Affektive Atmosphären: Zum Policing von Emotionen in Menschenmengen

Die Einschätzung von Stimmung und Atmosphären spielt im polizeilichen Umgang mit Menschenmengen eine zentrale Rolle. Die Polizei geht davon aus, dass bestimmte Stimmungen affektive Dynamiken begünstigen, die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Sie nutzt daher bestimmte Techniken, um Stimmungen und affektive Atmosphären zu schaffen, zu verwalten oder zu verändern. Anhand von Beispielen aus einer ethnografischen Forschung widmet sich der Text diesen atmosphärischen Techniken und dem Policing von Emotionen in Menschenmengen.[1]

Leichtes Nieseln, strömender Regen, strahlende Sonne, glühende Hitze, starker Wind oder nur ein lauer Windstoß – aus Sicht von Polizist*innen sind Witterungsbedingungen Kontextfaktoren, die ihre Arbeit erleichtern oder erschweren. Und das nicht nur, weil z. B. das Tragen von und das taktische Bewegen in Einsatzkleidung und kompletter Schutzausstattung den Bereitschaftspolizist*innen bei 30 Grad durchaus lästiger ist als an einem lauen Herbsttag. Wetterbedingungen werden auch als Faktoren verstanden, die einen Einfluss auf die Stimmung von z. B. Fußballfans oder Demonstrierenden haben und damit auf die affektiven Dynamiken im Einsatz wirken können. Sie bilden daher einen, wenn auch zumeist informellen, Aspekt in der polizeilichen Einschätzung eines Einsatzes. So blickte z. B. der Leiter einer Hundertschaft, in Vorbereitung auf den unmittelbar bevorstehenden Einsatz zu einem Fußballspiel, zum regnerischen Himmel empor und befand Regen schließlich als eine grundsätzlich sehr gute Situation, „weil dann die Leute tendenziell keinen Ärger machen.“

Das Interessante dabei sind aber weniger die meteorologischen Fähigkeiten der Polizei, als vielmehr der Fokus, auf dem ihre Beobachtungen liegen: nämlich auf dem Einfluss von Wetter und Witterung auf die Stimmungslage der Personen. Im Kontext des sogenannten Crowd Managements spielen Stimmungen, Atmosphären und affektive Dynamiken immer wieder eine Rolle.[2] Anders als im Streifendienst, bei dem die Emotionalität, also z. B. aggressives Verhalten, einzelner Akteur*innen für die Polizist*innen relevant wird, richtet sich das Interesse der Bereitschaftspolizei vor allem auf die (potenzielle) Emotionalität von Menschenmengen. Witterungsverhältnisse bilden in diesem Kontext nur einen kleinen Faktor, durch den Polizist*innen versuchen, die erwartbare Stimmung von Mengen zu erfassen. Andere Faktoren sind z. B. das Ergebnis eines Fußballspiels (Wird das Spiel gewonnen oder verloren? Geht es um den Auf- oder Abstieg des Vereins?) oder die politische Rahmung einer Veranstaltung. Handelt es sich z. B. um eine Gegenveranstaltung zu einem neonazistischen Aufmarsch, wird die Stimmung in der Regel als aggressiver eingeschätzt, als dies bei einer Kundgebung für einen „bunten Kiez“ der Fall ist.

Die polizeiliche Einschätzung von Stimmung, Atmosphären und potenziellen affektiven Dynamiken prägt zugleich Polizeistrategien. Das zeigen die Analysen des Forschers Illan Rua Wall, der systematisch Handbücher und Schulungsmaterial der britischen Polizei zum Umgang mit Versammlungen auf atmosphärische Erkenntnisse hin untersucht hat. Dabei entwickelt er den Begriff der „atmotechnics“, um polizeiliche Techniken zu beschreiben, die dazu dienen, affektive Atmosphären zu schaffen, zu verwalten oder zu verändern.[3] In diesem Sinne können räumliche Begrenzungen, z. B. durch Gitter oder eine enge polizeiliche Seitenbegleitung, aber auch eine sichtbare Präsenz polizeilicher Ausstattung als Maßnahmen gelten, die auch einer Einhegung und Begrenzung von Affekten dienen sollen. Denn sie zielen darauf ab, konfliktreiche Dynamiken zu vermeiden oder frühzeitig zu stoppen. Der vorliegende Text betrachtet einige dieser atmosphärischen Techniken genauer und widmet sich dem Polizieren von Emotionen im Kontext von Demonstrationen und Fußballspielen.

