Von wegen neutral: Die deutsche Polizei als Akteur autoritärer Disziplinierung

von Andreas Blechschmidt

Deutschland – ein Hort der Stabilität. Was bei anderen EU-Staaten zur massiven Krise wurde, war in der BRD nur eine kleine Delle. Die Wirtschaft wächst und von Massenprotesten wie in Griechenland und Spanien keine Spur. Aber der Eindruck täuscht. Apparate und Strategien der inneren Sicherheit befinden sich seit langem im Umbruch; sie bereiten vor, was kommen könnte.

Die ökonomischen Krisen seit dem Zusammenbruch der weltweiten Finanzmärkte 2007 und die daraus resultierenden Sparmaßnahmen haben in den letzten Jahren in zahlreichen Staaten der Europäischen Union (EU) zu nachhaltigen Protesten geführt. Massenproteste zum Beispiel in Griechenland und Spanien und der Zulauf zu rechten Parteien markierten eine politische Vertrauenskrise. Dahinter steht eine grundlegende Krise des kapitalistischen Systems, das vorrangig die Interessen von InvestorInnen und deren Profitraten sichert, aber keine Perspektiven angesichts von Arbeitslosigkeit, Verarmung und zunehmender Wohnungslosigkeit bietet. Zugleich sorgen die globalen wirtschaftlichen und militärischen Konflikte für eine zunehmende Migration nach Europa, der die verantwortlichen Regierungen mit einem tödlichen Abwehrregime an den EU-Außen­grenzen begegnen, in dem die Grenzschutzagentur Frontex eine zentrale Rolle spielt.

Deutschland scheint von alledem unbeeinflusst und vergleichsweise politisch stabil. Tatsächlich jedoch wurden im letzten Jahrzehnt auf verschiedenen Ebenen Voraussetzungen geschaffen, möglichen künftigen Krisenprotesten auch in Deutschland effiziente repressive Gegenstrategien entgegenzusetzen. Dabei entspricht das Selbstbild der Polizei in Deutschland einer von politischer Einflussnahme freien Polizeiarbeit, die allein an rechtsstaatlich überprüfbares Handeln gebunden ist. Obschon polizeiliches Handeln „immer auch Handeln in der Gesellschaft und für die Gesellschaft“ sei, wie es im Vorwort zu einem „Soziologie. Studien­buch für die Polizei“ heißt, sieht man sich als neutrale Instanz.[1] Die „Deutsche Hochschule der Polizei“ bietet etwa im Fachgebiet „Kriminalistik – Grundlagen der Kriminalstrategie“ Seminare für polizeiliche Führungskräfte zum Erwerb von Kompetenzen zur „objektiven“ Beratung der Kriminalpolitik über das Kriminalitätsgeschehen an.[2] So sollen die polizeilichen Reaktionsmöglichkeiten zum sachgerechten Personal- und Ressourceneinsatz vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Forderung nach optimaler Kriminalitätsbekämpfung op­timiert werden. Dieses Bild der überparteilichen und objektiven Instanz entspricht nicht der Realität. So wenig die westdeutsche Polizei 1968 und im Deutschen Herbst 1977 neutraler Akteur war, so wenig ist sie dies im aktuellen und künftigen gesellschaftlichen Kontext.

