Das Thema mit seiner Spannung gibt es, seit ein liberaler Rechtsstaat besteht und solange er beansprucht, staatliche Herrschaft zu legitimieren. Der NSA-Skandal hat das Verhältnis von Ausnahmezustand und Norm erneut auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Zu allen Zeiten irgendwie installierter Herrschaften und ihrer wenigstens rudimentären Erfordernisse, von mitherrschenden Gruppen akzeptiert zu werden, tauchten Formen des Umgangs mit Ausnahmen auf. Ziel der Konstitutionalisierungen des modernen Staates im europäisch-angelsächsischen Kontext war – unbeschadet der formell verfassungslosen britischen Ausnahme –, die feudal-absolutistische Willkürherrschaft zu beenden, die arcana imperii (arcanum = geheim) berechenbar, also rechtsförmlich zu vertäuen. Die „Bill of Rights“ von 1689 war dafür ein frühes Beispiel. Was aber sollte in Not-, also Ausnahmezeiten geschehen, wenn staatliche Herrschaft in Gefahr geriet? Von Thomas Hobbes schon vorinformiert, wurde im Preußisch Allgemeinen Landrecht von 1794 eine „Generalklausel“ dafür vorgesehen. Sie besagte: In Not- und Kriegszeiten werden geltende Regeln zeitweise suspendiert – von Grund- und Menschenrechten war seinerzeit noch nicht die Rede.
Seither hat es Anlässe in Fülle gegeben. Dazu zählt der gesamte von George W. Bush junior ausgerufene „Krieg gegen Terror“ nach dem 11. September 2001. Er dauert an. An ihm beteiligt sich die BRD: innen gerichtet mit einer Reihe rechtlich poröser, also zusätzliche exekutiv-geheimdienstliche Spielräume eröffnender Gesetze; nach außen durch identifikatorische Kriegsteilnahme Seit’ an Seit’ mit dem sich selbst terrorisierenden, US-geführten Westen. Die Stolperei von einer zur nächsten Ausnahme war der Anlass für Edward Snowdens mutig-riskantes Whistleblowing samt seiner dokumentarischen Unterfütterung, zuerst im britischen „Guardian“. Snowdon hat ein weltweites „Hallo-Wach“ bewirkt.[1] Signifikanterweise schwappt und schwappte die allgemeine, bemerkenswert unterschiedliche „Betroffenheit“ vor allem deswegen über, weil die US-amerikanischen Geheimdienste und ihr Militär Millionen und Abermillionen persönlich-intimer Daten aus üppigen Handy- und anderen Quellen gesammelt, gespeichert und Algorithmus-sortiert eingesehen haben. Als sei der Schutz persönlicher Daten die erzerne Säule, der „rocher de bronze“ der vorpolitisch verstandenen Grund- und Menschenrechte. Der bundesdeutsch-normale, je nach „Sicherheitslaune“ geheimdienstlich oder polizeilich interessierte paralegale Gebrauch von Handydaten fällt der hiesigen Öffentlichkeit kaum mehr auf. Längst vergessen scheint auch, dass die sächsische Polizei in Dresden zigtausende Handydaten der TeilnehmerInnen einer gegen die NPD gerichteten Demonstration umfänglich nach inkriminierbaren Läusen frisiert hat.