Affektive Atmosphären

Ebenso wie der Affekt gehören die Begriffe Stimmung und Atmosphäre zum Begriffsfeld der Emotionen. Als Affekt werden in der Regel starke und oft kurze emotionale Regungen verstanden, die beinahe reflexartig ausgelöst werden.[4] Diese erlebte Handlungsmacht des Affekts wird in Bezeichnungen, dass sie „über einen kommen“ oder man von ihnen „überwältigt wurde“ sprachlich sichtbar gemacht. Daher sind Affekte häufig Gegenstand erzieherischer Arbeit, die eine gesellschaftlich angemessene Emotionskontrolle vermittelt. Die so erlebte Autonomie des Affekts wird auch in den Theorien der affective studies[5] aufgegriffen, wo Affekte als etwas begriffen werden, das zwischen Körpern zirkuliert und jene Körper ebenso affiziert werden, wie sie auch andere affizieren: „Affekte können verknüpft sein und sind verknüpft mit Dingen, Menschen, Ideen, Wahrnehmungen, Beziehungen, Aktivitäten, Ambitionen und unzähligen anderen Dingen.“[6] In diesem Sinne können in Mengen subjektübergreifende affektive Stimmungen oder Atmosphären entstehen. Der Begriff der Stimmung bezeichnet ein eher ungerichtetes emotionales Erleben, das sich in Zustandsbeschreibungen wie „sich behaglich fühlen“ oder „in ausgelassener Stimmung sein“ ausdrückt und als eher langanhaltend und weniger intensiv erlebt wird.[7] Der Begriff der Atmosphäre weitet den Blick vom emotionalen Erleben hin zum dem das Subjekt umgebenden Raum.[8] Im Alltagserleben haben Menschen in der Regel eine ganz gute Vorstellung davon, was Atmosphären sind. Sie sprechen dann z. B. von einer gemütlichen Atmosphäre Daheim oder einer glückvollen Atmosphäre beim Wandern auf der Alm.[9]

Wissenschaftlich stellen sich beim Umgang mit Atmosphären jedoch verschiedene Schwierigkeiten hinsichtlich der „Unbeschreiblichkeit“ von Atmosphären, denn diese entfalten sich oft hintergründig und sind nicht zuletzt „unbewusst, nicht kognitiv, nicht sprachlich, nicht kohärent, nicht rational und nicht vorherbestimmt“.[10] Für den Philosophen Gernot Böhme, der sich dem Begriff der Atmosphäre genauer gewidmet hat, ist dies gar grundlegend:

„Man weiß nicht recht, soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben oder den Subjekten, die sie erfahren. Man weiß auch nicht so recht, wo sie sind. Sie scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen.“[11]

Für Böhme bilden Atmosphären so vor allem eine Verbindung zwischen Räumen und dem menschlichen Fühlen.[12] Damit impliziert er eine agency, die Atmosphären auf Menschen haben, während Subjekte zugleich als passive Objekte erscheinen, auf die Atmosphären einwirken. Doch Atmosphären wirken nicht nur auf passive Körper, sondern können auch (aktiv) hergestellt werden. Denn Affekte zirkulieren nicht bloß zwischen Körpern und verteilen sich diffus zu einer gemeinsamen oder zu verschiedenen sich überlagernden Atmosphären. Sie sind, im Anschluss an die Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer, auch im Kontext einer Emotionspraxis zu verstehen, die mit anderen Praktiken in Verbindung steht.[13] Das heißt: Auch wenn Atmosphären als Phänomen selbst schwer fassbar sein können, existieren Techniken, die auf die Herstellung, Beeinflussung oder das Verhindern bestimmter Atmosphären zielen und die einer empirischen Analyse zugänglich sind. So zeigte beispielsweise die Forschung von Chris Hudson über das ION Orchid, ein Einkaufszentrum in Singapur, dass durch räumliche Eingriffe und multisensorische Einflüsse, also durch z. B. Design, Beleuchtung, Musik oder Gerüche, Atmosphären gestaltet werden, die (im Falle von Einkaufszentren) auf das Kaufverhalten von Menschen wirken sollen.[14]

