von Maximilian Pichl
Über vier Jahre nach der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) wird die rechtsterroristische Mord- und Anschlagsserie aktuell durch fünf Untersuchungsausschüsse in den Ländern aufgearbeitet. Trotz Parteitaktik und einem mauernden Verfassungsschutz kommen neue Details ans Licht.
Der Münchner Strafprozess gegen Beate Zschäpe u.a. stand kurz vor Jahresende 2015 aufgrund der schriftlichen wie mündlichen Einlassungen der Hauptangeklagten sowie des mutmaßlichen NSU-Unterstützers Ralf Wohlleben erneut im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Fast zeitgleich setzte der Deutsche Bundestag den zweiten parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur NSU-Mordserie ein. Der Ausschuss soll u.a. ergründen, wie der NSU seine Opfer ausgewählt hat, ob und wenn ja wie die rechte Szene unterstützend bei den Taten mitwirkte und inwieweit die Sicherheitsbehörden mittels ihrer V-Leute von den Taten Kenntnis hatten. Die Obfrau der Linkspartei, Petra Pau, setzte die Arbeit des Ausschusses in den Kontext der aktuellen „rassistischen Gewalt im Land“ und der Gefahr, „dass es längst auch weitere rechtsterroristische Strukturen“ gibt.[1] Außer im Bund, wird die NSU-Mordserie aktuell in fünf Landesuntersuchungsausschüssen mit jeweiligen Schwerpunkten aufgearbeitet: in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen sowie zum zweiten Mal in Sachsen und Thüringen.[2] Ein zweiter Ausschuss in Bayern ist nicht geplant, obschon die Aufklärungsarbeit des ersten nach Ansicht von BeobachterInnen gescheitert ist.[3] In Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern findet derweil keine parlamentarische Aufarbeitung statt, obwohl der NSU dort Süleyman Taşköprü und Mehmet Turgut erschossen hat. Ebenfalls würden sich in Berlin und Brandenburg Untersuchungsausschüsse anbieten. Das Berliner Landeskriminalamt (LKA) führte mit Thomas S. und der brandenburgische Verfassungsschutz mit Carsten Sz. („Piatto“) V-Leute, die noch nach dem Untertauchen in Kontakt mit dem NSU standen.
Ein genauerer Blick auf die bisherigen Erkenntnisse der Landesuntersuchungsausschüsse lohnt, trotz der virulenten Probleme in der Aufarbeitung der Mordserie. Auf die Darstellung der zum zweiten Mal eingesetzten Ausschüsse in Thüringen und Sachsen wird an dieser Stelle verzichtet, da die dortige Arbeit erst vor kurzem wieder aufgenommen wurde.[4] Gegen die Enthaltung der Regierungsparteien soll der Ausschuss in Sachsen die Hintergründe des NSU-Netzwerks erörtern und ergründen, welche Informationen die Behörden des Landes über den Aufenthaltsort des NSU hatten. Der zweite Ausschuss in Thüringen soll Widersprüche zwischen dem ersten Abschlussbericht und dem NSU-Prozess aufarbeiten, das Netzwerk der dortigen rechten Szene und organisierter Kriminalität ergründen sowie das V-Leute System durchleuchten.
Baden-Württemberg: Rechte Polizisten und dubioses Zeugensterben
Der baden-württembergische Untersuchungsausschuss beschäftigt sich mit der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007. Sie gilt als das letzte Opfer in der NSU-Mordserie. Fraglich ist bis heute, warum gerade Kiesewetter und ihr durch das Attentat schwer verletzter Kollege auf der Heilbronner Theresienwiese zum Ziel wurden. Im Dezember 2015 erklärte Beate Zschäpe im Prozess, dass die beiden Uwes lediglich ihre Dienstwaffe ergattern wollten. Warum die Täter dies gerade in Heilbronn getan haben, ist aber unklar. Ebenso zeigen die bisherigen Ermittlungen, dass eine Tatausführung durch zwei Täter unwahrscheinlich ist.
