Die Neoliberalisierung des Sexuellen: Wie der Geschlechterkonflikt vermarktet wird

von Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann

Fortlaufende Sexualskandalisierungen verweisen auf ein einheitliches Syndrom: die Krise der männlich-hegemonialen Sexualität. Das Strafrecht wandelt sich derweil gerade in diesem Feld vom fragmentarischen Regelwerk zum Allheilmittel gegen intime Konfliktlagen, wobei nur eine kurzzeitige Befriedung des Konfliktfeldes eintritt.

Die Fälle übergriffigen, triebhaften und gewalttätigen Handelns von Männern gegenüber Kindern und Frauen lösen regelmäßig heftige öffentliche Entrüstung aus. Immer neue Schutzlücken werden im Strafrecht gefunden, deren Schließung über weitere Straftatbestände und Strafverschärfungen nur kurzzeitig als Erfolg verbucht wird. Denn trotz allem legislativen Aktionismus im Sexualabschnitt zeichnen sich schon wieder die nächsten Problemlagen ab, für die nur das schärfste Schwert des Staates als gerade angemessen erscheint.

Grundlegend für die Sexualskandalisierungen ist die Erweiterung des Gewaltbegriffs. Lieferte zunächst ein physisch-materieller Gewaltbegriff im Sinne des Konzepts der Verletzungsmacht und -offenheit von Heinrich Popitz[1] den Maßstab für die strafrechtliche Regulation des Sexuellen, erweiterte die Frauen- und Geschlechterforschung den klassischen Gewaltbegriff, weil er die geschlechtlich unterschiedliche Wahrnehmung von Gewalt übersehe. Maßgebend wurde nunmehr Galtungs[2] Konzept der strukturellen Gewalt, das die physisch-materielle Verankerung verlässt. Der Gewaltbegriff wird um eine symbolische Dimension der sozialen Ordnung erweitert und tendiert nunmehr dazu, subjektiviert und damit uferlos zu werden. Statt der manifesten Kennzeichen, die sich an der Verletzung der Körper festmachen, wird damit das individuelle Erleben und Bewerten entscheidend.

Der Gewaltbegriff operiert im Sozialen, lässt sich dort aber nicht mehr recht einfangen. Zwar ergeben sich aus den dominanten Gewaltdiskursen gesellschaftliche Einigungen darüber, was jenseits des körperlichen Zwangs als Gewalt eingeschätzt wird. Aber diese Definitionen bleiben vage und sind nur vorläufig gültig, bis innerhalb kurzer Zeit weitere Sachverhalte als gewalttätig und regulierungsbedürftig hinzugenommen werden. So erweitert sich das als Gewalt verstandene Handlungsspektrum fortlaufend, bei dem Machtgefälle, Dominanzverhalten, Hegemonialität, Manipulation und andere Hierarchien gefunden werden. Die Sexualskandalisierungen der letzten Jahrzehnte sind ganz wesentlich durch die Aushandlung darüber befeuert worden, inwieweit Gewalt vorliegt, obwohl der unterlegene Teil physisch unversehrt geblieben ist, aber nur der Anschein eines Konsenses vorliegt. Eben die Bedingungen des Konsenses werden damit problematisiert, wodurch Zustimmungsfähigkeit und Informiertheit der Akteur:innen zu den Kernfragen der neuen sexuellen Verhandlungsmoral werden.