Auch im Kontext der Polizei und deren Protest Policing werden Techniken eingesetzt, die auf eine Beeinflussung von Verhaltensweisen und zugleich (oder gar zuvorderst) auf die Stimmungen von Menschenmengen zielen. Polizei versucht, affektiven Dynamiken von Situationen zu kontrollieren und so eine Kontrolle über die Bewegungen der Menschen zu erhalten und insbesondere kollektive Aggressivitäten oder Gewalthandlungen einzuhegen.

Die Leute bei „guter Laune halten“

„Die Stimmung ist immer ganz wichtig“, erklärt eine leitende Beamtin, die als zivile Beobachterin bei verschiedenen Demonstrationen unterwegs ist und deren Aufgabe es ist, die Gefahrenlage der Demonstration und polizeilicher Maßnahmen einzuschätzen. Auch in der Polizeilichen Dienstvorschrift PDV 100 wird die Stimmung der Demonstration als ein Bewertungskriterium in der Einschätzung der sogenannten „Lage“ genannt. Dabei geht es nicht nur um die Stimmung sogenannter „Störer“,[15] sondern auch um die allgemeine Stimmung der Menge, die aus Sicht der Polizei durch Einzelne „angeheizt“ werden und zu gewalttätigen Dynamiken führen kann. So führt ein Polizeibeamter beispielhaft für den Fußball aus, es gelte, die Personen „bei guter Laune zu halten“, denn, so formuliert es auch ein polizeiliches Lehrbuch, „eine friedliche, fröhliche und entspannte Atmosphäre (kann) aggressive (Personen) davon abhalten, gewalttätig zu werden“.[16]

Beim Polizieren von Menschenmengen finden sich daher Techniken, die präventiv affektive Atmosphären schaffen und der Polizei den Umgang mit größeren Menschenmengen erleichtern sollen. Für ein bestimmtes Maß an Wohlgefühl in der Gruppe zu sorgen, erscheint den Polizist*innen als eine sinnvolle Möglichkeit, Aggressivität in der Gruppe vorzubeugen und so gruppendynamische Entwicklung hin zu einem antagonistischen Verhältnis zur Polizei zu verhindern. Nach Rua Wall sind diese Praktiken Teil einer „strategic facilitation“[17] – also einer polizeilichen Strategie, die darauf gerichtet ist, friedliches Verhalten der Menge zu erleichtern, indem sie vertrauensvolle Atmosphären zwischen Akteur*innen und der Polizei schafft.[18] Sie sind Teil von Einsatzphilosophien, die (vor allem im Bereich Protest) auf dialogische, deeskalative und nicht konfrontative Taktiken setzen.[19]

„Unter den Stichworten ‚Dialog‘ und ‚no surprise‘ ist das policing an Absprachen und Kompromissen zwischen Polizei und Protestierenden sowie an der Vorhersehbarkeit der Handlungen aller Parteien ausgerichtet. Delinquenzen werden individuell anstatt dem gesamten Protest zugerechnet. Polizeiliche Machtdemonstrationen werden vermieden.“[20]

Neben einem zurückhaltenden Einsatz von Polizeikräften und Technik (in Anzahl und Ausrüstung) wird bei einer solchen Strategie vor allem Wert auf Kommunikationstechniken gelegt. In der Praxis kann dies durchaus subtil geschehen, wie bei einem Einsatz im Bereich Fußball, bei dem die Ansprache von Fans im Heimdialekt der Mannschaft durchgeführt wird, denn – so ein Beamter während meiner Beobachtung – „das wirke deeskalierend“. Aber auch der Einsatz sogenannter Kommunikationsteams bei Demonstrationen spielt dabei eine zentrale Rolle. Kommunikationsteams sind Teil einer rhetorischen Deeskalationsstrategie[21] und damit ein polizeiliches Mittel, das der emotionalen Beruhigung dienen und auf eine vertrauliche Atmosphäre zwischen Polizei und den entsprechenden Akteur*innen hinwirken soll. Die Teams kommunizieren dabei vor allem gerichtet auf die nicht-polizeilichen Akteur*innen. Sie sollen polizeiliche Maßnahmen erklären und beruhigend auf Personen einwirken. So erklärt ein Kommunikationsbeamter aus Hamburg:

