von Anne Roth
Unter „Digitaler Gewalt“ wird häufig Hass im Netz verstanden. Hinter dem Begriff verbirgt sich aber noch viel mehr: Es gibt eine digitale Seite der Partnerschaftsgewalt, digitales Stalking durch Bekannte oder Unbekannte oder unsichtbare Aufnahmegeräte im öffentlichen Raum. Darüber ist bislang sehr wenig bekannt. Von der Polizei haben Betroffene wenig Hilfe zu erwarten.
„Wir hatten einen Fall von einer jungen Frau, die sich an uns gewandt hat, wo der Täter genau wusste, wie ihr Zimmer aussieht – obwohl sie in der dritten Etage wohnt. Es war völlig schleierhaft, wie er das wissen konnte: Da war kein Baum davor, gar nichts. Er konnte ihr sogar die Bilder beschreiben, die an der Wand hingen. Wenn eine Frau zur Polizei geht, die sowas erlebt hat, dann sagen die: Das hat die sich aus den Fingern gesogen.“
Etta Hallenga arbeitet in der Frauenberatungsstelle Düsseldorf und hat dort regelmäßig auch mit digitaler Gewalt gegen Frauen zu tun. In diesem Fall hatte der Täter die Frau auch beim Entkleiden gefilmt und sie dann damit unter Druck gesetzt, um zu erreichen, dass sie Dinge tat, die sie nicht wollte, berichtet sie. „Inzwischen ist das Thema Drohne bekannt – so wird es gewesen sein, dass er mit einer Drohne in ihr Zimmer gefilmt hat. Da war keine Gardine davor.“
Beratungsstellen und Juristinnen berichten seit Jahren von stetiger Zunahme der digitalen Gewalt gegen Frauen. Die Unterstützung der Frauen wie auch die Strafverfolgung gestalten sich schwierig.
Bei Fällen digitaler Gewalt ist es nicht selten, dass im Nachhinein einfach erklär- und vielleicht auch lösbar erscheint, wie Täter*innen vorgegangen sind. Doch aus Perspektive der Betroffenen ist es erstmal nicht so einfach herauszufinden, was tatsächlich geschieht. Für sie ist digitale Gewalt – insbesondere im Bereich der Partnerschaftsgewalt – häufig nur ein Teil der Gewaltsituation, in der sie sich befinden. Sie sind vielleicht damit konfrontiert, dass andere, manchmal Fremde, etwas über sie wissen, über Dinge Bescheid wissen, die nur wenige andere wissen können, dass Bilder im Netz auftauchen oder damit gedroht wird, sie zu veröffentlichen oder an Familie oder Kolleg*innen zu schicken. Für die Betroffenen ist dabei oft nicht erkennbar, wie vorgegangen wird und wer dahinter steckt. Das kann auch dazu führen, dass sie (und andere) an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln. Noch häufiger allerdings begegnet ihnen dieser Zweifel durch Strafverfolgungsbehörden.
Obwohl viele Formen digitaler Gewalt von bereits geltenden Gesetzen erfasst und verboten sind, sind Strafanzeigen selten erfolgreich, berichten Beratungsstellen wie Anwält*innen betroffener Personen. Die Gründe dafür sollen hier etwas beleuchtet werden.
