Literatur

Zum Schwerpunkt

Die Digitalisierung der Polizeiarbeit war und ist ein bürgerrechtliches Dauerthema. Denn was die Apparate sich von ihrer technischen Modernisierung versprechen, das stellt sich für deren Kritiker*innen als Bedrohung dar: Wirksamkeitshoffnungen stehen Wirksamkeitsbefürchtungen gegenüber. Für Bürgerrechte & Polizei/Cilip steht im Zentrum, wie durch „Technik“ die Definitionsmacht, die Ressourcen und Handlungs­optionen von Polizei und Geheimdiensten gegenüber Bürger*innen wachsen, wie technik- bzw. edv-gestützt Grundrechte ausgehöhlt werden. Mit dem Schwerpunkt dieses Heftes gehen wir gewissermaßen einen Schritt zurück, indem wir zunächst nur beleuchten, wie die Digitalisierung polizeiliches Handeln verändert oder verändern wird. Für die Modernisierungsbefürworter*innen in den Apparaten steht hingegen eine andere Perspektive im Zentrum: Sie sehen die Behörden im ständigen Wettlauf mit Gefährder*innen und Straftäter*innen, die in jeder technologischen Weiterentwicklung neue und perfidere Straftaten (oder schädigendes Verhalten) entdecken. Digitalisierung der Polizei muss der Digitalisierung der Kriminellen folgen, so der Tenor. Und damit sie dies tun kann, müssen Ressourcen, Personal und rechtliche Befugnisse geschaffen werden. Was die Digitalisierung im polizeilichen Alltag bedeutet, kommt auch in diesen Diskussionen nur am Rande vor.

Rüdiger, Thomas-Gabriel; Bayerl, Petra Saskia (Hg.): Digitale Polizeiarbeit. Herausforderungen und Chancen, Wiesbaden (Springer VS) 2018, 301 S.

Dieser Sammelband kann exemplarisch für die Diskussion in Deutschland genannt werden. Es überwiegen zwei Perspektiven: Erstens, dass die Polizei nicht gerüstet sei und dringend gerüstet werden müsse, um den neuen Gefahren („Cybercrime“ etc.) entgegentreten zu können: technische Ausstattung, Kooperationen mit der IT-Industrie, Qualifikation und Rekrutierung des Personals. Und zweitens, dass in der Digitalisierung auch Chancen für die Arbeit der Polizei lägen, etwa indem sie Soziale Medien nutzt oder Bürgernähe digital gewährleiste.

Hering, Andreas; Vera, Antonio: Polizei 4.0 und digitale Arbeitswelt: Eine qualitativ-empirische Untersuchung am Beispiel der Polizei NRW, in: Ritsert, Rolf; Vera, Antonio (Hg.): Management und Organisation in der Polizei. Studien zu Digitalisierung, Change Management, Motivation und Arbeitsgestaltung, Wiesbaden (Springer Gabler) 2020, S. 199-260

Der Beitrag untersucht beispielhaft die Auswirkungen der polizeilichen Digitalisierung auf den „Arbeitsplatz Polizei“. Im Kern geht es dabei um die Auswertung von acht qualitativen Interviews, die mit (leitenden) Po­li­zeibeamt*innen geführt wurden. Die Herausforderungen, vor denen die Polizeien stehen, reichen von der Gestaltung der flexibilisierten Arbeitszeiten, über das Gesundheitsmanagement bis zu den Kriterien der Personalauswahl oder dem „war for talents“ mit der Industrie. Wie ein solcher Innovationsschub die Polizeiarbeit qualitativ – in ihrer Ausrichtung, ihren Handlungslogiken, ihren Entscheidungsabläufen – verändern wird, das wird nicht betrachtet.