„Wir kommunizieren die Entscheidungen, sorgen für Transparenz und Erklärung. Und (wir) versuchen natürlich durch unser Auftreten – das deeskalierend ist – dann für Friedlichkeit zu sorgen, bei dem einen oder anderen, der sich vielleicht über irgendwas aufregt. Und (wir) versuchen, den in seinen Emotionen runterzufahren, so gut es möglich ist.“

Damit sind sie Teil einer institutionalisierten Emotionsarbeit, die auf die Emotionalität einzelner Akteur*innen wie auch auf die Stimmung nicht-polizeilicher Gruppen regulierend wirken soll und damit auch das Selbstpolizieren fördert.[22]

Es ist jedoch nicht nur ihre Aufgabe, sprachlich zu kommunizieren, sondern auch durch ihr Aussehen (sie sind z. B. in der Regel ohne Helm und ohne Schlagschutz unterwegs) und ihr Verhalten auf die Atmosphäre zu wirken: „Der Polizeibeamte versucht die Stimmung wahrzunehmen und zu schaffen.“[23] Damit folgt die Arbeit von Kommunikationsbeamt*innen u. a. einem in der PDV 100 festgehaltenen Einsatzgrundsatz, ein „kommunikatives Beeinflussen gruppendynamischer Vorgänge … anzustreben“.[24] Mittels beruhigender Ansprache und einem deeskalierenden Ton in der Kommunikation (tone setting) soll so eine konfliktreiche Atmosphäre vermieden werden, wie auch ein leitender Beamter aus Hamburg erklärt:

„Kommunikationsbeamte sind dazu da, (bei) Ottonormalbürger oder so, bei noch ansprechbaren Menschen dafür zu sorgen, dass die sich alle wieder runterfahren und sich nicht immer gleich hauen.“

In diesem Sinne kann die Arbeit von Kommunikationsbeamt*innen als ein kommunikatives wie affektives Polizieren verstanden werden. Zugleich erhalten die Beamt*innen durch das Gespräch auch einen Eindruck davon, wie sich die emotionalen Dynamiken der Gruppen gestalten und inwiefern diese Dynamiken für die polizeilichen Handlungen relevant werden können.

„(Wir) würden dann auch rückspiegeln an den Polizeiführer, wie jetzt noch die Zusammensetzung dieser Demonstration ist, ob das noch eine führbare, händelbare, deeskalierende Möglichkeit gibt oder nicht. Aus unserer Sicht, aus unserer fachlichen Sicht (der) Deeskalation.“

Kommunikationsbeamt*innen zeigen sich damit zum einen als Emotionsarbeiter*innen, die auf mögliche Aggressivität einzelner Personen wie auch auf die Stimmung der Gruppe regulierend wirken (sollen), um damit die Atmosphäre im Geschehen positiv zu beeinflussen. Zum anderen fungieren sie als taktische „Stimmungsleser*innen“, die aufkommende aggressive oder sonstige „negative“ Stimmungen erkennen und an die Einsatzführung kommunizieren sollen.[25] Diese Einschätzungen können dann die Grundlage für weitere polizeiliche Maßnahmen und auch intervenierende Affektpraktiken bilden.

Affektive Interventionen

„Gruppen verhalten sich wie Flüssigkeiten“, erklärte mir ein leitender Einsatzbeamter mit Blick auf seine Kolleg*innen, die gerade dabei waren, mit Gittern verschiedene Schleusen für die erwarteten Fußballfans zu bauen. Sie stellten die Schleusen anfangs enger, dann weiter auslaufend, sodass sich die Kraft der Gruppe verliere und die Energie auslaufe. Es gehe darum, erklärte der Beamte weiter, die räumlichen Gegebenheiten bestmöglich zu nutzen. Sie versuchten, im Rahmen der polizeilichen Möglichkeiten, durch Ketten, Gitter oder das Abstellen von Fahrzeugen, räumlich so einzugreifen, dass affektive Dynamiken bereits im Vorfeld begrenzt würden und beispielsweise ein Stürmen der Schleusen durch Fans verhindert werde.