„Digitale Gewalt“ wird zunehmend synonym für „Hatespeech“ verwendet: Das sind Bedrohungen, Verleumdungen, Beleidigungen in Sozialen Medien mit dem Ziel der Herabwürdigung, oft mit diskriminierenden Motiven. Hatespeech trifft vor allem LSBTIQ*, Muslim*innen, Frauen; sie ist antisemitisch, rassistisch, ableistisch, kurz: sie reproduziert gesellschaftliche Machtverhältnisse. Online unterscheidet sie sich von verbalen nicht-digitalen Beleidigungen und Bedrohungen, wenn sie sich über soziale Medien rasant verstärkt, wenn sie sich organisiert und geplant gegen Einzelpersonen oder bestimmte Gruppen richtet. Ziel, zumindest aber die Wirkung ist dann, die Angegriffenen mundtot zu machen und sie aus dem öffentlichen digitalen Raum zu vertreiben. Das betrifft in besonderer Weise Feministinnen, Politikerinnen, Journalistinnen, also Frauen, die öffentlich wahrnehmbar sind, sowie Politiker*innen und Aktivist*innen aller Geschlechter und wird bedrohlicher, wenn ihr Wohn- oder Arbeitsort bekannt ist. Rechtsanwältin Christina Clemm kommentiert dies folgendermaßen: „Feministinnen, die auch antifaschistisch unterwegs sind, sind hochgefährdet im Moment. Da findet sich oft auch niemanden mehr, der ihnen eine Adresse für das Impressum zu Verfügung stellen würde, weil so große Angst besteht, dass etwas passieren könnte.“
Bedrohungen und Beleidigungen treffen im Netz aber nicht nur Angehörige von Minderheiten oder sonstigen diskriminierten Gruppen, sondern alle. Das US-amerikanische Pew Research Center stellte in seiner jüngsten Untersuchung zu Online-Harassment 2021 zum Beispiel fest, dass Männer häufiger verbalen Aggressionen und Androhungen von physischer Gewalt ausgesetzt sind. Mädchen und Frauen hingegen erleben häufiger Stalking und sexualisierte Formen der Bedrohungen im Netz.[1]
Digitale Gewalt hat viele Formen
Hatespeech ist aber nur ein Teilbereich; Digitale Gewalt hat darüber hinaus noch viele andere Formen: Der „Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V.“ (bff), der Dachverband der Gewaltberatungsstellen, dessen Mitglied auch die Düsseldorfer Beratung ist, definiert: „Mit digitaler Gewalt meinen wir alle Formen von Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen und/oder Gewalt, die im digitalen Raum, zum Beispiel auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen, stattfindet. Wir gehen davon aus, dass digitale Gewalt nicht getrennt von ‚analoger Gewalt‘ funktioniert, sondern meist eine Fortsetzung oder Ergänzung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken darstellt.“[2]
Um nur einige dieser weiteren Formen zu nennen:
- „Doxing“ – das Veröffentlichen oder die Drohung mit dem Veröffentlichen privater Informationen wie Adresse, Geburtsdatum, Kontonummern, Informationen über Kinder;
- Erstellen von gefälschten Accounts einer anderen Person, um dort diffamierende Inhalte zu posten; inkorrektes Melden vorgeblicher Regelverstöße von Social-Media-Accounts mit dem Ziel, den Account sperren zu lassen;
- Veröffentlichungen vormals einvernehmlich erstellter intimer Bilder oder das Drohen damit, auch mit dem Ziel der Erpressung (etwa, eine Trennung zurückzunehmen); Erstellen, Posten oder Versenden von Bildern, die aus pornografischen Bildern und dem Gesicht anderer Personen montiert wurden mit dem Ziel der Diffamierung;
- das Überwachen des Aufenthalts mithilfe von GPS-Sendern oder der Lokalisierungsfunktion von Smartphones; Aufspielen von Überwachungssoftware („Spyware“/„Stalkerware“) auf Mobilgeräte, um damit Chats, Telefonate, Aufenthalt zu überwachen; (Fern-)Kontrolle ‚smarter‘ Geräte, etwa Überwachungskameras, Musik-Abspielgeräte, Heizung, Türschließmechanismen;
- Installation von winzigen Kameras oder Mikrofonen – in privaten Wohnräumen, aber auch in Umkleiden, auf Festival-Toiletten, in Ferienwohnungen – und die Übertragung dieser Aufnahmen auf den eigenen Rechner oder auf Pornografie-Plattformen.
Für den Bereich Hatespeech und Bedrohung via Mail, Messenger
oder Social-Media-Plattformen gibt es in der Öffentlichkeit mittlerweile immerhin ein Problembewusstsein, wenn auch zu wenig Unterstützung für die Betroffenen oder Lösungen für das Problem. Die digitale Gewalt im sozialen Nahraum, also die digitale Seite der Partnerschaftsgewalt bleibt ähnlich unsichtbar wie die Partnerschaftsgewalt selbst. Dasselbe gilt für Stalking und bildbasierte digitale Gewalt.