Hauber, Judith: Postfaktizität und Predictive Policing, in: Lange, Hans-Jürgen; Wendekamm, Michaela (Hg.): Postfaktische Sicherheitspolitik. Gewährleistung von Sicherheit in unübersichtlichen Zeiten, Wiesbaden (Springer VS) 2019, S. 191-209

Hauber ist Mitarbeiterin der Kriminologischen Zentralstelle der Polizei Hamburg. Sie fasst die Ergebnisse ihres Forschungsprojekts zur „vorhersagebasierten Polizeiarbeit“ zusammen. Im ersten Teil werden die verschiedenen Versuche, Kriminalitätsbekämpfung mittels Predictive Policing zu betreiben in den Bereich des Postfaktischen verwiesen, weil sie mit ungeprüften theoretischen Versatzstücken und unzureichenden Operationalisierungen auf der Basis unklaren empirischen Wissens arbeiten und deshalb Wirksamkeit behaupten statt erzielen. Auf der Basis dieser Kritik entwickelt Hauber das Modell einer „problemorientierten Kriminalpolitik“, in der „Technik lediglich als Hilfsmittel der polizeilichen Informationsverarbeitung zum Einsatz kommen“ soll. Damit werden die Visionen der Digitalisierer*innen auf ein klassisches Maß gestutzt: Die EDV schafft kein Wissen neuer Qualität, sondern sie soll helfen, dass die Polizei ihre Arbeit (besser, effektiver etc.) tut. Eingebunden werden sollen die EDV-Anwendungen in das Konzept der „problemorientierten Polizeiarbeit“, das seit Anfang der 1990er Jahre von Herman Goldstein entwickelt wurde. Die aufgrund theoretischer Annahmen programmierte Software führt zu einer „Identifikation und Analyse des Kriminalitätsproblems“, so dass die ihm zugrundeliegenden Probleme offenbart und dann gelöst werden können. Offen bleibt, wie die polizeiliche Praxis dazu bewegt und befähigt werden soll, kriminologischen Erkenntnissen zu folgen. Und fast noch wichtiger: Welche Kriminalitätsprobleme sind denn kausal (bei Goldstein „problem solving“) durch die Polizei lösbar?

Houy, Constantin; Gutermuth, Oliver; Dadashnia, Sharam; Loos, Peter: Digitale Polizeiarbeit, in: Klenk, Tanja; Nullmeier, Frank; Wewer, Göttrik (Hg.): Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, Wiesbaden (Springer VS) 2019 (eBook)

Der Aufsatz gibt auf zehn Seiten einen knappen Überblick über die Felder „digitaler Polizeiarbeit“. Einerseits werden die Notwendigkeiten und Chancen „elektronischer Hilfsmittel“ gesehen, andererseits dürften deren Risiken (etwa die „Diskriminierung von Personen“) nicht vernachlässigt werden. Zwei Anwendungsfelder („Predictive Policing“ und „Mobile digitale Polizeiarbeit“ werden ebenso kurz vorgestellt wie die Pilotprojekte in den Bundesländern. „Big Data“ werde an Bedeutung für Kriminalitätsbekämpfung und -prävention zunehmen; die Digitalisierung biete „organisationale Effizienzpotenziale“, die die Arbeit „beschleunigen“ und „das Informationsmanagement verbessern können“.

Bergien, Rüdiger: „Big Data“ als Vision. Computereinführung und Organisationswandel in BKA und Staatssicherheit (1967-1989), in: Zeithistorische Forschungen 2017, S. 258-285

Dieser lesenswerte Aufsatz beleuchtet die Frühphase der Digitalisierung in den staatlichen Sicherheitsapparaten – origineller- und erhellenderweise im Vergleich von Bundeskriminalamt und dem Ministerium für Staatssicherheit. Erstaunlich sind nicht nur die Parallelität der Entwicklung, sondern auch die jeweiligen Widerstände in den Apparaten, die den Visionen der Computerenthusiast*innen erfolgreich entgegengebracht wurden. Unterhalb des „großen Wurfs“ von Zentralisierung und Vereinheitlichung findet aber ein institutioneller Wandel statt, der die Polizei langfristig verändert, etwa indem die Bedeutung von EDV-Spezialist*innen gegenüber den Cop Culture-Sozialisierten wächst. Wie weit dieser Einfluss geht und was er für die Ausrichtung von Polizeiarbeit bedeutet, bleibt allerdings offen.