Was der Einsatzbeamte hier für den Umgang mit Fußballfans ausführt, lässt sich auch im Bereich des Protest Policing finden. Der Aufbau räumlicher Begrenzungen ist dabei erstmal nur eine Technik polizeilicher Raumgestaltung, um Bewegungen einzelner Personen wie von Gruppen besser kontrollieren zu können. Die Veränderung von Räumen ist also noch nicht per se eine Atmosphärentechnik. Sie kann aber ein Faktor in einer Vielzahl von Faktoren sein, die eine bestimmte, der Polizei nützliche Atmosphäre erzeugen sollen. Dies geschieht beispielsweise im Kontext einer Demonstration polizeilicher Stärke und technischer Übermacht, wie sie in der Literatur bereits vielfach beschrieben wurde.[26] Die Inszenierung polizeilicher Übermacht soll eine defensive und zurückhaltende Atmosphäre kreieren und damit Personen von einem möglichen Gewalthandeln abhalten.[27] Neben sichtbar abgestellten polizeilichen Fahrzeugen, wie Wasserwerfern oder Räumpanzern, sowie der Aufstellung einer hohen Anzahl von Einsatzkräften werden auch sensorische Einflüsse wie z. B. Lichtquellen eingesetzt. Dies geschah beispielsweise bei einer Demonstration in Thüringen, bei der die Polizei ein Räumfahrzeug vor der Menge aufstellte und diese durch das Licht auf dem Fahrzeug belendete. Es handelt sich dabei um eine Technik, die auf die Atmosphäre in der sich sammelnden Menschengruppe zielt, um die von der Polizei dort vermutete „kippende Stimmung“ mittels einer polizeilich geschaffenen Nichtsichtbarkeit und Unklarheit der Situation unter Kontrolle zu halten.[28]

Die Grundlage eines solchen Policings bilden in der Polizei verbreite traditionelle Vorstellungen einer crowd psychology, durch die das Verhalten von Menschenmengen dualistisch konzeptualisiert wird: Zwar werden Menschenmengen als generell heterogen angesehen, zugleich werden sie aber, wie Staller u. a. ausführen, entlang zweier zentraler Kategorien charakterisiert: „Eine asoziale und gewalttätige Minderheit, die die potenzielle Unachtsamkeit der ansonsten friedlichen Mehrheit ausnutzen könnte“.[29] Im Arbeitsalltag wird die hier bezeichnete „friedliche Mehrheit“ nochmal unterteilt in die sogenannten per se friedlichen Guten sowie die eher affektiven, situativ gewalttätigen Personen.[30] Diese unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, als wie affektiv und beeinflussbar sie gelten, und wie wahrscheinlich es gilt, dass sie sich im Rahmen affektiver Dynamiken von der „gewalttätigen Minderheit“ affizieren lassen.[31] Durch diese Sicht einer immer ähnlichen und dualistischen Zusammensetzung von Menschenmengen als „heterogen, aber kaperbar durch eine gewalttätige Minderheit”[32] findet eine Homogenisierung eigentlich heterogener Mengen statt, bei der davon ausgegangen wird, dass Mengen an sich (unabhängig von ihrer tatsächlichen Zusammensetzung) stets ähnlichen Mechanismen folgen. Daraus ergibt sich, nach Staller u. a., eine polizeiliche Einschätzung von Mengen als unbeständig und potenziell eskalativ.