Was derzeit fehlt: Statistiken oder Studien zu Ausmaß, Formen und Verbreitung digitaler Gewalt. Auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion dazu, ob Studien geplant seien, antwortete die Bundesregierung 2018 noch recht lapidar mit dem Verweis auf Projekte zu Genderaspekten von Islamismus und Rechtsextremismus.[3] Und hier beißt sich die sprichwörtliche Katze in den Schwanz: Ohne (durch Zahlen belegbar) erkennbares Problem keine politische Notwendigkeit, in diesem Bereich aktiv zu werden, und ohne Bereitschaft der Politik, dem Thema die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden, keine Statistiken, Forschung, Weiterbildung, Ressourcen.
Der bff stellte durch eine Umfrage unter seinen Mitgliedern 2017 fest: „Der Großteil der an der Umfrage teilnehmenden Fachberatungsstellen gibt an, dass Beratungsanfragen zum Thema digitale Gewalt in den letzten drei Jahren angestiegen seien … Gewalt mittels digitaler Medien würde immer mehr als Begleitthema in den Beratungen erwähnt, ohne dass sie zwangsläufig der konkrete Beratungsanlass für Betroffene sei.“ [4]
Tatsächlich ist es so, dass viele Formen digitaler Gewalt von geltenden Gesetzen erfasst und verboten sind: Beleidigung, Verleumdung, Bedrohung, Volksverhetzung, Stalking, das Kunsturheberrechtsgesetz, Ausspähen und Abfangen von Daten, um nur einige zu nennen. Dennoch sind Strafanzeigen selten erfolgreich. Woran liegt das?
Die Lücke zwischen Cyber- und Sexualstrafrecht
Digitale Gewalt gegen Frauen bildet gewissermaßen die Schnittmenge zweier Thematiken, die bei Strafverfolgungsbehörden nicht unbedingt auf offene Ohren stoßen (jedenfalls dann nicht, wenn die Täter weiß und männlich sind): Es mangelt einerseits häufig an Verständnis für das Besondere der digitalen An- und Übergriffe. Dafür gibt es mehrere Gründe: Es fehlt an der technischen Ausstattung für die Beweisaufnahme, aber auch an Wissen darüber, wie anders sich Beleidigungen, Verleumdungen oder Stalking auswirken können, wenn sie auf sozialen Plattformen oder via Messenger stattfinden. Und andererseits geht es eben um Gewalt gegen Frauen und damit um ein Thema, bei dem es schon bei den bekannteren Formen auf Seiten der Behörden oft an Interesse und Verständnis fehlt. Das trifft umso mehr zu, wenn weitere Formen von Marginalisierung hinzukommen.
Tatsächlich zeigt gerade die tradierte Geschlechterrollenverteilung, wie sehr sich beides hier ergänzt. Gewalt im sozialen Nahraum geht oft mit Kontrolle und Manipulation einher. Dazu eignen sich digitale Technologien besonders. Sie erleichtern die Überwachung von Kommunikation, es gibt quasi unsichtbare winzige Kameras oder Ton-Aufnahmegeräte und spezifische Software, die offen als Möglichkeit vermarktet wird, um zu kontrollieren, ob die eigene Partnerin „fremdgeht“. Gleichzeitig gibt es in vielen Haushalten eine oft männliche Person, die für IT-Geräte zuständig ist, also Router, Rechner und Mobilgeräte, aber auch „smarte“ Geräte und „intelligente Assistenten“ wie Siri oder Alexa einrichtet und administriert. Allen anderen Haushaltsmitgliedern ist oft nicht klar, wieviel über ihr Nutzungsverhalten über die Administration mitgelesen werden kann – und zwar auch aus der Ferne, und natürlich auch noch nach einer Trennung.