Aus dem Netz

www.police-it.org 

Wer sich über den Stand der Digitalisierung der deutschen Polizeiarbeit informieren möchte und sich nicht auf die spärlichen Informationen der Behörden und Ministerien verlassen möchte, muss diese Seite besuchen. Annette Brückner, von 1993 bis 2013 mit der Konzeption und Entwicklung polizeilicher Informationssysteme im In- und Ausland befasst, beschreibt sich selbst als „Kopf hinter POLICE-IT“. Als Ziel ihres Portals benennt sie: „Bürger – von denen jeder mehr oder minder freiwillig Lieferant für polizeiliche Informationssysteme sein kann – aber auch Polizisten, Anwälte, Juristen, Journalisten und Politikern fachliches und technisches Know-How zur Verfügung zu stellen, damit sie besser verstehen, was sich hier vor ihrer aller Augen entwickelt.“

Jenseits von „Tipps und Tricks“, die sich an die Anwender*innen in den Behörden wenden, sind die Informationen in drei Bereiche gegliedert: Unter „Home“ befindet sich der POLICE-IT Blog, in dem laufend Beträge zu aktuellen Themen veröffentlicht werden. Über den RSS Feed sind diese Meldungen abonnierbar. Der Blog ist über Kategorien erschließbar, die über die Sitemap zugänglich sind. In der Rubrik „Glossar“ werden wichtige Begriffe, Institutionen und Akteur*innen erklärt. Hier erfährt man, was CRIME oder wer Rola Security Solutions ist. Im dritten Informationsbereich befinden sich – gegenwärtig sechs – Dossiers. Dabei handelt es sich um die thematische Zusammenstellung der verschiedenen Berichte die auf POLICE-IT erschienen sind, wie beim „INPOL-Dossier“, oder um fortlaufende Berichte, etwa zum Komplex „Hessendata/Palantir“: Dort finden sich nicht nur Informationen, z.B. zum Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags, die man auch der Tagespresse entnehmen könnte. Vielmehr wird man in diesem Dossier auch über die Funktionsweise des Systems „Hessendata“ so informiert (etwa in Teil 5 vom November 2018), dass auch Lai*innen verständlich wird, wie es funktionieren soll. Regelmäßig werden Quellen und Bezugsdokumente in den Dossiers und Meldungen genannt.

Die Suchfunktion von POLICE-IT erlaubt eine Freitextsuche über das gesamte Informationsangebot und eine Einschränkung über den Erscheinungszeitraum (Monatsarchiv). Wer spezifische Informationen sucht, wird schnell fündig werden.

Sonstige Neuerscheinungen

Eick, Volker; Arnold, Jörg (Hg.): 40 Jahre RAV. Im Kampf um die freie Advokatur und um ein demokratisches Recht, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2019, 423 S., 35,– EUR

Es gibt Institutionen, die müsste man erfinden, wenn es sie nicht schon gäbe. Der „Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein“ gehört zweifellos in diese Kategorie. Denn dass Jurist*innen sich ihrer politischen Funktion und ihres professionellen Auftrags bewusst sind und dass sie daraus Motivation und Engagement zum kollektiven Handeln entwickeln, das ist der demokratisch gebotene Ausweg aus der Ambivalenz des Rechts: Einerseits im Rahmen der geltenden Rechtsordnung das anwaltschaftliche Mandat „in freier Advokatur“ wahrzunehmen, d.h. das Recht für alle und frei von staatlichen Eingriffen zur Geltung zu brin­gen und darin die Chance zu sehen, „Recht“ gerade auch für „sozial schwache“ Gruppen durchzusetzen. Und anderseits die Rechtsordnung als Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen wahrzunehmen, die verändert werden muss, wenn ihr „Klassencharakter“ – um diesen altmodischen Begriff zu nutzen – nicht überhand nehmen soll.

