von Daniela Hunold
Der öffentliche Diskurs prägt die Art und Weise, wie soziale Bewegungen und politische Akteur*innen ihre Fähigkeiten und Ressourcen mobilisieren, um politische Ziele und Veränderungen zu verfolgen und herbeizuführen. Protest Policing nimmt direkten Einfluss auf diesen Diskurs sowie auf den Verlauf von Protesten. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern die polizeiliche Bearbeitung von Protest Ungleichbehandlungen produziert und worauf diese zurückzuführen sind, da Versammlungen essenziell für eine lebendige Demokratie sind und besonderen Schutz bedürfen.
Proteste stellen eine Ausprägung sozialer Bewegungen dar, indem sie als mehr oder weniger zielgerichtetes kollektives Handeln betrachtet werden können. Sie gelten als „gemeinsame, kollektive Handlung von Individuen, die darauf gerichtet ist, ein (politisches)Ziel durch Einflussnahme auf die Willensbildung zu erreichen“.[1] Welche Formen und welches Ausmaß der Veränderungen erreicht werden sollen, ist hierbei höchst unterschiedlich. Wissenschaftler*innen sind sich jedoch darin einig, dass eine soziale Bewegung immer zum Ziel hat, eine Änderung in der Welt, in der wir leben, hervorzurufen. Ganz konkret sind soziale Bewegungen als Herausforderer*innen oder Verteidiger*innen der bestehenden institutionellen Autorität zu betrachten, indem sie politische, staatliche, religiöse oder kulturelle herrschende Ordnungen hinterfragen oder verteidigen können.[2] Somit sind sie Ausdruck von Unbehagen, Kritik oder Veränderungswillen in Bezug auf bereits etablierte Systeme oder Ordnungen, welche von mächtigen Gruppen durchgesetzt werden sollen.
Insbesondere für institutionell oder politisch schwach repräsentierte Teile der Bevölkerung bedeuten Proteste eine Möglichkeit der Äußerung. Dies gilt insbesondere in Verbindung mit Themen, welche lediglich spezifische soziale Gruppen betreffen oder im öffentlichen Bewusstsein (noch) nicht verankert sind. Für letzteres können die Proteste der Letzten Generation als Beispiel angeführt werden. Das Thema Klimawandel und seine Folgen sind schon seit Jahrzenten im öffentlichen Diskurs präsent, bisherige Protestformen konnten jedoch kaum Verhaltensänderungen der Bevölkerung erwirken und noch viel weniger Änderung in der Politik. Innerhalb eines demokratischen Willensbildungsprozesses verkörpert der Protest dann eine notwendige Form politischer Kommunikation, wenn institutionelle Kanäle durch eine fehlende parlamentarische Lobby oder mediale Resonanz verstellt sind. So können Proteste als Seismograph für das Ausmaß einer Krise verstanden werden. Eine Krise lässt sich unter Rückgriff auf das Hegemoniekonzept von Gramsci beschreiben, demzufolge die Herrschaft immer dann gesichert ist, wenn über sie ein politischer und zivilgesellschaftlicher Konsens hergestellt werden könne – eine Krise komme im Phänomen des Wegbrechens dieses Konsenses zum Ausdruck. Weiter lasse sich eine brüchige Hegemonie daran ablesen, dass Konsens mittels Zwangs als autoritäre Praxis kompensiert werden solle.[3]
Protest Policing im Kontext staatlichen Handelns
Politische Gelegenheitsstrukturen beeinflussen das Entstehen von Protest.[4] Demnach kann davon ausgegangen werden, dass soziale Bewegungen dann entstehen, wenn politische Systeme weder völlig autoritär noch völlig offen für alle gesellschaftlichen Anliegen sind. In diesem Fall sind Protestaktionen einerseits notwendig, andererseits aber auch erfolgversprechend, um die gewünschten politischen Veränderungen zu erreichen.[5] In diesem Zusammenhang kann die polizeiliche Kontrolle von Protest als ein Indiz für autoritäre oder liberale Tendenzen von Regimen gesehen werden.[6] Unter Protest Policing ist die Art und Weise zu verstehen, wie die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden mit Protesten umgehen. Dabei ist der Begriff eine neutrale Bezeichnung für das, was Demonstrierende gewöhnlich als „Repression“ im Sinne eines „Law and Order“-Staats bezeichnen.[7]