Beratungsstellen wie Rechtsanwältinnen berichten übereinstimmend, wie schwierig es ist, digitale Gewalt erfolgreich anzuzeigen und auf diesem Weg ein Ende der bedrohlichen Situation zu erreichen und ihre Mandant*innen bzw. Klient*innen zu schützen. Dabei sind die Schwierigkeiten so verschieden wie die Fälle selbst:
Eine Frau trennt sich von ihrem Partner und kauft sich ein neues Smartphone, wechselt auch die Nummer, um für ihn nicht mehr erreichbar zu sein. Da er aber online Zugang zum Telefonvertrag hat, kann er das einfach nachvollziehen.
Ein Paar trennt sich, hat aber weiter eine gemeinsame Krankenversicherung: Für den gewalttätigen Ex-Partner ist es online leicht, ihre neue Adresse herauszufinden. In beiden Fällen ist es für die Frau überhaupt nicht ersichtlich, woher er dieses Wissen hat. Das Resultat ist große Unsicherheit im gesamten Alltag.
Christina Clemm, die als Rechtsanwältin viele Frauen vertritt, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind, sagt dazu: „Digital gibt es viel weniger Schranken, das macht es den Tätern oft viel leichter. Es gibt so viele Accounts, wo auch Adressen hinterlegt sind.“
Einen anderen Fall beschreibt die Düsseldorfer Beraterin Hallenga: „Wir haben das im Bereich Stalking sehr oft, dass der Belästiger – Nachbar, Kollege, Ex – immer weiß, wo sie ist. Um nur einen Fall zu beschreiben: Eine Frau hatte einen Sender am Auto. Nachdem der Sender gefunden worden war, hatte sie einen weiteren im Auto, über den er mithören konnte. Er hatte ein Mikro im Auto eingebaut und konnte alles mithören.“
In diesem Fall wurden die Sender gefunden, aber typischer ist, dass völlig unklar ist, woher das Wissen stammt, mit dem die Frauen unter Druck gesetzt, erpresst oder bedroht werden. Zunächst zweifeln die Frauen an ihrer eigenen Wahrnehmung: Dann ist es ein großer Schritt, sich Hilfe zu suchen. Bei der Polizei wird ihnen oft nicht geglaubt, dass es überhaupt einen realen Hintergrund gibt und entsprechend auch nicht ermittelt. Der Effekt: Die Betroffenen und die Unterstützer*innen müssen selbst Beweise suchen und vorlegen.
Leena Simon, die als eine der wenigen Fachberaterinnen für Cyberstalking im Berliner „Anti-Stalking-Projekt“ arbeitet, beschrieb im Fachgespräch der Linksfraktion im Bundestag im Januar 2020, dass die Polizei nur in den seltensten Fällen eine Beweisaufnahme an Geräten von Betroffenen vornimmt.[5] Wenn die Sicherung von digitalen Beweisen aber nicht professionell vorgenommen wird, passiert es leicht, dass die Beweise hinterher unbrauchbar sind: Etwa, weil das ursprüngliche Speicherdatum überschrieben wird oder Screenshots nicht alle erforderlichen Informationen enthalten.
Oft wird stattdessen das ganze Smartphone als Beweismittel einbehalten, komplett ausgewertet und das gefundene Material dazu benutzt, den Frauen Vorhaltungen mit dem Ziel zu machen, bei ihnen zumindest eine Mitschuld festzustellen, beschrieb Christina Clemm im selben Fachgespräch. Statt also zu prüfen, ob und wie jemand Zugriff auf das Gerät hat, werden beispielsweise Fotos oder Chats ausgewertet, die die Frau gemacht hat, um festzustellen, ob sie möglicherweise von sich aus Kontakt zum Täter hatte.
„Das ist ja nicht real“
„Victim-Blaming“, also das Suchen der Schuld bei den Betroffenen, ist auch hier noch an der Tagesordnung. Es werden immer noch Frauen weggeschickt mit der Aussage „Dann hätten sie halt keine Nacktfotos von sich machen lassen sollen“ oder „Das ist ja nicht real“, erklärte Ans Hartmann vom bff.