„In dieser klassischen Theorie können ‚hetzende‘ Menschen den ‚Mob‘ zu Gewalt anstacheln, was in Konsequenz dazu führt, dass dem zugeschriebenen Mob mit Zwang begegnet werden muss, da sonst die Gesellschaft dem Chaos überlassen wäre. Diese theoretische Perspektive ist hochproblematisch, da es ihr zum einen an Erklärungskraft mangelt (empirische Befunde sprechen dagegen) – und zum anderen zu problematischen polizeilichen Strategien und Taktiken führt, wievielfach (sic) beobachtet werden können.“[33]

Wird eine Menge als nicht mehr ansprechbar durch die Polizei (beispielsweise durch die Kommunikationsbeamt*innen) und die affektiven Dynamiken in Menschenmengen als unkontrollierbar und entsprechend kritisch eingeschätzt, interveniert die Polizei, mit dem Ziel, die gesamte Menschenmenge zu zerstreuen oder von einem Platz zu entfernen.[34] Ein Beispiel dafür sind die sogenannten „Sprinträumungen“, bei denen – plötzlich und für die Akteur*innen häufig überraschend – Polizist*innen in einem hohen Tempo keilförmig oder in Form einer Linie auf die zu zerstreuende Menschenmenge zusprinten, wie es ein leitender Beamte für den G20-Einsatz beispielhaft ausführt:

„Also, normalerweise … wenn wir räumen und jetzt langsam, relativ langsam vorgehen mit der Polizeikette. Und in dem Fall waren die Störer nicht direkt vor uns … sondern zum Teil 20, 30, 50 Meter weg. Und insofern habe ich von Anfang an angeordnet, dass wir im Laufschritt, heißt im Sprint, räumen. Also wirklich auf die losstürmen, dass die hier weg sind. Und sie dann auch wirklich im dem Tempo vor uns her treiben. Entweder weichen die aus oder wir sorgen dafür, dass dann die wegkommen, um die Situation zu beenden.“

Dabei handelt es sich um eine Praxis, die in der Regel zu Fluchtdynamiken bei nicht-polizeilichen Akteur*innen führt, zugleich aber mit einem hohen Verletzungsrisiko für beide Seiten verbunden ist.

Die polizeiliche Intervention richtet sich vornehmlich daran aus, die vorhandene emotional strukturierte Gruppendynamik zu unterbrechen und so Kontrolle über Körper und Raum wiederzuerlangen.[35] Zugleich werden solche Räumungen aber von sensorischen Praktiken begleitet, durch die ihrerseits affektive Atmosphären produziert werden. Denn die Polizist*innen bewegen sich während des Räumens nicht nur unterschiedlich: gemeinsam, schnell und explosiv (wie bei den erwähnten Sprinträumungen), um Mengen zu zerstreuen oder langsam und bedrohlich, um Mengen zurückzudrängen. Ihre Handlungen sind überdies oft begleitet von einem unbestimmten Schreien (z. B. „Arrrrghh“ oder „Auf sie!“) oder einem direkten Anschreien von Personen, durch die Räumungen etwas archaisch-martialisches erhalten. Auch bei dem langsamer durchgeführten Zurückdrängen von Personen rufen Polizist*innen den ihnen Gegenüberstehenden teilweise zu, dass sie weggehen oder sich „verpissen“ sollen. Dabei schubsen oder drängen sie Personen körperlich zurück, hantieren vor den Personen mit ihren Einsatzstöcken oder schlagen mit diesen auch auf die Menge. Damit intervenieren sie nicht lediglich in Dynamiken von Gruppen, sondern produzieren zugleich affektive Atmosphären mit einem Bedrohungs- und Gewaltcharakter.

Schluss

Das polizeiliche Affektmanagement der Bereitschaftspolizeien zielt vor allem auf das, was sie als Stimmung der Masse bezeichnen und was ihnen als eine Gruppenemotion erscheint. Durch Umgestaltung des Raums sowie eine strategische Inszenierung von polizeilichem Personal und Technik versuchen sie die Emotionalität von Massen zu verwalten. Mittels Atmotechniken intervenieren sie in affektive Dynamiken oder versuchen, diese bereits präventiv zu modellieren. Doch auch, wenn Atmosphären produziert werden können, bedeutet das nicht, dass diese „automatisch auf jeden wirken und schon gar nicht in der gleichen Weise“.[36] Zudem wirken die produzierten affektiven Dynamiken und Atmosphären auch auf die Polizist*innen. Durch das gemeinsame Sprinten, das gemeinsame Schreien aber auch die gemeinsamen Gewalthandlungen werden Atmosphären produziert, die einen emotional mobilisierenden Effekt haben und gemeinsame wie übergreifende affektive Dynamiken schaffen, die auf die Polizist*innen wirken und von der sich diese affizieren lassen (können). Collins zeigt, dass solche affektiven Verflechtungen auch Einfluss auf das (situative) Normen- und Werteverständnis haben und zu sogenannten moralischen Auszeiten führen können.[37] Dies kann den Einsatz von Gewalt, der über den legalen Auftrag des Gewaltmonopols hinausgeht, fördern.