Die Zäsur des Jahres 1989 mit den daraus folgenden gesellschaftlichen Umwälzungen in Europa und der deutschen Wiedervereinigung haben zu einem tiefgreifenden Wandel des bis dahin geltenden politischen Selbstverständnisses Westdeutschlands geführt. Als Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Deutschlands verstand sich die alte Bundesrepublik jenseits aller Kontinuitäten und der problematischen fehlenden Aufarbeitungen des NS-Erbes als demokratischer Rechtsstaat auf Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. In den 90er Jahren vollzog sich jedoch im wiedervereinigten Deutschland ein bedeutender Paradigmenwechsel innerhalb dreier wesentlicher Politikfelder. Zunächst wurde 1993 mit der Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes das uneingeschränkte Grundrecht auf Asyl für politische Flüchtlinge, das sich aus den Erfahrungen des NS-Faschismus direkt herleitete, in dieser Form abgeschafft. Die ebenfalls aus den historischen Erfahrungen abgeleitete Selbstbeschränkungen der Bundeswehr als reiner Verteidigungsarmee im Rahmen des NATO-Bündnisauftrags wurde unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1990 infrage gestellt, allerspätestens seit dem Engagement der Bundeswehr im Kosovokrieg 1999 aufgehoben. Und schließlich wurde mit der „Agenda 2010“ ein deutlicher Kurswechsel weg vom Versprechen der wohlfahrtsstaatlichen Daseinsfürsorge hin zur neoliberalen Deregulation sozialer Leistungen vollzogen.

Sicher und sauber: die neoliberale Stadt

Nicht zufällig wurden Anfang der 90er Jahre, angestoßen durch vermeintliche Erfolgsmeldungen der „Zero-Tolerance“-Konzepte der New Yorker Polizei, ausführliche Debatten in der Fachöffentlichkeit und darüber hinaus über polizeiliche Sicherheitskonzepte geführt. Diese Diskurse kennzeichneten ihrerseits einen Übergang von der Disziplinar- hin zu einer Kontrollgesellschaft mit einer direkten Neuausrichtung polizeilicher Aufgabengestaltung, in der polizeiliches Handeln alles andere als überparteilich ist. Die bundesdeutsche Polizei als ein Instrument der Krisenbewältigung hat schon seit den 70er Jahren entsprechende Strategien entwickelt: Das „community policing“ stellt ein abgestimmtes Handlungskonzept von nachbarschaftlicher Kooperation bis hin zu einer repressiven „Zero-Tolerance“-Strategie dar. Unter dem Vorzeichen von Präventions- und Informationsprogrammen bzw. der Teilnahme an quartiersbezogenen Beteiligungsprogrammen agiert die Polizei schon lange in den Kommunen proaktiv. So gewonnene Informationen können Teil eines abgestimmten repressiv-disziplinierenden Kontroll- und Überwachungsprogramms der Polizei in den lokalen Milieus werden. Dies ist von besonderer Bedeutung, da der bereits geschilderte innenpolitische Paradigmenwechsel eine Neuorientierung hin zum neoliberalen global ausgerichteten Wettbewerbsstaat darstellt.

Der urbane Raum ist dabei im Zusammenhang mit der weltweiten seit den 70er Jahren betriebenen neoliberalen Wende zum Schauplatz eines rasanten ökonomischen und damit sozialen Wandels geworden. Der Soziologe David Harvey hat diesen Wandel mit pointierten Worten zusammengefasst: „Die traditionelle Stadt ist von der zügellosen kapitalistischen Entwicklung zerstört worden, sie ist dem endlosen Bedürfnis, überakkumuliertes Kapital zu investieren, zum Opfer gefallen, so dass wir uns auf ein endlos wucherndes urbanes Wachstum zubewegen, das keine Rücksicht auf die sozialen ökologischen oder politischen Konsequenzen nimmt.“[3] Privatisierungen staatlicher bzw. kommunaler Aufgaben sowie der Verkauf von z.B. kommunalen Wohnungsbeständen, die zunehmende Streichung staatlicher Leistungen für die sozialen Systeme, für Bildung und Kultur sowie die systematische Deregulation des Arbeitsmarktes sind Kennzeichen dieser Politik. Dem liegt die grundlegende politische Entscheidung zugrunde, „die Umverteilung des Reichtums sei vergebliche Mühe. Die Ressourcen sollten stattdessen auf dynamische, ‚unternehmerische‘ Wachstumszentren gelenkt werden.“[4] An die Stelle des (sozial-)demokratischen Integrationsversprechens der Teilhabe an Wohlstand und gesicherten Lebensverhältnissen für möglichst alle ist der neoliberale Wettbewerb getreten, der jene ausschließt, die keinen Platz im neoliberalen (Arbeits-)Markt finden.