Ein weiterer Baustein des NSU-Komplexes ist die Gründung des deutschen Ku-Klux-Klan- (KKK-)Ablegers. Mehrere Polizisten sollen im KKK aktiv gewesen sein, darunter sogar der direkte Vorgesetzte von Kiesewetter.[5] Der Beamte ist weiterhin im Dienst. Zu den Aktivitäten von Polizisten in rechten Gruppierungen stellte der Bundestagsuntersuchungsausschuss fest:
„Die Verbindungen zwischen Polizei, V-Männern und KKK (sind) äußerst besorgniserregend und ein weiterer Beweis dafür, dass Kiesewetters Umfeld nur unzureichend untersucht wurde, insbesondere im Hinblick auf Rechtsextremismus. Dies ist auch deshalb erstaunlich, weil es bereits Nazimorde und Bedrohungen gegen Polizisten gegeben hatte.“[6]
Lange Zeit weigerten sich die Parteien, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, man wollte lediglich mittels einer Enquete-Kommission prüfen, wie die Arbeit der Sicherheitsbehörden effektiver gestaltet werden könnte. Da diese scheiterte, wurde der Ausschuss sehr spät eingesetzt; erst am 23. Januar 2015 fand die erste öffentliche Sitzung statt.
Die bisherige Aufklärung in Baden-Württemberg wurde durch ein beispielloses Zeugensterben überschattet.[7] Unter ungeklärten Umständen verstarb im September 2014 Florian H., kurz bevor er bei den Ermittlungsbehörden über seine Kenntnisse bezüglich der rechten Szene aussagen sollte. H. hatte schon vor 2011 behauptet, die Täter des Kiesewetter-Mordes zu kennen. Er erwähnte dabei eine angebliche rechtsradikale Unterstützergruppe des NSU, die sogenannte Neoschutzstaffel (NSS). Die Ermittlungen zu seinem Tod verliefen fehlerhaft. In seinem Auto wurden einige Gegenstände übersehen, gegen drei Polizisten wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Auch H.’s Ex-Freundin verstarb kurze Zeit später, just nachdem sie im Untersuchungsausschuss ausgesagt hatte. In einer nicht-öffentlichen Sitzung hatte sie gesagt, sie fühle sich bedroht. Die bisherigen Ermittlungen ergaben, dass sie an einer Lungenembolie infolge eines zuvor erlittenen Motorradunfalls verstorben sei. Die Aufklärung über beide Tode waren auch Thema im Ausschuss.
Insgesamt arbeitete der Untersuchungsausschuss nur sehr kurz. Bereits im Januar 2016 wurde ein Abschlussbericht veröffentlicht, da der Ausschuss wegen der Landtagswahl zum Ende kommen musste.[8] Der Journalist Thomas Moser bilanziert, dass der Ausschuss durch Unterlassungen und Arbeitsverweigerungen geprägt gewesen sei: Entscheidende ZeugInnen seien nicht geladen worden, wichtige Akten wurden nicht hinzugezogen.[9]
Hessen: Verfassungsschützer am Tatort
Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé auf der Holländischen Straße in Kassel ermordet, nur zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund. Im Gegensatz zu vorherigen Taten in der Česká-Serie waren Personen am Tatort anwesend. Unter ihnen Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, der als Beschaffer auch einen V-Mann in der Kasseler rechten Szene führte. Die Umstände des Mordes und insbesondere Temmes dortige Rolle sind die zentralen Untersuchungsgegenstände des Ausschusses. Gegen Temme wurde 2006 zeitweilig sogar wegen Mordes ermittelt, da er sich nach der Tat nicht bei der Polizei gemeldet hatte. Bis heute gibt er an, aus rein privaten Gründen im Café gewesen zu sein und von der Tat selbst nichts mitbekommen zu haben – auch wenn sich seine bisherigen Aussagen widersprechen.[10] Brisant ist zudem, dass der Verfassungsschutz und das Innenministerium im Rahmen der damaligen Ermittlungen die Aussage von Temmes Quellen verweigert haben, u.a. mit der Begründung, dass der „Quellenschutz deshalb höherrangig als die Interessen der Aufklärung bewertet worden (sei), weil sich nicht erschlossen habe, warum auch die Vertrauensperson aus dem rechtsextremen Spektrum vernommen werden sollte. Bislang sei es bei den Ermittlungen nur um mafiöse Strukturen gegangen.“[11]
Obschon Hessen ein wichtiger Schlüssel für die Aufklärung des NSU-Komplexes ist, leidet der Ausschuss unter vielen Problemen.[12] Zunächst wurde er nicht konsensual eingesetzt. Die Regierungskoalition aus CDU und Grünen hielt den Mord an Yozgat für ausermittelt und setzte lediglich eine Expertenkommission ein. So wurde der Ausschuss nur mit den Oppositionsstimmen von SPD und Linkspartei – die FDP hat sich enthalten – beschlossen. Erst ein Jahr nach der Einsetzung fanden überhaupt Zeugenbefragungen statt. Dem Ausschuss stehen weiterhin viele Akten aus den Behörden nicht zur Verfügung. Der fehlende Wille zur parteiübergreifenden Zusammenarbeit wirkt sich auf die Zeugenbefragungen aus. Da sich die Abgeordneten untereinander nicht absprechen, ziehen sich viele Befragungen in die Länge, weil Themenkomplexe unstrukturiert abgearbeitet werden und Fragen oft wiederholt werden müssen. In arge Bedrängnis kommen die ZeugInnen aus den Ämtern hierdurch nicht. Ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, können ZeugInnen wie beispielsweise der ehemalige Abteilungsleiter für Rechtsextremismus im Verfassungsschutzamt, Peter Stark, zu Protokoll geben, dass sie keine Lust gehabt hätten, sich auf die Befragung vorzubereiten.[13] Eine problematische Rolle nimmt ebenfalls der Ausschussvorsitzende Hartmut Honka (CDU) ein, der durch Suggestivfragen den ZeugInnen aus den Ämtern die Möglichkeit bietet, etwaige Widersprüche zu ihren Aussagen aus dem Weg zu räumen.