Insbesondere bei der sogenannten bildbasierten Gewalt spielt zudem Scham eine große Rolle, etwa wenn ursprünglich konsensual oder heimlich aufgenommene intime Bilder verschickt worden sind oder aber Gesichter der betroffenen Frauen auf pornografisches Bildmaterial montiert wurden. Etta Hallenga: „Das ist ein Grund, warum Frauen nicht zur Polizei gehen.“
Christina Clemm beschreibt, dass es ihr oftmals schwerfällt, solche Bilder an Polizeidienststellen weiterzuleiten, also wenn sie für die Betroffenen scham-belastet sind und gar nicht klar ist, bei wem die Bilder landen: „Die Ermittlungsbehörden wissen einfach oft nicht, wie sie die Delikte einordnen sollen. So kommt es immer wieder vor, dass Feministinnen mit Nacktdarstellungen gepostet werden, also der Kopf der Betroffenen auf einen nackten Körper montiert ist etc. Ich habe erlebt, dass solche Vorgänge dann in die Abteilung für Pornographie gehen, obwohl dies sachlich und fachlich einfach falsch ist.“
Das zeigt ein weiteres Problem: Es gibt keine spezifischen Zuständigkeiten: Zwar gibt es in verschiedenen Bundesländern „Cyber-Staatsanwaltschaften“, die sich in der Regel aber nicht für Partnerschaftsgewalt zuständig sehen. Das ganze Feld der Digitalen Gewalt wird nicht als Teilbereich des Cybercrime betrachtet. Für Hatespeech ändert sich das inzwischen vereinzelt. Spezialdezernate für Sexualstrafrecht hingegen betrachten sich (leider zurecht) nicht als kompetent für IT-Delikte. Daneben fehlt die nötige Ausrüstung – und sei es nur, um auch Links zu den Akten zu nehmen – und generell an Weiterbildung zu diesem Thema bei Polizei und Justiz.
Wenn der Betroffenen geglaubt wird, stellt sich als nächste die Frage: Handelt es sich überhaupt um einen Straftatbestand und um welchen und wie kann er nachgewiesen werden? Wenn beispielsweise, wie oben beschrieben, der Täter per Drohne von außen ins Zimmer filmt und der Betroffenen beschreibt, was er aufgenommen hat, um sie zu erpressen oder wenn Gesichter in pornografische Aufnahmen montiert werden, ist weniger offensichtlich als etwa bei einer Körperverletzung, was aus juristischer Perspektive das Problem ist.
Dann: Bei einer Reihe von Delikten, etwa Beleidigung, Bedrohung oder Körperverletzung handelt es sich um Privatklagedelikte.
„Das bedeutet, dass die Betroffenen diese Delikte selbst vor den Strafgerichten verfolgen müssen. Eine wichtige Funktion des Strafprozesses, nämlich die Entlastung der Betroffenen durch staatliche Strafverfolgung, ist damit nicht mehr erfüllt. Eine öffentliche Klageerhebung durch die Staatsanwaltschaft erfolgt gemäß § 376 Strafprozessordnung nur, wenn „dies im öffentlichen Interesse liegt“. Nach internen Regelungen für die Staatsanwaltschaften (Nr. 86 Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV)) ist ein öffentliches Interesse zwar grundsätzlich auch wegen „der rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründe des Täters“ anzunehmen, doch nicht jede Staatsanwaltschaft wird selbstverständlich davon ausgehen, dass auch sexistische oder transphobe Hassrede etc. in diesem Sinne menschenverachtend sind.“ [6]
Der Effekt: Die Frauen tragen die Verfahrenskosten selbst, und der Strafantrag muss innerhalb von drei Monaten gestellt werden. Ob im Privatklageverfahren oder nach öffentlicher Anklage: Die Ermittlungsverfahren werden fast immer eingestellt.
Was müsste geschehen?
Fehlendes Wissen, mangelndes Interesse und Lücken der institutionellen Zuständigkeiten führen dazu, dass digitale Gewalt gegen Frauen meist straffrei bleibt.