Etwas zu sehr „nur“ auf „Digitalspionage und Massenüberwachung“ konzentriert, stellte Rolf Gössner im neusten „Grundrechte-Report“ fest:
„Wir befinden uns in einem geheimen ‚Informationskrieg‘ – oder anders ausgedrückt: in einem permanenten präventiven Ausnahmezustand, der seinen Ausnahmecharakter längst verloren hat und zum rechtlichen Normalzustand geworden ist. Ausgestattet mit einem geheimdienstlich-informationstechnisch-militärischen Komplex, mit Vorratsgesetzen und Notstandsinstrumenten zur grenzüberschreitenden Überwachung und Intervention; und dem Ziel globaler Krisenverhütung und -bewältigung, präventiver und repressiver Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung überall auf der Welt.“[2]
Mit dem Gebrauch des Terminus „Ausnahmezustand“ verweist Gössner auf eine den Jüngeren – glücklicherweise – in der Regel kaum mehr bekannte, in der Sache jedoch nicht verblichene politische Position, die Recht und Verfassung je nach Situation umfunktionierte. Carl Schmitt hat wie kein anderer, seinen Lehrmeister Thomas Hobbes übertreffend, den Ausnahmezustand zur Norm erhoben.[3] Er entsprach damit seinem dezisionistischen politischen Freund-Feindbegriff. Und er verfolgte sein überragendes Interesse am Staat als herrschaftlichem Grenzgänger, in seinem Fall des Deutschen Reiches. Als das Führungschor der NSDAP vor nunmehr achtzig Jahren mit seinem „Röhmputsch“ am 30. Juni 1934, Schutzstaffel der NSDAP (SS) und Sicherheitsdienst (SD) begünstigend, sich mörderisch von nicht genehmen populistischen Nazis, vor allem der Sturmabteilung (SA), trennte, schlug es darum trefflich auf den Kopf der Herrschaftsnagels „Ausnahme-bestimmt-Norm“, dass Schmitt in der Deutschen Juristen-Zeitung konstatierte: „Der Führer schützt das Recht – Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers am 13. Juli 1934“.[4]
Verfassung, Recht und Ausnahmezustand
Die BRD hat früh aus der Verfassung und Geschichte der Weimarer Republik zu lernen versucht. Verfasste Ausnahmezustände, wie sie mit dem Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung möglich waren, vermied sie tunlich. Der 48er hat nach dem Reichstagsbrand den Nationalsozialisten dazu gedient, die am 30. Januar 1933 „ergriffene“ Macht in einem ersten großen Schritt – mit Verhaftungen, Einrichtung von KZs und aktiver Diskriminierung beamteter deutscher Juden – zu etablieren. Darum hat die Große Koalition im Zuge der „Notstandsgesetze“ von 1968, die die Verfassung nach der Remilitarisierung 1955 mit einem zweiten kräftigen Schub änderten, den gesetzlichen Ausnahmecharakter peinlich vermieden. „Die Stunde der Exekutive“ (O-Ton Innenminister Schröder 1960) hatte freilich grundgesetzerheblich mit bis heute klingendem Ton präventiv geschlagen.[5]
Konrad Hesse hat in seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1959 den liberaldemokratischen Akzent gesetzt, in dem Sinne, dass er beide Teile des Verfassungsadjektivs liberal-demokratisch ernst nahm:
„Die Probe der Bewährung der normativen Verfassung sind deshalb nicht die ruhigen und glücklichen Zeiten, sondern die Notzeiten. Insofern ist, hierin liegt die relative Wahrheit der bekannten These Carl Schmitts, der Ausnahmezustand ein wesentlicher Punkt, an dem sich die Frage der normativen Kraft der Verfassung entscheidet. Nun ist das Entscheidende nicht, ob sich im Ausnahmezustand die Überlegenheit des Faktischen über die bloß sekundäre Bedeutung des Normativen erweist, sondern ob sich gerade hier die Überlegenheit des Normativen über die bloße Faktizität bewährt.“[6]
Die Entwicklung des Grundgesetzes und des bundesdeutschen Rechtsstaats gestalten sich freilich seit 1949 als erhebliche Hindernisrennen. Die Chancen, diese Hindernisse abzubauen und nicht primär aktueller Mode entsprechende Änderungen und Ergänzungen vorzunehmen, die 1989/1990 erneut zu Zeiten des Maastrichter Vertrags 1992 gegeben gewesen wären, sind Wahlerfolg-fixiert, altbundesdeutsch phantasielos, indes umso bornierter im Lob herrschender Routine versäumt worden. Wenige dieser Hindernisse seien erinnert. Sie kennzeichnen die schon erfolgten oder die drohenden Erosionen der verfassten Wirklichkeit und die verhängte Zukunft qua dauernden negativen Folgen des von Gössner angemessen apostrophierten Ausnahmezustandes. So sehr Konrad Hesse im gegebenen Kontext beizupflichten ist, so droht heute, dass die grundrechtlich-demokratisch akzeptabelsten oder entwicklungsoffenen Kennzeichen des Grundgesetzes vollends zu „wirklichkeitsentleerten Nomen“ ausdünnen. Die Kluft zu dem, was bundesdeutsch, was unionseuropäisch, was vor allem global definitionsstark wirksam geworden ist, nimmt – gewollt oder nicht – an Wirksamkeit zu, allein schon angesichts der liberaldemokratisch nicht mehr zu bewältigenden Größenordnungen und der verschärften globalen Konkurrenz. Selbst edle liberaldemokratische Ideen zirkulieren im Windkanal zwischen Norm und Wirklichkeit allenfalls luftig wie Spreu. Es sei denn, man entwickelte herkömmliche Institutionen und menschenrechtliche Normen neu in dauernden Hin und Her veränderter Gegebenheiten und den angestrengten Versuchen, ihnen normativ und institutionell nicht nur krummbeinig mit zunehmenden Versäumniskatalogen hinterher zu rennen. Mit Placebo-Gesetzen und Goodspeak-Worten ist nichts getan.