Eine eklatante Leerstelle des Ausschusses betrifft den institutionellen Rassismus in den hessischen Behörden.[14] Da die Polizei nach der Tat zunächst gegen Andreas Temme ermittelte, wird behauptet, es habe in Hessen keine rassistischen Ermittlungen gegeben. Dabei wurde die Familie Yozgat mit unverhältnismäßigen Abhörmaßnahmen ausgespäht, da befürchtet wurde, der Vater könnte wegen seines „ethnisch kulturellen Hintergrunds“ Rache an Temme üben.[15]
Einige Details konnte der Ausschuss jedoch herausarbeiten. So behaupteten MitarbeiterInnen des Verfassungsschutzes lange Zeit, man habe Temmes V-Mann Benjamin Gärtner („Gemüse“), auf die rechtsextreme Deutsche Partei (DP) angesetzt. Die Sachverständige Andrea Röpke hatte dem widersprochen: Die DP sei unbedeutend gewesen und für das Amt ohnehin G.’s Stiefbruder, der damalige Kasseler Blood&Honour-Chef, interessanter.[16] Mittlerweile konnte der Ausschuss in dieser Sache Widersprüche offenlegen.[17] In den letzten beiden Sitzungen 2015 wurde durch Zeugen des Verfassungsschutzes dargelegt, dass Gärtner zwischenzeitlich „umgesteuert“ wurde und nicht mehr über die DP berichtet habe. Ein zeitweiliger V-Mann Führer von Gärtner gab sogar zu Protokoll, die DP gar nicht zu kennen, was die Frage aufwirft, was der Beamte dann mit seinem V-Mann besprochen hat.
In Hessen gibt es zudem ein Novum gegenüber den anderen Untersuchungsausschüssen: Für Februar und März 2016 wurden mehr als zehn Neonazis als Zeugen in den Ausschuss geladen, darunter viele aktuelle und ehemalige Szene-Größen aus Hessen, die sich an militanten Aktionen und erheblichen Straftaten beteiligt haben.
Obwohl der Ausschuss noch bis 2018 arbeiten kann, werden bereits jetzt Rückschlüsse aus der NSU-Mordserie gezogen: Die von der hessischen Regierung einberufene Expertenkommission hat im Oktober 2015 einen Bericht vorgelegt, der den hessischen Behörden „Lerneffekte“ bescheinigt und mehr Personal für den Verfassungsschutz fordert. Prompt erhielt das Amt 55 neue Stellen.