Dieser Prozess muss als Ausdruck einer Transformation kapitalistischer Verwertungsstrategien begriffen werden, die durch ein entsprechendes Sicherheitsregime begleitet wird. Gesellschaftliche krisenhafte Widersprüche werden nicht als soziale Problemlagen begriffen, denen man mit politischen Konzepten entgegentritt, sondern als Sicherheitsprobleme, denen mit rein repressiven Strategien begegnet wird.

So sollen die städtischen Räume als Teil eines internationalen Standortwettbewerbs frei von Konflikten und sozialen Widersprüchen bleiben. Da ehemals öffentliche Stadträume in attraktiven Lagen zunehmend pri­vatisiert und als Konsum- und Investitionszonen Teil der kapitalistischen Wertschöpfung werden, erwächst daraus ein Bedürfnis, durch ein autoritäres Kontroll- und Ausschlussregime der Polizei, Ordnungsbehörden und privater Sicherheitsdienste unerwünschtes soziales Verhalten zu unterbinden und störende Personen zu vertreiben. Polizeiliche Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen ergänzen die zunehmende Präsenz privater Sicherheitsdienste beispielsweise in Einkaufszentren und Bahnhöfen. Durch die Privatisierung von ehemals öffentlichen Räumen und der daraus resultierenden Ausübung eines Hausrechts können zudem Sicherheitsdienste ohne gesetzlich definierte Eingriffsbeschränkungen des Polizeirechts unerwünschte Personen wesentlich ,effektiver‘ vertreiben.

Jan Wehrheim hat in seiner 2002 veröffentlichen Studie „Die überwachte Stadt“ den allgemeinen Zusammenhang zwischen der neoliberalen Stadt und den aktuellen Überwachungs- und Ausschlusstechniken unter den Aspekten von Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung untersucht. Ein wichtiges Motiv benennt er mit dem Begriff „physical disorder“, demzufolge das Erscheinungsbild eines städtischen Quartiers zum Anknüpfungspunkt von Kriminalitätsfurcht und sich darauf beziehender sicherheitspolitischer Gegenstrategien wird.[5] Die in den 90er Jahren popularisierte Broken-Windows-Theorie verknüpft ein Wohnumfeld mit Merkmalen wie Vermüllung, verfallendem Leerstand und Graffiti zu einem neuen Problemkomplex des „gefährlichen Raumes“. Dabei handelt es sich um ein soziales Konstrukt, denn die genannten „Probleme“ werden im Vorfeld strafbarer Handlungen angesiedelt. Nicht zufällig werden eigentlich straffreie Verhaltensweisen im öffentlichen Raum wie der Konsum von Alkohol, das Betteln oder das kollektive „Abhängen“ von Jugendlichen an Treffpunkten zum Anlass für polizeiliches Einschreiten.

Wehrheim entwickelt unter den begrifflichen Vorzeichen von „Ästhetisierung und Sauberkeit“ ein zentrales ideologisches Moment des neoliberalen urbanen Sicherheitsdiskurses: „Ein optisch sauberer Platz symbolisiert nicht nur, dass man sich an die heutzutage verinnerlichte Norm der Sauberkeit zu halten hat, sondern auch, dass dies der Raum der Etablierten ist resp. dass Außenseiter oder gesellschaftliche Gruppen, die mit dem Stigma der mangelhaften Sauberkeit belegt sind, in diesen Räumen nichts zu suchen haben.“[6]

Die politische und mediale Rezeption dieser Problematik fand dabei im Thema Graffiti einen geradezu idealen Aufhänger. In einer Sauberkeitskampagne unter dem Slogan „Nicht ganz klar. Wie der Typ“ benutzte die Berliner Senatsverwaltung Ende der 90er Jahre das Porträt einer eine Scheibe scratchenden Person, das offensichtlich die vorurteilsbehaftete Täterkategorie „jung, männlich, migrantisch“ bildsprachlich inszenierte. Graffiti stellen eine besondere Provokation dar, da sie als materialisierter Regelverstoß den Konsens der Mehrheitsgesellschaft bezüglich des Erscheinungsbildes des öffentlichen Raums bestreiten. Wehrheim stellt dazu fest: „Beim Thema Graffiti verbinden sich folglich alle Aspekte einer umkämpften Stadt: Sauberkeit mit der Verdrängung von Nutzungsformen und Personen, Angstdiskurs mit Strategien zur Revitalisierung von Innenstädten sowie Kriminalitätsprävention mit der Okkupation von Raum.“[7]