[1]    Der Artikel basiert auf ethnografischen Forschungen, die ich im Rahmen meiner Dissertation in der deutschen Polizei durchgeführt habe und die 2022 im Transcript-Verlag unter dem Titel „Affekt und Polizei. Eine Ethnografie der Wut in der exekutiven Gewaltarbeit“ veröffentlicht wurden. Die verwendeten Auszüge aus Interviews und Feldprotokollen wurden anonymisiert.
[2]    vgl. dazu Rua Wall, I.: Policing Atmospheres: Crowds, Protest and ‚Atmotechnics‘, in: Theory, Culture & Society 2019, H. 4, S. 143-162 und in Bezug auf polizeiliche Trainings auch Kretschmann, A.: Simulative Souveränität. Eine Soziologie politischer Ordnungsbildung, Konstanz 2023
[3]    Rua Wall a.a.O. (Fn. 2), S. 5
[4]    zur kulturhistorischen Entwicklung der Begriffe siehe Scheer, M.: Topografie Topographien des Gefühls, in: Frevert, U. u.a. (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt/Main 2011, S. 41-64.
[5]    vgl. Ahmed, S.: Kollektive Gefühle oder die Eindrücke, die andere hinterlassen, in: Baier, A. u.a. (Hg.): Affekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie, Wien 2014, S. 183-214; Massumi, B.: Politics of affect, Cambridge 2016
[6]    Sedgwick, E.: Touching feeling. Affect, pedagogy, performativity, Durham 2003, S.19
[7]    Dabei können Emotionen wie Wut oder Angst ebenso einen Affekt prägen, wie Teil länger anhaltender schlechter Stimmung sein, vgl. Scheer, M.: Affekt, in: Hinrichsen, J. u.a. (Hg.): Katastrophen/Kultur. Beiträge zu einer interdisziplinären Begriffswerkstatt, Tübingen 2020, S. 49-64.
[8]    Böhme, G.: Atmosphäre. Essays zur Neuen Ästhetik, Frankfurt/Main 1995 sowie Reckwitz, A.: Affektive Räume. Eine praxeologische Perspektive, in: Mixa, E.; Vogl, P. (Hg.): E-motions, Wien 2012, S. 23-44
[9]    vgl. Schmidt-Lauber, B.: Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, Frankfurt/Main 2003 sowie Weith, C.: Alb-Glück. Zur Kulturtechnik der Naturerfahrung, Tübingen 2014
[10] Gould, D.: Moving Politics, Chicago 2008, S. 23
[11] Böhme a.a.O. (Fn. 8), S. 22
[12] zur Kritik daran und einer Erweiterung des Atmosphärenkonzepts u.a. als Interaktion von Affekt und Raum siehe Löw, M.: Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001
[13] z. B. Scheer a.a.O. (Fn. 7)
[14] Hudson, C.: ION Orchard: Atmosphere and consumption in Singapore, in: Visual Communication 2015, H. 3, S. 289-308
[15] zur Kritik des Begriffs: Ullrich, P.: „Normalbürger“ versus „Krawalltouristen“. Polizeiliche Kategorisierung von Demonstrationen zwischen Recht und Soziologischem Ermessen, in: Liebl, K. (Hg.): Empirische Polizeiforschung XX. Polizei und Minderheiten, Frankfurt/Main 2017, S. 61–97
[16] Hücker, F.: Rhetorische Deeskalation. Stress- und Konfliktmanagement im Polizeieinsatz, Stuttgart 2005, S. 103
[17] Gillham, P.: Securitizing America: Strategic Incapacitation and the Policing of Protest Since the 11 September 2001 Terrorist Attacks, in: Sociology Compass 2011, H. 7, S.636-652
[18] Rua Wall a.a.O. (Fn. 2), S. 9
