsstandes, taucht in dem Urteil nicht auf. Der Grund für diese Zurückhaltung dürfte in der ungeklärten Zuständigkeit des BVerfG liegen: Schon bei der Anhörung im April hatte die Bundesregierung gedroht, die Angelegenheit an den Luxemburger EU-Gerichtshof weiterzuziehen.
Das BVerfG fordert letztlich nur, die Spielräume des Rahmenbeschlusses (für die deutschen GrundrechtsträgerInnen) weitest möglich auszuschöpfen, so wie das die Parlamente anderer Mitgliedstaaten getan haben. Selbst diese Vorgehensweise stößt jedoch bei der EU-Kommission auf Missfallen: In einem Bericht an den Rat vom Februar dieses Jahres beklagt sie sich nicht nur über die Langsamkeit, mit der die Mitgliedstaaten den Rahmenbeschluss in ihr Recht überführt haben, sondern auch die Art, wie dieses geschehen sei.[3] Einige Mitgliedstaaten hätten die im Rahmenbeschluss vorgesehenen „fakultativen Ausschlussgründe“, aus denen eine Auslieferung abgelehnt werden kann, zu „obligatorischen“ gemacht, andere hätten gar zusätzliche Auslieferungshindernisse in ihre Gesetze eingebaut. Zum Teil sei auch die nur in der Präambel des Rahmenbeschlusses angedeutete Möglichkeit, dass die Vollstreckung eines EU-Haftbefehls zu einer Verfolgung oder Bestrafung aus rassischen, religiösen oder politischen Motiven führen könnte, als Ausschlussgrund verrechtlicht worden, was die Kommission als Zeichen dafür interpretiert, dass die Mitgliedstaaten nur bedingtes Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit ihrer EU-Partnerstaaten haben.
(Heiner Busch)