Nun hat der RAV zu seinem 40ten sich und der Öffentlichkeit ein Geschenk gemacht, indem er einen Band vorgelegt hat, der Einblicke in seine Entstehungsgeschichte und sein Selbstverständnis, in die Breite seiner thematischen und strategischen Ausrichtung und in die Optionen zukünftiger Entwicklung gibt. Der Band versammelt insgesamt 37 Beiträge aus den Reihen des RAV (und befreundeter Organisationen), die in acht Kapiteln präsentiert werden: Dabei gelten die Kapitel 6-8 den eher institutionellen Aspekten: Rück- und Ausblick (Kap. 6), Berichte aus der „Gründergeneration“ (Kap. 8) und der Blick der „Partner“ auf den RAV (Grundrechtekomitee, Humanistische Union …, Kap. 7). Die ersten sechs Kapitel gelten der im engeren Sinne inhaltlichen Seite der RAV-Arbeit: Rechtstheorie und -kritik, Rechtspolitik und Rechtsruck, Kriminalpolitik, Anwaltspraxis und die Gefährdung des Rechtsstaats sowie „Sicherheitsrecht und Rechtsstaat“. Unter diesen Überschriften sind ganz unterschiedliche Beiträge versammelt: von der Missachtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch den Bundesgerichtshof, über die Rolle der Nebenklagevertretung in Verfahren wegen rechtsextremistisch motivierter Straftaten, bis zur Prozessbeobachtung in der Türkei oder zur Reform des Sexualstrafrechts. Was in diesen Teilen präsentiert wird, sind nicht die Positionen des RAV, sondern das Spektrum der fachlichen Auseinandersetzungen, die sich aus dem in der Präambel der Satzung formulierten Ziel ergeben, das „Recht … zugunsten des oder der Schwächeren zu nutzen und zu entwickeln“.

Zwei exemplarische Blicke, warum die Lektüre des Bandes lohnend ist. Zunächst zur rechtspolitischen Diagnose aus Sicht des RAV. Der gegenwärtige Vorsitzende Peer Stolle schreibt, es stehe „die Möglichkeit im Raum, dass sich in Europa eine neue Form des Faschismus entwickeln kann“ (S. 342). „Autoritärer Sicherheitsstaat“ oder „Sicherheitsgesellschaft“ – beide vorher von Stolle zitierten Charakterisierungen treffen die antidemokratischen Gefahren vermutlich treffender als die Bilder, die mit „Faschismus“ hervorgerufen werden. Am anderen Ende der Einschätzungen liegt der Beitrag von Wolfgang Wieland, wie dem informativen Anhang zu entnehmen ist, RAV-Vorsitzender von 1989-1996. Er ruft dazu auf, die Erfolge der eigenen Arbeit in Rechnung und sich den Realitäten zu stellen, statt „unterkomplex“ immer dieselben Antworten zu geben. „Wem vierzig Jahre“, so Wieland, nichts anderes einfalle als die „Warnung ‚Es ist Fünf vor Zwölf‘, für den muss ansonsten die Zeit stehen geblieben sein.“ (S. 397) Hier werden wohl Sensibilität und Alarmismus verwechselt. Und um bei der Metapher zu bleiben: Bei der Uhr, die den Abbau von demokratischen Standards zählt, gibt es immer wieder eine zwölfte Stunde, die besser nicht anbrechen sollte.

Der zweite Blick fällt auf jene Beiträge, die sich direkt mit den Apparaten beschäftigen – vornehmlich mit der Polizei, bei Udo Kauß und Rolf Gössner explizit mit dem „Verfassungsschutz“. Auf die Polizei blicken die RAV-Autor*innen vor allem unter der Perspektive der Entgrenzungen. Das beginnt im 1. Kapitel mit Volker Eicks Aufsatz zum Aufstieg der privaten Sicherheitsdienstleister als Ausdruck der Kommerzialisierung von öffentlicher Sicherheit. Im 2. Kapitel widmet sich Klaus Bartl der „Sächsischen Demokratie“, indem er den Zusammenhang zwischen strammer CDU-Dominanz, gezieltem Jurist*innen-Import aus den alten Bundesländern, einer Rechtspraxis, die gegen demokratische Kritik in Stellung gebracht wird und gleichzeitig Polizeieingriffe absegnet, sowie dem Sparkurs der Landesregierungen nachzeichnet, die der Justizkritik von rechts den Boden bereitet. Im 3. Kapitel zeichnet Roland Hefendehl am Beispiel von Freiburg im Breisgau die fragwürdige Konstruktion „gefährlicher Räume“ nach. Offenkundig wird hier, wie sachlich oberflächlich und wenig überzeugend die Deklaration derartiger Räume ist. Nicht die Räume sind gefährlich, sondern die Sonderrechte, die der Polizei mit dieser Rechtsfigur eingeräumt werden.