Es gab in den letzten Jahren kleine Schritte der Bundesregierung, bestimmte Formen der digitalen Gewalt stärker in der Gesetzgebung zu berücksichtigen, darunter auch das Gesetz gegen Hasskriminalität und Rechtsextremismus. Wie beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) klammerte es frauenfeindlichen Hass und den Hass, der sich speziell gegen Feministinnen richtet, im Entwurf völlig aus. Dies wurde später auch nur in der Begründung ergänzt. Ähnliches gilt beim § 46 Strafgesetzbuch (StGB) (Grundsätze der Strafzumessung). Hier wurde „Antisemitismus“ als Motiv ergänzt, Geschlechtsspezifik aber nicht.
Mit einem Gesetzentwurf zum Thema „Cyberstalking“, der am 24. Juni 2021 im Bundestag beschlossen wurde, wollte die Bundesregierung dieses Problem angehen. Den Entwurf kommentierte der Deutsche Juristinnenbund (djb) folgendermaßen: „Der Schutz vor Nachstellung kann sich generell nicht nur in der Schaffung entsprechender Straftatbestände erschöpfen. Notwendig ist die effektive Umsetzung des bestehenden Tatbestandes und ggf. der geplanten Gesetzesänderung. Erforderlich sind Schulungen und Sensibilisierung von Fachpersonal bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz. Nachstellungstaten sind konsequent, effektiv und vor allem zeitnah strafrechtlich zu verfolgen. Voraussetzungen hierfür sind neben dem notwendigen Personal und der Ressourcen auch das Bewusstsein darüber, dass die Nachstellungen körperlichen und tödlichen Angriffen vorausgehen können und nicht als ‚Beziehungsprobleme‘ zu verharmlosen sind.“ [7]
Es geht also wieder vor allem um Strafverschärfung, dabei könnte beispielsweise die Veränderung der Impressumspflicht die Gefahren des Stalkings einfach verringern. Wenn hier klarer wäre, dass es Alternativen für Blogger*innen dazu gibt, die eigene Privatadresse veröffentlichen zu müssen, wäre viel gewonnen.
Vor allem aber fehlen Maßnahmen, um die Hilfe-Strukturen angemessen auszustatten: Digitale Technologien verändern sich schnell. Um hier den aktuellen Stand im Blick behalten und sinnvoll dazu beraten zu können, müssen Beratungsstellen und Frauenhäuser dafür extra und ausreichend ausgestattet werden. Für sie und für die Anwält*innen der Betroffenen muss es Weiterbildungsangebote geben, natürlich auch, und zwar verpflichtend, für Polizei und Justiz. Die IT-Ausrüstung muss aktuell und sicher sein, auch für die Administration müssen Gelder vorhanden sein, damit digitale Angriffe abgewehrt werden können.
Sinnvoller wäre, wenn es kompetente Ansprechpartner*innen oder Anlaufstellen gäbe, an die sich Berater*innen und Anwält*innen wenden könnten mit spezifischen Fragen und IT-Problemen anstatt dass jedes Frauenhaus und jede Beratungsstelle notwendigerweise eigene Expertise aufbaut. In Deutschland gibt es dazu kaum Projekte oder Forschung, aber in New York beispielsweise gibt es seit ein paar Jahren eine Kooperation zwischen zwei Universitäten und den ‚Family Justice Centers‘, den städtischen Gewalt-Beratungsstellen.[8] Ausgehend von den Bedürfnissen der Betroffenen wurden ein Konzept und Leitfäden entwickelt, die Berater*innen dabei helfen, Fälle von digitaler Gewalt zu verstehen, zu untersuchen und Betroffene sinnvoll zu beraten, wobei ihre Sicherheit immer der Ausgangspunkt ist. Auch der bff und die Frauenhaus-Koordinierung in Deutschland haben kleine Projekte zu digitaler Gewalt, die wichtige Arbeit leisten, aber nicht ausreichend ausgestattet sind, um vor Ort mit technischer Expertise den einzelnen Fällen auf den Grund zu gehen.
Fazit: Es fehlt aktuell so ziemlich an allem: Forschung, Weiterbildung und Ausrüstung für sowohl Polizei als auch Beratungsstellen, die chronisch schlecht ausgestattet sind, an Bereitschaft, die Fälle zu verfolgen und an aussagekräftigen Statistiken. Vor allem aber fehlen eine gesellschaftliche Debatte und die Bereitschaft der Politik, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.