Polizeiliches Handeln ist somit mit repressiven autoritären Sicherheitsstrategien verknüpft, die die neoliberal organisierte Vermarktung der Stadt schützen sollen gegen eine unkontrollierte Raumaneignung, die die monopolisierte Verfügungsmacht in Frage stellt. Aus dieser Perspektive erklärt sich der große Aufwand, mit dem Polizei und Sicherheitsdienste die Verfolgung und Kriminalisierung von nächtlichen Graffitiaktivitäten betreiben. Immer wieder werden spektakuläre Großaktionen inszeniert, bei denen nicht nur viel Personal aufgeboten wird, sondern auch Hubschrauber und Nachtsichtgeräte eingesetzt werden.

Die Privatisierung und „Aufwertung“ städtischer Räume schafft das Bedürfnis, durch ein autoritäres Kontroll- und Ausschlussregime der Polizei, der Ordnungsbehörden und privater Sicherheitsdienste unerwünschtes soziales Verhalten zu unterbinden und störende Personen zu vertreiben. Gleichzeitig werden populistische stigmatisierende Ablenkungsdiskurse initiiert, mit denen Abfuhrobjekte für die durch die staatliche Deregulation ausgelösten Unsicherheiten angeboten werden: Ein angeblicher Missbrauch von Transferleistungen oder des Asylrechts wird beschworen und Kriminalitätsfurcht geschürt. Dabei werden Einzelphänomene in den öffentlichen Fokus gerückt, um Kompetenzerweiterungen für polizeiliches Eingreifen insgesamt zu legitimieren. Mal sind es offene Drogenszenen, mal osteuropäische „Bettlerbanden“, Alkohol konsumierende „Randständige“ oder eben illegalisierte Flüchtlinge, die als Vorwand für die Ausweitung polizeilicher Befugnisse herhalten müssen. Das jüngst in die Schlagzeilen geratene Instrument des „Gefahrengebietes“ wurde in Hamburg ursprünglich als effektives Mittel zur Bekämpfung des Einbruchsdiebstahls propagiert, während es zuletzt überwiegend im Zusammenhang mit linken Demonstrationen ausgerufen wurde.

Versammlungsfreiheit in Gefahr

Mit der Föderalismusreform 2006 war die Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Versammlungsrechts auf die Länder übergegangen. Schon auf der Basis des Versammlungsgesetzes des Bundes haben die Behörden und die Polizei regelmäßig Verbote und absurde Auflagen ausgesprochen, wurden aber immer wieder vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen, das eine stark grundrechtsorientierte Rechtsprechung pflegt.

Mit den neuen Versammlungsgesetzen der Länder drohen dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit neue Gefahren. Das zeigt sich nicht nur in Bayern und Sachsen, deren Gesetze im Februar 2009 vom Bundesverfassungsgericht bzw. im April 2011 vom sächsischen Landesverfassungsgericht teilweise aufgehoben wurden.[8] Gemeinsam ist allen bisherigen Landesversammlungsgesetzen bzw. Entwürfen die vor allem an polizeiliche Interessen nach Gefahrenabwehr und Kontrolle orientierte Ausgestaltung der Regelungen. Versammlungen werden mehr noch als bisher als potenzielle Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung betrachtet, denen die Polizei mit erweiterten repressiven Befugnissen begegnen können soll. Die restriktivere Gestaltung der neuen Länderversammlungsgesetze ist bei der Disziplinierung sozialer Proteste von besonderer Bedeutung.