Aus den Beiträgen im 4. Kapitel wird deutlich, was „Anwaltspraxis“ im RAV-Verständnis bedeutet. Zwei Beispiele: Gabriele Heinecke stellt die „politische Justiz“ im Kontext des G20-Gipfels 2017 am Beispiel des 18-Jährigen Fabio V. dar, dem ein besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs vorgeworfen wird (Indiz: schwarze Jacke, dunkle Turnschuhe). Anna Luczak (S. 207 ff.) schildert die Vorgänge rund um den „Anwaltlichen Notdienst G8 Heiligendamm“ im Sommer 2007. Sie beginnt mit den bundesweiten Hausdurchsuchungen und verdeckten Überwachungen im Vorfeld des Gipfels (erst im Herbst stellt der Bundesgerichtshof fest, dass die Rechtsgrundlage für diese Maßnahmen nicht erfüllt war). Im nahen Vorfeld und während des Gipfels wehrten sich die Anwält*innen gegen die polizeilichen Allgemeinverfügungen und die Einschränkungen des Versammlungsrechts. Dies gelang nur eingeschränkt, u. a. auch deshalb, weil die Gerichte mit gezielten polizeilichen Falschinformationen versorgt wurden. Als Schwerpunkt der Arbeit wird der anwaltschaftliche Kampf gegen die über 1.000 polizeilichen Freiheitsentziehungen geschildert: beginnend bei den praktischen Schikanen, überhaupt Kontakt zu den in den „Gefangenensammelstellen“ Einsitzenden zu erhalten, über die teils unwürdige Käfighaltung bis zu dem Umstand, dass es der Polizei in der Mehrzahl der Fälle darum ging, die Betroffenen auf polizeirechtlicher Basis für einige Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. Der „Ausnahmezustand“ ist offenkundig eine Frage des politisch-polizeilichen Willens. Und anwaltschaftlich muss man sich mit kleinen – mitunter erst nachträglich eintretenden – Erfolgen zufrieden geben. (alle: Norbert Pütter)

Wächtler, Hartmut: Widerspruch. Als Strafverteidiger in politischen Prozessen, Berlin (TRANSIT-Verlag) 2018, 173 S., 20,00 EUR

Hartmut Wächtler, Jahrgang 1944, gehört zu den renommiertesten politischen Strafverteidiger*innen in Deutschland. Dabei war das ursprünglich gar nicht so klar, denn zunächst hatte er sich für das Jurastudium nur entschieden, „weil man dort ein weites berufliches Spektrum hatte und sich nicht so schnell würde entscheiden müssen“ (S. 164). An der erz­konzervativen Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, die wie andere Unis auch, noch munter von Ex-Nazis durchsetzt war, geriet er dann in den Strudel der aufbegehrenden Studentenschaft der 1968er Jahre. So erlebte er die seinerzeitigen politischen und juristischen Repressalien aus erster Hand, engagierte sich in der „Rechtshilfe der APO“ und wurde 1973 schließlich Rechtsanwalt und Strafverteidiger. In diesem Buch schildert er einige seiner zahlreichen Fälle – wie die Verfahren gegen Rolf Pohle (S. 69) und Ulrike Meinhof (S. 85), den Berliner Tenno-Prozess (S. 109) oder die zahlreichen Verhandlungen im Zusam­menhang mit dem Widerstand gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf (S. 130) – ebenso wie damit verbundene juristische Schikanen gegen sich selbst. Das alles präsentiert er recht detailgetreu, mit sarkastischem Humor und auch nicht ohne Selbstironie. Eine seiner Erkenntnisse dabei etwa lautet: „Die Justiz damals wie heute schätzt eine zu genaue Protokollierung der Verhandlung nicht“ (S. 75).

Für die Älteren (auch außerhalb Bayerns) ist sein Buch grausig amüsant und es kommen dabei auch immer wieder eigene, längst vergraben geglaubte Erinnerungen hoch. Für Jüngere dürfte vieles als kaum nachvollziehbare Vergangenheit erscheinen. Lesenswert ist es auch für sie. Denn was alles so passieren kann, zeigt der Fall um „Ricarda“ (S. 169ff.) – aus dem Jahre 2017, und das ist schließlich noch nicht so lange her. (Otto Diederichs) 

Theune, Lukas: Polizeibeamte als Berufszeugen im Strafverfahren. Baden-Baden (Nomos) 2020, 281 S., 74,– EUR