Nordrhein-Westfalen: Rücktritte und neonazistische Szene
Zwischen den NSU-Morden in Kassel und Dortmund gibt es Verbindungen, nicht nur wegen ihres engen zeitlichen Zusammenhangs. Recherchen belegen eine Vernetzung zwischen den lokalen rechten Szenen. Im Fokus steht hierbei die Oidoxie Streetfighting Crew, eine militante Gruppierung, die u.a. den Saalschutz für die rechte Musikgruppe Oidoxie organisiert.[18] Sowohl der NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen als auch der in Nordrhein-Westfalen müssen daher prüfen, ob der NSU auf UnterstützerInnen der rechten Szene zurückgreifen konnte. In NRW ereignete sich neben dem Mord an Mehmet Kubaşık auch der Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße 2004. Obwohl es sich bei der Keupstraße um ein migrantisch geprägtes Viertel handelte, hatten die Ermittlungsbehörden, der Verfassungsschutz und auch der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) seinerzeit einen rechten oder rassistischen Hintergrund des Anschlags ausgeschlossen. Stattdessen wurden umfangreiche Observationen und Ermittlungen gegen die Opfer und AnwohnerInnen durchgeführt. Weiterhin hat der NSU-Prozess ergeben, dass ein weiterer Bombenanschlag 2001 auf ein iranisches Geschäft in der Kölner Probsteigasse stattgefunden hat. Bei diesem Anschlag ist bemerkenswert, dass die Inhaberschaft des Ladens ohne Ortskenntnis nicht bekannt sein dürfte.[19]
Das Beispiel NRW belegt zudem, dass der Wille zur Aufklärung (bzw. sein Fehlen) nicht von parteipolitischen Farben abhängig ist. Hier war es eine Regierungskoalition aus SPD und Grünen, die einen Ausschuss zunächst ablehnte. Er wurde dann auf Drängen der Opposition eingesetzt. Überschattet wurde der Ausschuss zudem durch den Rücktritt seiner Vorsitzenden Nadja Lüders (SPD). Sie hatte 1999 als Anwältin den Neonazi Michael Berger vertreten, dies jedoch erst im März 2015, drei Monate nach Einsetzung des Ausschusses, offen gelegt.
Positiv zu werten sind die Sachverständigenanhörungen. Die geladenen ExpertInnen behandelten den NSU-Komplex in seinem gesamtgesellschaftlichen Kontext und konnten profundes Wissen über die rechte Szene NRW mitteilen. Die eigentliche Aufklärungsarbeit verlief aber ebenfalls schleppend: So wurde über mehrere Monate kein geeigneter Raum im Landtag eingerichtet, in dem eine Einsicht in geheimhaltungsbedürftige Akten möglich gewesen wäre.[20]
Aufklärung über rechte Szene nutzen
Die bisherige Arbeit der Untersuchungsausschüsse in den Ländern ist durchwachsen. Viele Ausschüsse stießen zunächst auf Ablehnung und die eigentliche Aufklärung ist durch einen gewissen Unwillen geprägt, größere Kontexte des NSU-Komplexes zu bearbeiten. Problematisch ist vor allem, dass ungeachtet laufender parlamentarischer Untersuchungen viele Landesregierungen bereits sicherheitspolitische Konsequenzen gezogen haben: Oft bedeutet dies mehr Geld und Personal für die Verfassungsschutzämter. Ironischerweise geht der Verfassungsschutz aus seiner größten Legitimationskrise sogar gestärkt hervor. Dies ist das Resultat eines Narrativs, der die NSU-Mordserie vorrangig als Ausdruck eines ineffizienten Behördenapparats deutet, dem durch bessere Koordination und mehr Personalmittel beizukommen sei. Grundlegende Analysen, die insbesondere den institutionellen Rassismus oder die oft problematische Einschätzung der rechten Szene durch die Behörden zum Gegenstand haben, sind demgegenüber marginalisiert.
Doch die aktuelle Aufklärung im NSU-Komplex birgt Potenzial. Noch nie wurde so flächendeckend die rechte Szene mit ihren Strukturen und Gruppierungen durch Parlamente aufgearbeitet. Mitunter ergeben sich auch Synergieeffekte zwischen den Ausschüssen und dem NSU-Prozess. Da der Nebenklage im Münchner Strafprozess oft keine Einsicht in die Akten der Sicherheitsbehörden gewährt wird, ist sie auf die Arbeit der Ausschüsse angewiesen. Beweisanträge in München können dadurch zustande kommen, dass die Erkenntnisse der Ausschüsse entsprechende Ansatzpunkte liefern. Eine gute Wirkung zeigte die Arbeit des thüringischen Ausschusses.
Schließlich ist für die Aufklärung im NSU-Komplex von Relevanz, dass die üblichen Parteilogiken ein großes Hindernis darstellen. Galt das Untersuchungsrecht traditionell als Kampfmittel der Opposition gegen die Regierung, haben beispielsweise die ersten Untersuchungsausschüsse im Bund und in Thüringen eindrucksvoll gezeigt, wie ein gemeinsames Vorgehen der ParlamentarierInnen tatsächlich dazu beitragen kann, Zeugen aus den Sicherheitsbehörden in die Enge zu treiben und Widersprüche oder sogar Erkenntnisse öffentlich zu machen. Der hessische Untersuchungsausschuss zeigt demgegenüber das genaue Gegenteil.