Kontinuität diskontinuierlicher Surrogat-Feinde
Deren Tradition reicht lange vor die Bundesrepublik zurück. Daran dass der heiße, ideologisch, politisch diskriminierend und kriminalisierend wirksame Antikommunismus zu Zeiten des Kalten Krieges, einschließlich der kolonialistisch auftretenden, vor allem Geld-üppigen „Wiedervereinigung“ eine lange Zeit bestenfalls probeweise liberaldemokratische Verfassung nicht begünstigte, müsste es zwischenzeitlich unter billig und gerecht denkenden Bundesdeutschen Übereinstimmung geben. Müsste! Die fast beliebig missbrauchbare, verfassungsgerichtlich längst veränderungsbedürftige Formel „der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ und ihre nach innen gekehrte verfassungsschützerische Perversion bestehen weiter. Sie wird mit neuem Glanz gerade infolge ihres Versagens versehen. Wie sich ein mittelprächtiger Dichter einst ausdrückte: „Geschlechter kommen, Geschlechter gehen, hirschlederne Reithosen bleiben bestehen.“
Die selbst oder durch falsche Politik erzeugten Feindsurrogate drängeln in der Schlange. Dazu zählen neuerdings die „Armutsflüchtlinge“ und diejenigen, die von der europäisch zivilisierten Organisation namens Frontex ins Elend geschoben werden, so sie nicht unmittelbar im Meer ersaufen. Überblickt man die Probleme, die hinter den Flüchtigen erkenntlich sind, von der europäischen Ko-Produktion nicht zu reden, böten sich nur Lösungen, wenn man europäische und außereuropäische BürgerInnen beidseits ernst nähme.
Wenn politisch von „Sicherheit“ die heischende Rede ist – das gilt prinzipiell auch für die privat qualifizierte –, dann bestünden einige Minima darin, bei jedem neuen Anlass – vor allem Handeln, Gesetze formulieren, Institutionen aus- und aufbauen u.a.m. – Fragen wie diese so genau wie möglich zu beantworten: Woher drohen warum Gefahren? Kann ihnen überhaupt mit gesetzlichen und mit nicht nur symbolischen Gesetzen folgenden bürokratischen Mitteln begegnet werden? Wie sähen die besagten Mittel aus? Worin bestünden ihre kurz- und mittelfristigen Erfolgsindizien und auf der Schattenseite ihre Kosten? Welche Sicherheit wird für welche BürgerInnen erzeugt? Wie können sie an den Sicherungsleistungen beteiligt werden? Usw., usf.
Würde probiert, solche Fragen am Exempel der beträchtlich aufwändigen, innen und außen wirksamen Sicherungseinrichtungen öffentlich zu beantworten, dürfte zu vermuten sein, dass der grundrechtlich korrekt hoch gehaltene Schutz individueller Integrität (Unversehrtheit) nicht nur normativ keinen zureichenden Maßstab bietet. Dass er jedoch vor allem wie das seit dem Volkszählungsurteil im Dezember 1983 fast absolut verwandte „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ nur dann greifen kann, wenn man zum einen das individualistisch eng verstandene Datenschutzrecht institutionell verlängert und wenn man zum anderen das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ demokratisch umsetzt, sprich die Beteiligung der BürgerInnen beispielsweise in den existenziell von der Wiege bis nach der Bahre wichtigen gesundheitlichen Einrichtungen breit veranlagt. Überall ist das neue Kollektiv-Subjekt „Big Data“ beteiligt. Überall wird diagnostisch, therapeutisch und präventiv die menschliche Integrität grundsätzlich in Frage gestellt.