Immer wieder wird im Kontext dieses „protest policing“ diskutiert, ob die Polizei ein autarker Akteur oder Herrschaftsinstrument der Politik ist. Eine Unabhängigkeit von der Politik beschreibt dann den Idealfall einer im positiven Sinne von politischer Einflussnahme freien Polizeiarbeit, die allein an rechtsstaatlich überprüfbares Handeln gebunden ist. Doch die neuen verschärften Versammlungsgesetze werden von den Länderpolizeien dankend für eigene Konzepte der Disziplinierung gesellschaftlicher Protestbewegung aufgenommen. Sowohl im Zusammenhang mit den Stuttgart-21-Protesten als auch bei der Behinderung der Frankfurter Blockupy-Demonstration im Juni 2013 oder bei der alternativlosen Auflösung der Hamburger Großdemonstration im Dezember 2013 erwies sich, dass das polizeilichen Handeln politische Ziele verfolgte und sich von rechtsstaatlicher Kontrolle unbeeindruckt zeigte. Damit könnte die Polizei Teil eines autoritären Regimes rechtsstaatlichen Typs werden, die künftige Krisenproteste als abweichendes Verhalten kriminalisieren kann.

Die politischen Institutionen, die eigentlich die Polizei kontrollieren sollten, sind offensichtlich gerne bereit, sie mithilfe verschärfter Sicherheitsgesetze von demokratischer Kontrolle freizustellen. Als langfristig brauchbare Legitimation für Gesetzesverschärfungen erwies sich seit dem 11. September 2001 der Themenkomplex der „Terrorabwehr“. Zentral ist hier der Ansatz, Bedrohungen möglichst frühzeitig zu erkennen und Straftaten präventiv zu verhindern. Folgerichtig werden der Polizei verdeckte und technische Ermittlungsmethoden nicht mehr nur für den Bereich der Strafverfolgung zugestanden und in der Strafprozessordnung verankert, sondern auch im Polizeirecht. Dadurch sind weiterreichende Maßnahmen wie Observationen, Lauschangriffe sowie Telefon- und Onlineüberwachung mehr oder weniger jeder Verhältnismäßigkeitsüberprüfung entzogen, da nicht mehr Staatsanwaltschaften oder Gerichte entsprechende Anordnungen treffen, sondern die Polizei darüber selbst entscheidet. So ist der Polizei in Hamburg nach dem „Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei“ gestattet, bis zu drei Tage ohne richterliche Anordnung u.a. eine Telefonüberwachung durchzuführen. Theoretisch ist denkbar, dass die Polizei diese Maßnahme alle drei Tage für 24 Stunden unterbricht, um sie dann wieder für drei Tage fortzuführen.

Diese zunehmenden Aktivitäten im Rahmen des Polizeirechts und im Vorfeld tatsächlichen strafbaren Handelns sind die klassischen Instrumente des Präventionsstaates, der polizeiliches Handeln nicht mehr an der Strafverfolgung und der Abwehr konkreter Gefahren orientiert, die wenn schon nicht unmittelbar bevorstehen, so doch sich zeitlich abzeichnen. Vielmehr wird durch die Senkung der Eingriffsvoraussetzungen für die polizeiliche Ausforschung Tür und Tor geöffnet durch verdachtsunabhängige und verdeckte Überwachungsmaßnahmen ohne Vorliegen einer Straftat oder eines tatsächlichen Verdachts. Erschwerend kommt hinzu, dass der Begriff der „Straftaten von erheblicher Bedeutung“, zu deren „vorbeugender Bekämpfung“ beispielsweise längerfristige Observationen und Einsätze von V-Leuten und Verdeckten Ermittler-Innen möglich sind, ausgesprochen dehnbar ist. Er umfasst nicht nur die politischen Straftatbestände einschließlich der „terroristischen Vereinigung“, sondern alle in irgendeiner Form „organisierten“ Begehungsweisen. Selbst gegen „organisierte Sprayergruppen“ könnte die Polizei also ihr quasi-nachrichtendienstliches Instrumentarium in Anschlag bringen.

Militär und Polizei

Die Militarisierung der Außenpolitik findet ihre Entsprechung in dem politischen Wunsch, die Präsenz der Bundeswehr im Inneren vom Ausnahmefall zur Regel werden zu lassen und neben den bereits ausgeweiteten polizeilichen Befugnissen weitere Ressourcen zur Beherrschung eigentlich klassischer polizeilicher Lagen mobilisieren zu können.

Gegenwärtig erscheint der Einsatz der Bundeswehr im Inneren als gleichberechtigter Akteur neben der Polizei noch als vergleichsweise unwahrscheinlich. Doch die forcierten Bemühungen, die Bundeswehr als zusätzliches Ordnungsinstrument im Inneren agieren zu lassen, sind durchaus beachtlich, bisher aber ohne große kritische öffentliche Wahrnehmung geblieben.

Der Bundeswehreinsatz beim Oderhochwasser 1997 oder bei der Bekämpfung der Vogelgrippe 2006 bewegt sich noch im Rahmen des Artikels 35 Grundgesetz, der den Einsatz bei Naturkatastrophen oder schweren Unglücksfällen erlaubt. Doch schon die Einbindung der Bundeswehr in das Sicherheitskonzept des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007 dürfte nicht mehr durch den Artikel 35 Grundgesetz gedeckt gewesen sein. Neben 2.400 SoldatInnen kamen die Aufklärungstechnik von Tornadoflugzeugen, geschlossene Spähsysteme des Typs „Fennek“, drei AWACS-Flugzeuge sowie ein mobiles Sanitätsrettungszentrum zum Einsatz.[9]

Außerhalb der grundgesetzlich möglichen Amtshilfeleistungen forciert das Konzept der „Zivil-Militärischen Zusammenarbeit“ (ZMZ) diese schleichende Normalisierung eines Agierens der Bundeswehr im Inneren, das seit 2001 umgesetzt wird. Offiziell soll eine effizientere Unterstützung im Rahmen des Katastrophenschutzes sichergestellt werden. Diese neue „Einsatzorientierung“ hat dabei gar nicht mehr den Ausnahmefall im Blick, sondern formuliert die institutionalisierte Normalität des Einsatzes im Inneren, wenn es heißt: „Die Bundeswehr trägt in einem vernetzten gesamtstaatlichen Ansatz mit ihren Fähigkeiten im Rahmen der gesetzlichen Rahmenbedingungen zum Schutz der Bürger und Bürgerinnen bei.“ Ein Netz von militärischen Stützpunkten mit einem System von Landes-, Bezirks- und Kreisverbindungskommandos, das von ortskundigen und lokal eingebundenen ReservistInnen geführt wird, soll die umfassende Verfügbarkeit der Bundeswehr gewährleisten. Schon im Jahre 2007 ging aus einer vom Verteidigungsministerium veröffentlichten Liste hervor, dass Bundeswehreinheiten beim Berlin-Marathon, bei der Kieler Woche, beim Laternenfest von Halle oder bei der Weltmeisterschaft der Zweispänner Amtshilfe geleistet haben.