Geöffnet wurde das Feld der aktuellen sexuellen Problemdiskurse als Ausdruck struktureller patriarchaler Gewalt über das kindliche Opfer sexueller Adressierungen in den 1960/70er Jahren. Hierfür mussten zunächst die heute als Vergewaltigungsmythen bezeichneten Narrative in der Öffentlichkeit dekonstruiert werden, die die Akteur:innen sexueller Gewalt in einer Mischkonstellation der Schuld miteinander verbanden. Die Überzeugung, wonach selbst dem kindlichen Opfer, erst recht aber den Frauen unterstellt wurde, den Mann zu seinem Handeln verführt, zumindest aber leichtfertig die Gelegenheit geboten zu haben, unterstellte allen Beteiligten einen Wunsch nach Übertretung sittlicher Normen (im Volksmund „Vergewohltätigung“). Sexuelle Gewalt unter dem Gebot der Sittlichkeit war mithin ein Delikt, das in erster Linie die Moral verletzte und erst nachrangig konkrete Individuen. Der Mann galt ohnehin als anfällig, seinen starken Trieben zu erliegen („Dampfkesseltheorie“). Sexuelle Regelbrüche gehörten zur normalen sexuellen Reaktion des Mannes auf herausfordernde Situationen. Die Einhaltung sittlicher Maßstäbe oblag mithin den Frauen. Mit gebotener Zurückhaltung und Scham sollten sie diese Kräfte zügeln. Selbst sexuell adressierten Kindern haftete der Verdacht an, frühreif und ungezogen den Mann provoziert zu haben. Die Normalisierung sexuell unsittlicher Verhaltensweisen machte so auch die heute so überpräsente Figur des Pädophilen als Aggressor schlechthin verzichtbar, um intergenerationelle Sexualkontakte zu erklären. Er führte bis Ende der 1970er Jahre eine blasse bis übersehene Existenz.[3]

Die Durchsetzung der Idee der sexuellen Selbstbestimmung, die zwar strafrechtlich bereits 1973 festgeschrieben wurde, aber in der Öffentlichkeit noch längst nicht angekommen war, gelang erst mit einer ganzen Reihe von Gefährdungsdiskursen um das kindliche Opfer. Das Kind wurde ins Feld geführt, nachdem die erwachsene Frau als Sexualopfer die breite Öffentlichkeit nicht davon überzeugen konnte, die tradierten Vorstellungen von der sittlichen Einhegung des Sexuellen aufzubrechen. Die feministischen Kampagnen der 1970/1980er Jahre etwa zur Pornografie sprachen nur ein kleines Publikum an. Das Kind als Sexualopfer konnte indes auf bereits vorhandene Überzeugungen setzen, wonach ihm eine natürliche Unschuld und Schutzbedürftigkeit zukommt. Plakative sexuelle Gefährdungsdiskurse mit starken Täter-Opfer-Kon­trasten verhalfen dazu, allmählich das Kind vom Verdacht der Mitschuld an seiner Viktimisierung zu befreien und es als reines Opfer männlicher Sexualgewalt anzuerkennen.[4] Hinzu kam, dass das Kind bereits seit den 1960er Jahren in Fachdiskursen als Opfer non-sexueller Gewalt thematisiert wurde. Die feministische Fortführung dieses Diskurses verschob den Akzent auf familiäre sexuelle Gewalt an Kindern (und später Frauen).[5] Mit dem ins Zentrum der Gefährdung gerückten Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern gelang so eine breit konsensfähige sexuelle Skandalisierung, in deren Windschatten sich immer neue Probleme sexueller Gewalt etablieren konnten und sehr erfolgreich mitlaufen.

Die Verkontraktualisierung der Lust

Jede sexuelle Annäherung an eine andere Person, taktil oder verbal, bedarf heute der Zustimmung – darin besteht der ‚Vertrag‘. Was vordem noch üblich war, beispielsweise das Vorgehen nach den Prinzipien von Vorpreschen-Zurückweisen bzw. Versuch-und-Irrtum, die forsche Grenzüberschreitung als Angelegenheit des Temperaments, sexualisiertes Sprechen und Anmache, das ist mittlerweile verpönt. Wer sich nicht daran hält und die Vorphase des ‚Vertragschließens‘ überspringen zu können glaubt, der bekommt Schwierigkeiten arbeits- und strafrechtlicher Art.

Noch weniger öffentlich vernehmbar zeichnen sich bereits Sexualproblematisierungen ab, in denen es um die Konsensbedingung der Informiertheit geht. Das Verständnis sexueller Gewalt wird hierbei auf die Täuschung ausgeweitet. So wurde dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange vorgeworfen, beim einvernehmlichen Sexualverkehr das geforderte Kondom unbemerkt abgezogen zu haben.[6] In anderen Fällen des Rape by deception wird das Opfer falsch über den Familienstand, die Religionszugehörigkeit, die eigentlichen Motive (z. B. bei dem bereits als Betrug strafbaren Heiratsschwindel) usw. informiert. Das erinnert ein bisschen an den 1969 aufgehobenen Straftatbestand der Beischlaferschleichung, wenn Männer den Sexualkontakt mit einem nicht eingelösten Heiratsversprechen erschwindelten.[7]