[19] Kretschmann, A.; Legnaro, A.: Politiken der Dominanz: Das Polizieren von Protest in Deutschland, in: Fillieule, O.; Jobard F.: Politiken der Un-Ordnung. Das Polizieren von Protest in Frankreich, Wiesbaden, im Erscheinen
[20] Kretschmann a.a.O. (Fn. 2), S. 32
[21] vgl. Hücker a.a.O. (Fn. 16), S. 54
[22] vgl. Rua Wall a.a.O. (Fn. 2), S. 10. Die Arbeit der Kommunikationsteams wird in der Polizei nicht von jedem geschätzt. So bezeichnete ein leitender Einsatzbeamte des G20 in Hamburg 2017 die Kommunikationsteams despektierlich als „Schnacksheriffs“. Eingesetzte Kommunikationsteams kritisierten zudem, dass sie ihre „eigentliche“ Arbeit nicht machen konnten, weil sie der Öffentlichkeitsarbeit zugeordnet waren, statt wie sonst der Einsatzleitung unterstellt zu sein. Sie waren also eher im peripheren Einsatzgeschehen unterwegs und haben Bürger*innen bspw. über die Sonderrechtszonen informiert. Man habe sie dort als Aushängeschild einer nach außen kommunizierten Deeskalationsstrategie genutzt.
[23] Rua Wall a.a.O. (Fn. 2), S. 11
[24] PDV 100, S. 89. Die aktuelle PDV 100 ist öffentlich leider nicht zugänglich. Zitiert wird hier aus einer Version von 2004.
[25] Rua Wall a.a.O. (Fn. 2), S. 11
[26] vgl. Applegate, R.: Riot Control: Material and Techniques, Pennsylvania 1969, S. 36, zit. nach Rua Wall a.a.O (Fn. 2), Malthaner, S.; Teune, S. (Hg.): Eskalation: G20 in Hamburg, Protest und Gewalt, Hamburg 2023
[27] Eine hohe Polizeipräsenz kann als Provokation wahrgenommen werden, vor allem dann, wenn sie als ungerechtfertigt verstanden wird. Eine hohe Polizeipräsenz impliziert zugleich, dass den nichtpolizeilichen Akteur*innen ein hohes oder erhöhtes Gefährlichkeitspotenzial zugeschrieben wird. Eine Zuschreibung, die durchaus zu Empörung oder Wut führen und offensiv zurückgewiesen werden kann.
[28] Schmidt, S.: Protest-Raum. Die Strukturierung des öffentlichen Raumes bei Straßenprotesten am Beispiel des 9. November 2016 in Jena, in: Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): Wissen schafft Demokratie: Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft 2017, H. 1, S. 220-237 (228)
[29] Staller, M. u.a.: Protest Policing, Massenunglücke, Pandemie und Fußball. Vom Umgang mit Menschenmengen, in: ders. (Hg.): Handbuch Polizeipsychologie. Wissenschaftliche Perspektiven und praktische Anwendungen, Wiesbaden 2023, S. 619-638 (622)
[30] Winter, M: Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1998, S. 344
[31] vgl. dazu Schmidt, S.: Affekt und Polizei. Eine Ethnografie der Wut in der exekutiven Gewaltarbeit, Bielefeld 2022
[32] Staller u.a. a.a.O. (Fn. 29), S. 622
[33] ebd., S. 623.
[34] Applegate a.a.O. (Fn. 26), S. 7
[35] Rua Wall a.a.O. (Fn. 2), S. 13
[36] Scheer, M.: Emotionspraktiken: Wie man über das Tun an die Gefühle herankommt, in: Beitl, M.; Schneider, I. (Hg.): Emotional turn?! Europäisch-ethnologische Zugänge zu Gefühlen & Gefühlswelten, Wien 2016, S. 15-36 (17)
[37] Collins, R.: Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011, S. 372

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert