«Es ist schwer erträglich, solche Zustände zu sehen. Deshalb darf es nur ein Ziel geben: Solche Zustände darf es in Europa nicht mehr geben.» Das sagte die schweizerische Bundesrätin Simonetta Sommaruga am 11. August 2016 bei strahlendem Sonnenschein am «Medienanlass» ihres Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements. Sie sagte es wie immer mit leicht bebender Stimme und fast war man geneigt, ihr die Erschütterung abzunehmen – aber eben nur fast.
Como ist die letzte italienische Bahnstation vor der Grenze zum schweizerischen Südkanton Tessin. In Como sind Hunderte Geflüchtete gestrandet. Sie lagern unter prekären Bedingungen am Bahnhof und im Park davor – unterstützt, so gut es eben geht, von solidarischen Leuten aus Como selbst, aber auch aus der Schweiz, vor allem aus dem Tessin.
Sie sind vor allem Afrikaner*innen: Menschen aus Eritrea, aus Äthiopien, aus dem Sudan, aus Westafrika … Sie schlafen unter freiem Himmel. Ihre Versuche, auf die andere Seite der Grenze nach Chiasso zu gelangen, scheitern immer wieder. Das schweizerische Grenzwachtkorps (GWK) holt sie aus dem Zug und schickt die meisten von ihnen sofort zurück. Zurück geschafft werden selbst Leute, die ein Asylgesuch in der Schweiz stellen wollen und den Grenzwächter*innen klarzumachen versuchen, dass sie Familienangehörige haben, die bereits in der Schweiz leben. Das GWK betätigt sich als Quasi-Asylbehörde – illegalerweise. Denn nach dem schweizerischen Asylgesetz wäre es seine Aufgabe, die Schutz Suchenden an das nächste Empfangs- und Verfahrenszentrum des Staatssekretariats für Migration (SEM) weiterzuleiten. Selbst wenn sie bereits in Italien registriert wurden und unter das elende Dublin-Regime fallen, muss die Schweiz ihr Gesuch prüfen. Wenn sie unmittelbare Familienangehörige in der Schweiz haben, dann haben sie auch ein Recht darauf, dass ihre Fluchtgründe materiell geprüft werden.
Fast war man geneigt, der Bundesrätin ihre Erschütterung abzunehmen. Aber die Fortsetzung ihrer Rede macht ihre mitfühlenden Worte zu einem Bestandteil der üblichen europäischen Heuchelei: «Sehr viele Migranten wollen nach Nordeuropa und nach Deutschland … Die Schweiz will kein Transitstaat werden, sonst würden wir erstens Dublin aushebeln – das wäre nicht rechtens – und vor allem können wir das gegenüber Deutschland nicht rechtfertigen.» Sommaruga muss es wissen, denn wenige Tage zuvor hat sie sich mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière getroffen. Und weil die Schweiz kein Transitland werden will, bleiben die Grenzen dicht. Zustände hin oder her, tut uns wirklich leid.
Die Geflüchteten in Como sind der lebendige Beweis dafür, dass die «Asylkrise», die eigentlich eine Krise des europäischen Migrationsregimes ist, nicht zu Ende ist. Sie ist nur etwas leiser geworden. Nach dem Deal mit der Türkei kommen – derzeit – wenig Schutzsuchende im Südosten Europas an und die, die es trotzdem schaffen oder schon da sind, stecken nach der Schließung der Balkanroute in Griechenland fest. Dafür ist das zentrale Mittelmeer als Fluchtweg erneut in den Vordergrund getreten. Die EU bemüht sich zwar, Libyen wieder zum Pufferstaat zu machen und hofft darauf, dass sie demnächst im Rahmen ihrer Militäroperation «Sophia» die Küstenwache des Landes darauf trainieren kann, Migrant*innen und Flüchtende an der Überfahrt nach Europa zu hindern. So schnell dürfte das aber nicht gehen. Seit Jahresbeginn haben rund 3.000 Menschen auf diesem Weg ihr Leben verloren. Über 89.000 Menschen haben es nach Italien geschafft. Schon in den vergangenen Jahren landeten dort viele auf der Straße – nicht nur Asylsuchende, sondern auch anerkannte Flüchtlinge. Die «Hotspots» in Italien funktionieren zwar, 90 Prozent der Ankommenden werden offenbar registriert – was die Voraussetzung dafür ist, dass sie aus anderen Dublin-Staaten wieder nach Italien «zurückgeführt» werden können. In den ersten sieben Monaten des Jahres hat die Schweiz insgesamt 10 117 Dublin-Out-Verfahren eingeleitet, 3887 betrafen Asylsuchende, die man nach Italien «überstellen» wollte. 908 wurden bereits dahin abgeschoben. «Italien ist ein zuverlässigerer Dublin-Partner geworden (…)», sagte Sommaruga.
Die meisten Flüchtenden schaffen es aber nicht einmal, überhaupt aus Italien herauszukommen. Österreich hat im April mit «baulichen Maßnahmen» am Brenner begonnen und kann jederzeit die Grenze dichtmachen. Frankreich hat dies bereits getan. In der Schweiz beschlossen Bund und Kantone im April einen «Notfallplan», nach dem nicht nur das Grenzwachtkorps, sondern auch die Armee im Tessin die Grenze schützen könnte. Der «Notfall» ist längst nicht erreicht, die Zahl der Asylgesuche im Juli 2016 (2477) ist zurückgegangen und lag ein Drittel unter der des Juli 2015. Aber allein in der vergangenen Woche hat das GWK 1767 «illegal Eingereiste» im Tessin aufgegriffen und 1184 nach Italien zurückgeschafft.
Nur zur Erinnerung: Im vergangenen Sommer – etwa zur selben Zeit – steckten Flüchtende in Ungarn fest, bis die deutsche Bundesregierung nachgab und Österreich die Leute passieren ließ. Diesmal ist es nicht das hässliche Ungarn mit seiner reaktionären Regierung, die Zäune bauen ließ. Es sind «nette» Staaten wie die Schweiz, die sich gerne als Rechtsstaaten verkaufen, aber keine «Transitstaaten» sein wollen, weil man das Deutschland nicht zumuten darf. Migrant*innen und Flüchtende sollen entweder vor den Außengrenzen Europas oder allenfalls an seinem Rand bleiben. «Es ist schwer erträglich, solche Zustände zu sehen. Deshalb darf es nur ein Ziel geben: Solche Zustände darf es in Europa nicht mehr geben.» Wie wahr.