Die sexuellen Gefährdungsdiskurse haben sich also in den Jahrzehnten deutlich gewandelt. Stand zunächst das kindliche Sexualopfer im Fokus, treten nun zunehmend erwachsene Opfergruppen auf. Wurden in den früheren Missbrauchsskandalen dramatische Ereignisse verarbeitet, reichen nun weit harmlosere Vorkommnisse aus, um öffentliche Resonanz zu erzeugen. Immer feiner werden die Zwangslagen, in denen keine freie Zustimmung mehr möglich ist. Die neueren Debatten profitieren noch von den Affekten und der Botschaften der vorangegangenen Problemdiskurse. Damit muss zur öffentlichen Aufmerksamkeitserzeugung weit weniger das schlichte Unterhaltungsschema von sex & crime über gewaltstrotzende spektakuläre Falldarstellungen bedient werden. Nun kann man unvermittelt zum Kernanliegen einer Desavouierung struktureller patriarchaler Gewaltverhältnisse gelangen, indem die Vielfalt ihrer in Teilen auch vergleichsweise harmlosen situativen Manifestationen skandalisiert wird.

Trotz der weithin vollzogenen Durchsetzung des Paradigmas der sexuellen Selbstbestimmung enthalten die öffentlich skandalisierten sexuellen Gefährdungen immer noch Überhänge aus der Idee der Sittlichkeit. Die populäre und selbst in seriösen Medien verwendete Begriffsschöpfung des „Kinderschänders“ etwa verknüpft die Prominenz der Missbrauchsdiskurse mit der sittlichen Vorstellung von Schande. Das lässt sich noch deutlicher an der Bedeutung der Scham ablesen. „Indem man sich schämt, fühlt man das eigene Ich in der Aufmerksamkeit anderer hervorgehoben und zugleich, dass diese Hervorhebung mit der Verletzung irgendeiner Norm (sachlichen, sittlichen, konventionellen, personalen) verbunden ist.“[8] Richtete sich die Scham der Sexualopfer einst auf die Verletzung der moralischen Ordnung, wandelt sich der Schambezug in individualistischen Gesellschaften von seinem Gruppenbezug zu einem Gefühl des persönlichen Ansehensverlusts. So unterschiedlich die Ursprünge der Scham unter den Paradigmen der Sittlichkeit und der sexuellen Selbstbestimmung sind, im Ergebnis laufen beide Schamkonstruktionen auf die gleiche Vorstellung von Weiblichkeit hinaus. Der „Respekt vor der Scham der Opfer“ sexueller Gewalt erkennt zugleich die „gesellschaftlichen Normen, die vergewaltigte Frauen beschämen“ an.[9] In der Scham des Sexualopfers bleiben die alten normativen Vorgaben an Weiblichkeit bestehen, die sich um sexuelle Reinheit und Schande spannen. Der Wert der Frau bemisst sich dann traditionell nach ihrer Fähigkeit, „ihre Geschlechtsorgane hüten“ zu können.[10]

Die Versicherheitlichung des Intimen

Die Subjektivierung von Gewalt entspricht dem Schutzgut sexueller Selbstbestimmung. Die Konsenssexualität verwirft die normative Orientierung an Sittlichkeit und körperlicher Unversehrtheit, um den intimen Vorgang zur Verhandlungssache der Beteiligten zu machen. Konsequenterweise ist damit der Vertrag für das geschlechtlich-intime Feld das normative Gerüst geworden: In der Sexualität können sich die Beteiligten heute über alles einigen, weitgehend ohne von Verboten behelligt zu werden, sofern sie denn voll geschäftsfähig sind und frei entscheiden. Damit fügt sich dieses neuere Verständnis von Gewalt und sexueller Autonomie in den neoliberalen gesellschaftlichen Umbau. Einst war die Herstellung einer gesellschaftlichen und wesentlich auch sittlichen Ordnung, an der die Gesellschaftsmitglieder über Anpassungsanstrengungen auszurichten waren, zentral. Im Liberalismus hingegen zielen die Subjektivierungsprozesse auf rational handelnde, Kosten und Nutzen abwägende Individuen. Die politische Rationalität konzentriert sich dabei auf die Schaffung der sozialen Bedingungen, die die größtmögliche Freiheit für die Subjekte gewährleisten. Für das Feld des Sexuellen bedeutet dies, dass sich die strenge Sexualmoral der ehelichen Heteronormativität und die essentialistischen Strukturen der binären Gegensätze (Frau/Mann, Hetero-/Homosexualität, Normalität/Perversion usw.) allmählich auflösen. Dagegen positioniert sich ein Denken, das Vielfalt und Kontingenz proklamiert und dabei eine Entwicklung von den starren gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen und Rollenmodellen hin zu fluiden, hybriden Entitäten erkennt.