Die Praxisrelevanz der Berufszeug*innen im Strafverfahren ist unbestritten. Sie sind in einer Vielzahl von Hauptverhandlungen als Ermittlungsbeamt*innen, aber auch als unmittelbare Tatzeug*innen von zentraler Bedeutung und besitzen dort mit den Worten des Kriminologen Fritz Sack die „Herrschaft über die Wirklichkeit“. Umso mehr überrascht es, dass dieses Thema in der juristischen Wissenschaft, abgesehen von wenigen Fachaufsätzen und Anmerkungen in Lehrbüchern, bislang kaum einen größeren Niederschlag gefunden hat. Diese Forschungslücke schließt nun Rechtsanwalt Lukas Theune mit seiner Promotionsarbeit.

Die von Prof. Tobias Singelnstein (Ruhr-Universität Bochum) betreute Arbeit stellt eine systematische Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Besonderheiten dieser Zeug*innengruppe dar und analysiert den Umgang der Strafjustiz mit diesem Beweismittel. Beschrieben wird etwa die Tatsache, dass Polizeizeug*innen von der Justiz eine ganze Reihe von nicht-kodifizierten Sonderrechten eingeräumt wird, welche im deutlichen Widerspruch zu den Regelungen der Strafprozessordnung stehen. Hierzu gehören etwa das von der Rechtsprechung nicht hinterfragte vermeintliche Recht dieser Zeug*innengruppe, sich durch das Lesen der eigenen schriftlichen Aussage (und vielfach auch der Aussagen der Kolleg*innen) auf die Gerichtsverhandlung vorbereiten zu dürfen, und sich keiner Vernehmung unterziehen zu müssen, sondern die Aussage in Form eines schriftlichen Vermerks zu den Akten zu reichen.

Ein Schwerpunkt stellt dabei die Darstellung der Forschungsergebnisse zu den aussage- und wahrnehmungspsychologischen Eigenarten der Polizeizeug*innen dar. Also etwa die Frage nach den Umständen, unter denen eine Aussage entstanden ist, welche Motivation dem Aussageverhalten zugrunde liegt oder welche Bedeutung die berufsbedingte Routine sowie Gruppenvorurteile und Feindbilder haben. Aber auch die Untersuchung der Bedeutung des polizeilichen Korpsgeistes, der „Cop Culture“ und des Konformitätsdrucks für die Glaubhaftigkeit der Zeug*innenaussage.

Die gewonnenen aussagepsychologischen Erkenntnisse wurden von Theune in einem zweiten Schritt in Form von qualitativen Expert*in­nen­interviews überprüft. Dabei wurden Richter*innen, Staatsanwält*innen und Verteidiger*innen als Spezialist*innen mit dem notwendigen forensischen Praxiswissen befragt. Untersucht wurde dabei die Frage, ob die Aussagen von Berufszeug*innen vor Gericht eine gegenüber sonstigen Zeug*innen besondere Würdigung erfahren. Als Ergebnis ist festzustellen, dass Richter*innen und Staatsanwält*innen ein besonderes Vertrauen in die Richtigkeit der Angaben von Polizeizeug*innen besitzen. Es bestätigt sich damit die allgemeine Erfahrung von Strafverteidiger*innen, wonach diese Zeug*innen beim Gericht ein besonderes Ansehen besitzen und eine Art „Zeug*innen 1. Klasse“ darstellen. Die Richter*innen haben regelmäßig weder das erforderliche Fachwissen noch ein Interesse daran, die Glaubhaftigkeit dieser Aussagen intensiv zu überprüfen. Ihnen dienen die Aussagen der Polizeibeamt*innen pragmatisch dazu, den Akteninhalt aus dem Ermittlungsverfahren ohne kritische Überprüfung vollständig in die Hauptverhandlung einzuführen.

Resümierend schreibt der Autor: „Die klassische Funktion der Judikative als die Exekutive kontrollierende und überprüfende Gewalt wird von den Gerichten vernachlässigt; vielmehr herrscht ein Gefühl des gemeinsamen Auftrags der Strafverfolger von Polizei über Staatsanwaltschaft bis hin zum Gericht vor, das ein besonderes Näheverhältnis und Vertrauen mit sich bringt.“ Es wäre wünschenswert, wenn das Buch von Lukas Theune den Weg auf jeden Strafrichtertisch finden würde. (Ulrich von Klinggräff)

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