Nachdem beim NATO-Gipfel im Frühjahr 2009 erneut die Bundeswehr eingesetzt war, stellte die Linksfraktion im Bundestag eine Kleine Anfrage. Sie zielte u.a. darauf, ob Maßnahmen getroffen würden, die verhinderten, „dass die ZMZ-Strukturen zur Unterstützung polizeilicher Repressivmaßnahmen gegen Streikende und/oder DemonstrantInnen herangezogen werden.“ Die Bundesregierung antwortete schlicht mit „Nein“, um dann weiter zu erklären: „Die Beurteilung, ob Großereignisse sowie damit im Zusammenhang stehende Demonstrationen Anlässe für die Zusammenkunft von Katastrophenschutzstäben sein können, obliegt den für die örtliche polizeiliche und nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr zuständigen Landesbehörden.“[10] Bei den Katastrophenschutzstäben sitzen zumeist automatisch VertreterInnen eines ZMZ-Kommandos mit am Tisch, womit aus Sicht von KritikerInnen die Doktrin der zivil-militärischen Zusammenarbeit zum Sprungbrett für Inlandseinsätze der Bundeswehr wird. Es bleibt eine Frage der Zeit, bis SoldatInnen als Teil des ZMZ-Konzeptes regelmäßig zum Einsatz bei Demonstrationen abkommandiert werden. Dabei wird zunächst sicherlich eine logistisch-technische Unterstützung z.B. durch Überwachungs- und Aufklärungskapazitäten im Vordergrund stehen und weniger der direkte Einsatz von BundeswehrsoldatInnen im klassischen Aufgabenfeld des polizeilichen Vollzugsdienst auf Demonstrationen. Andererseits wären aber Einsatzkonzepte im Zusammenhang mit der Flüchtlingsabwehr vorstellbar, in denen SoldatInnen konkrete Aufgaben, die derzeit die Bundespolizei wahrnimmt, übernehmen könnten.

Solch eine Entwicklung hätte eine Entsprechung in den fortgesetzten Forderungen vor allem von konservativen PolitikerInnen und von FunktionärInnen der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) nach einer Militarisierung der polizeilichen Ausrüstung. Seit mehreren Jahren fordert der DPolG-Chef Rainer Wendt nach Auseinandersetzung bei Demonstrationen die Ausstattung der Polizei mit Gummigeschossen. „Wenn Wasserwerfer nicht mehr reichen, muss die Polizei als Antwort auf die Steine, Brandsätze und Stahlkugeln der Demonstranten Gummigeschosse einsetzen“, erklärte Wendt beispielsweise im Juni 2008, nachdem es zu Auseinandersetzungen in Hamburg anlässlich einer Neonazidemo im Stadtteil Barmbek gekommen war.[11] Den Polizeigewerkschafter bekümmerte es nicht, dass in Hamburg damals keine Brandsätze oder Stahlkugeln gegen PolizeibeamtInnen eingesetzt wurden und auch kaum Steine geflogen waren. Die Barrikaden auf der geplanten Route der Rechten wurden gerade in polizeifreien Momenten errichtet. Tatsächlich ist Wendts Plädoyer für Gummigeschosse frei von jedem Bezug zur Realität und zur Faktenlage. Eher steht seine Forderung für die reaktionäre Polizeistrategie einer „Vor-Ort-Bestrafung“. Wenn SitzblockiererInnen nicht freiwillig gingen, „dann tue es eben auch mal weh.“[12]

Konsequent ignoriert er, dass Gummigeschosse keine sogenannten nicht-tödlichen Waffen sind. Allein im Nordirland-Konflikt starben seit 1970 17 Menschen durch Gummigeschosse. Die UNO erließ für den Einsatz im Kosovo ein Verbot von Gummigeschossen, nachdem zwei Demonstranten durch solche zu Tode kamen. Wendt behauptete hingegen schon in einem Interview im Juni 2007 mit der Süddeutschen Zeitung wahrheitswidrig, tödliche Vorfälle im Zusammenhang mit dem Einsatz von Gummigeschossen seien nicht bekannt, um fortzufahren: „Im Übrigen ist ja auch niemand dazu verpflichtet, Pflastersteine und Molotowcocktails auf Polizisten zu werfen. Wenn er das unterlässt, kommt er nicht mal in die Reichweite der Gummigeschosse.“[13] Damit vertritt Wendt die Logik des in Kauf zu nehmenden tödlichen polizeilichen Kollateralschadens. Wie schnell man jedenfalls aus seiner Sicht doch in die Reichweite von Gummigeschossen geraten könnte, erklärte er bereits 2007 öffentlich: „Wenn die Polizei die Demonstranten aufgefordert hat, den Platz zu räumen, dann gibt es keine Unbeteiligten mehr“.[14] Immerhin sind es sogar die KollegInnen der Gewerkschaft der Polizei (GdP), die Wendts Aufrüstungsfantasien entgegentreten. Der GdP-Funktionär Frank Richter stellt fest: „Wer Gummigeschosse einsetzen will, nimmt bewusst in Kauf, dass es zu Toten und Schwerverletzten kommt.“[15] Es ist aber Teil einer kühl-rationalen Logik neoliberaler Sicherheitskonzepte, das Recht auf körperliche Unversehrtheit der ins Visier geratenen vermeintlichen DelinquentInnen zu suspendieren. Der angebliche Schutz der Sicherheit der Mehrheitsgesellschaft wird zur kalkulierten Unsicherheit für die Objekte des polizeilichen Einsatzes. Teil der repressiven Ahndung von unerwünschtem Verhalten ist eine Vor-Ort-Bestrafung der Betroffenen, die für die beteiligten Sicherheitsorgane im Regelfall folgen- und straflos bleibt.