Normalisierung des Ausnahmezustands
Die nur angetupften Illustrationen sollen zeigen, wie wichtig es einerseits wäre, dass der „Snowden-Schock“ (und der des schon wieder fast vergessenen Manning u.a.) anhielten.[7] Andererseits wäre es falsch und nicht zu entschuldigen, wenn wir alle, Grund- und Menschenrechtsorganisationen zumal, auf die üblichen Mittel setzten, wie das parlamentarisch droht. Diese üblichen Mittel bestehen – wie dies im Rahmen der in vielerlei Hinsicht analogen Bankenkrise der Fall ist – darin, sich täuschend auf gesetzliche Modifikationen und Kontrollen zu einigen, die den Ursachen dieses Ausnahmezustands nicht annähernd gerecht werden könnten. Sie normalisierten ihn vielmehr. David Cole, amerikanischer Verfassungsrechtler der Georgetown University, hat am Exempel des im Mai dieses Jahres vom Repräsentantenhauses gebilligten „USA Freedom Act“ gefragt: „Can the NSA Be Controlled?“ (Der möglicherweise kritischere Senat kommt noch). Obwohl er als Liberaler dem Gesetz insgesamt applaudiert, zeigt er, wie dieses die harten Probleme umgeht. Seine UnterstützerInnen geben sich damit zufrieden, dass vor allem fremden Geheimdiensten auf die ohnehin sichtbaren Finger geschaut werden solle. Die präventive Ausrichtung der US-amerikanischen Geheimdienste wird, stattdessen, ebenso wenig berührt, wie Sammlung und Gebrauch sogenannter Metadaten. Für sie gilt, was Michael Hayden, früherer Direktor der NSA und der CIA bemerkte: „Metadaten erzählen Ihnen absolut alles über das Leben einer Person. Wenn Sie genügend Metadaten haben, brauchen Sie wirklich keinen Inhalt.”[8]
Der Ausnahmezustand hält an. Ich habe ihn nicht auch nur roh mit seinen institutionellen und funktionellen Hintergründen angelotet. Er muss uns weiter beschäftigen. Die wichtigen Whistleblower sind in Sachen Hintergründe rollenspezifisch begrenzt. Das macht ihr Pfeifkonzert nicht unwichtiger. Warum Ausnahmezustände die Herrschaften und die durch sie Herrschenden so faszinieren, mag am Ende Carl Schmitt sagen: „Souverän ist“, so die erste Zeile seiner Politischen Theologie, „wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Ob die magersüchtigen westlichen Demokratien, die BRD eingeschlossen, im Carl Schmitt entgegengesetzten Sinne in der Lage sind, einen globalen Ausnahmezustand zu beheben?[9] Seine Normalisierung, mit Max Weber gesprochen, seine Veralltäglichung, kennzeichnen die Gefahr. Nur eins wäre vorweg falsch: Dass sich die Aufmerksamkeit und Sorge primär nach dem Gefühl richtete, sich nackt vorzukommen. Globaler Kapitalismus und seine im Eigensinn wirksame und verwandte Technologie haben vielmehr nahezu uns alle zu Teilen eines Weltheuhaufens gemacht. In diesem kann notfalls jeder vertrocknete Heu-, sprich Informationshalm in der kapitalistisch-technologisch dirigierten Dialektik von Big Data und individueller Identifikation gefunden werden. Die „Schule der Möglichkeiten“, von der vor 200 Jahren geborene Religionsphilosoph Sören Kierkegaard in seinem „Begriff der Angst“ gesprochen hat, lehrt uns heute, anders instrumentiert und gezielt, uns zu ängstigen. Da helfen keine Gesetze voller vager Formeln in den Händen der mitwirkenden Staaten und Unternehmen. Allein fundamentale, bereichsspezifische Politisierungen, erneuerte Verfassungen und Menschenrechte auf der Höhe ihrer Probleme, unterhalb und neben ausgeleierten Institutionen von bestenfalls sich selbst repräsentierenden Einrichtungen „repräsentativer Demokratie“ und ihrer gegenwartslosen Repräsentanten böten eine Chance.