Neben all den gegenwärtigen Vorstößen der Dekonstruktion vor allem auch von Geschlecht bestehen die eindeutigen Vorstellungen struktureller Andersartigkeit von Frauen und Männern jedoch fort („Männer sind vom Mars …“). Und sie werden erstaunlicherweise gerade von den populären frauenbewegten Themensetzungen genährt, die fortwährend neue öffentliche Problemdiskurse um männliche Risikosexualitäten in­stallieren und damit eine Rückkehr zu überkommenen Geschlechterrollen inszenieren. Über die öffentlichen Diskurse zur Bedrohung von Frau­en – hier ähnlich den unschuldigen und wehrlosen Kindern, denen sie sich als patriarchale Opfergruppe anschließen – durch Sexualität wird die Geschlechterbinarität lebendig gehalten und emotional aufgeladen. Die gemeinsame Botschaft all der sexuellen Moralpaniken lautet: Männlichkeit bedeute Macht, die sich vornehmlich in sexueller Übergriffigkeit gegenüber Frauen und Kindern ausdrücke. Sexualität wird zunehmend einem Prozess der Versicherheitlichung unterworfen, indem sie zu einer außerordentlichen Bedrohung gerahmt wird, die nicht nur besondere, fast immer strafrechtliche Bekämpfungsmaßnahmen erfordert, sondern zugleich entpolitisiert wird. Die strukturellen Konflikte um gesellschaftliche Geschlechter- und Machtverhältnisse treten allenfalls als Hintergrundbotschaft auf, die sich der Öffentlichkeit entlang einer endlosen Reihe von Einzelschicksalen vermittelt. Aber die strukturellen Benachteiligungen etwa in der Lohnungleichheit, der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen, den Karrierechancen, dem mangelnden Mut zu Unternehmensgründungen bis hin zu mikrosoziologischen Befunden der alltäglichen Arbeitsteilung in Beruf und Familie, der ungleichwertigen Kommunikation, der Kriminalitätsfurcht usw. lassen sich nicht auf sexuelle Gewalt und nicht einmal auf einen strukturellen Sexismus reduzieren.

Die Emotionalisierung rückt die einzelne Person und ihr individuelles Leid in den Vordergrund. Gesellschaftliche Machtrelationen und ökonomische Ungleichheit werden über die persönliche Misere vermittelt und verschieben dabei ihren Problemhorizont in Richtung persönlicher Einzelschicksale. Damit erhalten soziale Problemkonstruktionen nicht einfach nur einen zusätzlichen affektiven Akzent. Vielmehr erlangen zugleich gänzlich andere Sachverhalte einen Problemstatus und verdrängen vor allem die alten sozialen Fragen um ökonomische Ungleichheit. Selbst die Addition der individuellen Dramen, die in den Dis­kursen um sexuelle Gewalt etwa in der Figur des Sexismus durchaus vollzogen wird, legt nicht die Ungleichheitsstrukturen frei, sondern ver­bleibt bei der Feststellung einer ungeheuren Vielzahl von Einzelhandlungen, die dann umso drängender nach einer strafrechtlichen Lösung verlangen. Die obsessiv betriebenen Sexualskandalisierungen folgen dem Muster fortwährender Affekthascherei und lassen die soziale Frage erst gar nicht aufkommen. Nicht komplexe Strukturen der Ungleichheit lass­en sich in dieses Unterhaltungsschema bringen, sondern die Präsentation von Einzelschicksalen, die unmittelbare Identifikationen erlauben, klare Rollen von Tätern und Opfern bezeichnen und das Unrecht emotional ansprechend zuspitzen – immer mit dem nicht in Frage gestellten Mythos unterlegt, sexuelle Gewalt sei das Schlimmste, was einer Frau widerfahren kann.