Johannes Agnoli hat in seiner grundlegenden Schrift „Die Transformation der Demokratie“ darauf hingewiesen, dass mit der ideologischen Formel des „sozialen Friedens“ gesellschaftliche Gruppen durch Zuweisung von materieller Absicherung und einem Integrationsversprechen befriedet werden sollen. Mit diesem historischen Klassenkompromiss, der nach 1945 in dem Projekt der Sozialpartnerschaft seinen Ausdruck fand, ist es in Deutschland gelungen, soziale Ungleichheiten und krisenbedingte ökonomische Deklassierungen als persönliche Probleme bzw. individuelles Versagen zu stigmatisieren. Jene, die sich gegen Ungleichheit und Verarmung als Ausdruck kapitalistischer Widersprüche wehren, sollen diszipliniert, zurückgedrängt und – so Agnoli – „dem öffentlichen Hass“ preisgegeben werden.[16] Agnoli beschreibt diesen Prozess der Disziplinierung als „Involution“, die mit den Mitteln des präventiven Sicherheitsstaates Herrschaft absichert und politische Gegenmacht kriminalisiert.

Das zitierte Selbstbild der Polizei über ihr eigenes Handeln als „immer auch Handeln in der Gesellschaft und für die Gesellschaft“ sollte sich daher einer kritischen Gesellschaft gegenübersehen, die polizeiliches Handeln thematisiert, begleitet und wo nötig infrage stellt.

[1]   Frevel, B.; Asmus, H. u.a. (Hg.): Soziologie. Studienbuch für die Polizei, Hilden 2002
[2]   zit. n. www.dhpol.de/de/hochschule/Fachgebiete/fachgebiete.php
[3]   Harvey, D.: Rebellische Städte, Frankfurt/Main 2013, S. 19
[4]   ebd., S. 68
[5]   Wehrheim, J.: Die überwachte Stadt, Opladen 2002, S. 66 f.
[6]   ebd., S. 103
[7]   ebd., S. 110
[8]   Bundesverfassungsgericht: Beschluss v. 21.3.2009, Az.: 1 BvR 2492/08; Sächsischer Verfassungsgerichtshof: Urteil v. 19.4.2011, Az.: Vf. 74-II-10
[9]   Plotzki J.: Soldaten gegen Demonstranten, in: Müller-Heidelberg T. u.a. (Hg.): Grundrechte Report 2008, Frankfurt/Main 2008, S. 188-192
[10] BT-Drs. 16/13970 v. 28.8.2009
[11] Bild, Hamburgausgabe v. 4.6.2012
[12] Hamburger Abendblatt v. 4.6.2012
[13] Süddeutsche Zeitung v. 4.6.2007
[14] Westfalenpost v. 4.6.2007
[15] Pressemitteilung des GdP-Bundesvorstands vom 5.6.2012, zit. n. www.gdp.de/gdp/ gdpnrw.nsf/id/DE_Einsatz-von-Gummigeschossen-ist-unverantwortlich
[16] Agnoli, J.; Brückner, P.: Die Transformation der Demokratie, Hamburg 2004 (Original: 1967)