Die Versicherheitlichung des Sexuellen nahm mit der Neoliberalisierung westlicher Gesellschaften ihren Anfang. Zum einen werden autoritäre Herrschaftsstrukturen seit den 1968er Jahren in Frage gestellt. Damit kam auch die traditionelle Sexualmoral in Verruf, den Subjekten Zwang anzutun und ihrer Selbstverwirklichung im Weg zu stehen. Die gegenwärtige sexuelle Skandalisierung benutzt eben jene gegen Autoritäten und soziale Heteronomie gerichtete gesellschaftliche Stimmung, ohne indes das liberale Element mit zu übernehmen, im Gegenteil. Es ist gerade die sexuelle Befreiung, auf die die Skandalisierung des Sexuellen abzielt. Die sexuelle Libertinage gilt als Prinzip patriarchaler Überlegenheitsansprüche. Ein struktureller Sexismus setze die verbindende Klam­mer für all die Erscheinungen von harten sexuellen Übergriffigkeiten bis hin zu den alltäglichen Anspielungen und Anzüglichkeiten. Diese Klam­mer vermag selbst die heterogenen Opfergruppen von Frauen und Kindern zu einen. In den sexuellen Gefahrendiskursen werden sie gleichermaßen einerseits als erotisches und andererseits als vulnerables Subjekt inszeniert. Die sexuelle Freiheit selbst wird zum Problem gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse.

Die individualisierte Gesellschaft lässt zweitens kaum noch gesellschaftliche Ursachen von Kriminalität gelten. Nach der neoliberalen Doktrin ist noch jeder seines Glückes Schmied, und jede*r Straftäter:in eben selbst schuld. Damit verändert sich auch die öffentliche Wahrnehmung relevanter Kriminalitätsbereiche. Galten ehemals Delikte wie öffentliche Gewalt, Drogen, Raub usw. mindestens auch als sozialökonomisch verwurzelt, avanciert sexuelle Gewalt zur Master-Kriminalität, weil sie als Ergebnis emotionaler Pervertierung von Individuen daherkommt, die durch einen inneren Trieb gedrängt werden.[11] Zugleich spiegelt das Opfer ein individualisiertes Leid wider, das aus einer intimen Begegnung entstanden ist und das den Körper zum zentralen Objekt der Sorge werden lässt. Viktimisierung wirkt „als eine neue Art von citizen­ship“,[12] womit sich eine radikal privatisierte Bedeutung von Gerechtigkeit verbindet.[13] Menschen treten dann nicht mehr so sehr als freie Bürger auf, sondern vielmehr als Patient:innen, die der strafrechtlichen Fürsorge bedürfen.

Schließlich bildet sich der kleinste moralische Nenner, auf den sich eine hoch individualisierte Gesellschaft ganz unabhängig von ideologischer Orientierung und sozialstruktureller Verortung noch einigen kann, dort, wo Eindeutigkeit in der Bewertung von Vorgängen herrscht oder wo sie sich über Skandalisierungstechniken leicht herstellen lässt. War die soziale Frage lange Zeit beherrschend für Gerechtigkeitsdebatten, unter denen auch ein Thema wie Kriminalität als Folge dieser Defizite gesellschaftlicher Regulation kontrovers behandelt wurde, verschiebt sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die ehemals privaten Themen von „Sexualität, Hausarbeit, Reproduktion und Gewalt gegen Frauen“.[14] Die Gerechtigkeitsfragen und Sexualpaniken münden nicht in eine Debatte komplexer sozialer Sachverhalte, sondern in entpolitisierte Einhelligkeit über die Verwerflichkeit des jeweiligen Sachverhalts.

Sexualität als Konfliktfeld

Und die Polizei? Sie ist nicht ohne Erfolg darum bemüht, den gesellschaftlichen Strömungen zu folgen und reagiert auf die neuen Sensibilitäten. Sie sorgt sich um ihr mediales Bild und zeigt sich als Diversitätsorganisation. Daher gibt sie sich den LSBTIQ gegenüber freundlich. Es werden ‚Ansprechpersonen‘ benannt, an die sich Gewaltbetroffene wenden können. Nachdem die homosexuelle Subkultur vom Kontroll- zum Schutzfeld avanciert ist, verbleibt als zweites Tätigkeitsfeld die Sexar­beit, die sich allerdings gegen Einblicknahmen weitgehend abschirmt. Neu ist der private Raum, der früher sich selbst überlassen blieb, heute aber an die statistisch erste Stelle registrierter Vorkommnisse gerückt ist. Bei sexualstrafrechtlich meist unklarem Konfliktgeschehen der sexuellen Nötigung einschließlich Vergewaltigung kommt es auf die polizeilichen Feststellungen an. Das Aufgabenfeld hat sich also erweitert.

Polizeilich bei intimen Handlungen zu intervenieren stellt die einzelnen Beamt:innen vor ungewohnte und z. T. unangenehme Herausforderungen. Die Allzuständigkeit für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlegt der Polizei auch diese Pflicht auf. Neoliberales Denken schert sich nicht um die traditionelle Differenz von öffentlich/privat. Alles unterliegt dem neoliberalen Sicherheitsdispositiv, auch und gerade das Sexuelle. Wenn hier Streitigkeiten aufflammen, dann hält der Staat sich nicht mehr heraus.

Zugrunde liegt ein Widerspruch: Die Konflikte rühren nicht allein von einem individuell-moralischen Versagen her, sondern sie liegen auch in der Natur der Sache. Denn hier stehen zwei Welten gegeneinander: das rationale Denken des Aushandelns und Vertrages hie, das tendenziell Grenzen sprengende, Anarchische der Lust dort. Sie können ins Einvernehmen gebracht werden, aber wohl stets mit Abstrichen beiderseits.

Die neoliberale Sexualkultur hält so am alten Zopf weiblicher Unterlegenheit und strafrechtlicher Schutzbedürftigkeit einerseits und männlicher Übergriffigkeit andererseits fest, nur dass sie die Strafbarkeit immer weiter ausdehnt und Frauen zumindest symbolisch ein Recht auf Nichtsexualität zugesteht. Eine zeitgemäße Sexualkultur indes würde weibliche Sexualität positiv und fordernd bestimmen können. Übergriffigkeit wäre als individuelles und behandlungsbedürftiges Selbststeu­erungsdefizit zu erkennen – nicht als eindrucksvolle Machtdarstellung, von der Frauen sogleich traumatisiert zu werden drohen. Der Kampf um Gleichberechtigung der Geschlechter wäre dann aber jenseits der tradierten Ideen weiblicher Scham und Verletzlichkeit auf anderen Terrains zu führen: in der Ökonomie, in der Politik, im Recht.

[1]   Popitz, H.: Phänomene der Macht: Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1986
[2]   Galtung, J.: Strukturelle Gewalt, Hamburg 1975
[3]   Angelides, S.: The Emergence of the Paedophile in the Late Twentieth Century, in: Australian Historical Studies 2005 H. 3, S. 272-295 (277)
[4]   Bühler-Niederberger, D.: Kindheit und die Ordnung der Verhältnisse, Weinheim 2005, S. 102f.
[5]   Jenkins, P.: Intimate Enemies: Moral Panic in Contemporary Great Britain, New York, 1992, S. 101ff.
[6]   Inzwischen scheint sich der Fall anders dazustellen: www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange.
[7]   Hoven, E.; Weigend, T.: Strafbarkeit von Täuschungen im Sexualstrafrecht, in: Kriminalpolitische Zeitschrift 2018, H. 3, S. 156-161
[8]   Simmel, G.: Zur Psychologie der Scham, in: Ders. (Hg.): Schriften zur Soziologie, Frankfurt a.M. 1983 (1901), S. 140-150
[9]   Sanyal, M.: Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens, Hamburg 2016, S. 82
[10] ebd., S. 85
[11] Furedi, F.: Therapy Culture – Cultivating vulnerability in an uncertain age, New York 2004, S. 30
[12] Pratt, J.: Child Sexual Abuse – Purity and Danger in an Age of Anxiety, in: Crime, Law & Social Change 2005, H. 4, S. 263-287 (280)
[13] Shapiro, B.: Victims & vengeance, in: The Nation 1997, H. 5, S. 11
[14] Fraser, N.: Feminism, Capitalism and the Cunning of History, in: New Left Review 2009, H. 1, S. 103

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