Insgesamt ist weltweit ein Trend zu kleiner werdenden Räumen bei Demonstrationen zu beobachten: Der Raum für den Ausdruck von Protesten und die Ausübung von Grundrechten wird eingeschränkt, und Bürger*innen werden zunehmend in ihren Möglichkeiten beschränkt, öffentlichen Unmut und politischen Widerstand zum Ausdruck zu bringen. Sowohl autokratische als auch demokratische Regime scheinen Aktivismus und Proteste zunehmend zu stigmatisieren oder zu unterdrücken.[8] Dies gilt insbesondere für Gipfelproteste oder Proteste, die einem „linksextremen Milieu“ zugeschrieben werden, wie jüngst an den Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in Leipzig am 3. Juni 2023 zu beobachten war. In der Literatur wird das Polizieren von Gipfelprotesten als neue Form eskalierender Gewalt beschrieben, die polizeilichen Strategien der Militarisierung beinhaltet.[9] Wie Polizei sich ausrüstet, ist für den Umgang mit der Versammlungsfreiheit insofern relevant, als bereits hier ein Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit erfolgen kann, wenn Ausrüstung und Wahl der eingesetzten Einheiten eine abschreckende oder eine die Proteste delegitimierende Wirkung entfalten. So signalisiert auch die Verwendung von Technik wie Wasserwerfern, Räumfahrzeugen etc. eine geringe Toleranz gegenüber Protestierendengruppen. Sie können als non-verbale Signale betrachtet werden.[10]
Protest Policing und öffentlicher Diskurs
Darüber hinaus hat Protest Policing Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs über Proteste und Protestierende und damit auf deren wahrgenommene Legitimität. So ist die Polizei durch an die Öffentlichkeit kommunizierte Gefahrenprognosen und die damit verbundene Legitimierung von Maßnahmen und Ausrüstung in der Lage, Proteste zu legitimieren oder zu delegitimieren. Die Ausrichtung des öffentlichen Diskurses über Proteste kann insofern als Gelegenheitsstruktur selbst behandelt werden. So wurden beispielsweise die Fridays for Future in der Presse breit und positiv konnotiert dargestellt und von der Polizei eher tolerant behandelt. Dies wird darauf zurückgeführt, dass es der Bewegung gelang, „Appell und Drohung“ zu verbinden, was in der Bewegungsforschung als vorteilhafte Konstellation der Protestmobilisierung beschrieben wurde.[11] Dagegen ist die Letzte Generation zurzeit mit einer breiten öffentlichen Nicht-Akzeptanz konfrontiert bis hin zu repressivem staatlichem Handeln, welches sich zuletzt in einer staatsanwaltschaftlichen Vorverurteilung als kriminelle Vereinigung verbunden mit einer deutschlandweiten Razzia gegen Angehörige der Protestbewegung zeigte.[12]
Polizei als Protestakteurin
Die Polizei kann vor dem Hintergrund der Wahl ihrer Mittel und öffentlichen Darstellung als an den Protesten beteiligte (Konflikt-)Partei betrachtet werden. Sie verfügt somit über eine in hohem Maße relevante Wirkmacht: In Deutschland ist die Polizei bei Vorliegen entsprechender rechtlicher Voraussetzungen legitimiert, Marschrouten von Protesten festzulegen und Abweichungen von denselben zu unterbinden. Sie legt Auflagen fest, etwa über die Länge und Höhe von Transparenten, und ahndet Ordnungswidrigkeiten und Straftaten im Kontext von Versammlungsgeschehen. Im Vorfeld von Demonstrationen tritt die Polizei als Verhandlungspartnerin mit den Anmelder*innen von Protesten auf. Im Nachgang ist sie, im Falle des Verdachts einer Straftat, Zeugin in den Strafverfahren. Ihre jeweiligen, auf nachrichtendienstlichen ebenso wie eigenen Erkenntnissen beruhenden Gefahrenprognosen prägen nicht nur die behördliche, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung von Protesten, noch bevor diese tatsächlich stattgefunden haben. So lässt sich ein allgemeiner Trend beobachten, in dem Polizei zunehmend als Akteurin der öffentlichen Meinungsbildung auftritt, verstärkt u. a. durch die Nutzung von Social Media.[13] Im Zuge der polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg konnte die Einflussnahme der Polizei auf den öffentlichen Diskurs um das Protestgeschehen durch ihre Pressearbeit und das damit aufgeworfene Bedrohungsszenario nachgezeichnet werden.[14]
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Polizei auch schon im Vorfeld konkret auf Proteste einwirkt, diese steuert, einhegt oder gewähren lässt und inwiefern sich in diesem Zusammenhang selektives Polizeihandeln beobachten lässt. Diese Frage erscheint vor dem Hintergrund des in Deutschland im Grundgesetz verankerten Versammlungsrechts sowie der Diagnose um kleiner werdende Räume im Rahmen von sozialen Bewegungen äußerst relevant. Der Eindruck, dass eine Polizei auf die politische Zugehörigkeit oder das Engagement der Demonstrant*innen reagiert, ist intuitiv beunruhigend und lässt Zweifel an der Bereitschaft der Polizei aufkommen, das Recht auf Protest im gesamten politischen Spektrum auf faire und unparteiische Weise zu wahren.[15]
Selektivität im Protest Policing?
Um der Frage der Ungleichbehandlung von Versammlungen durch Protest Policing nachzugehen, richtet die entsprechende Forschung den Blick u. a. auf die Anwendung des Ermessensspielraumes der Polizei bei der Bearbeitung von Protesten. Ermessen meint hier die polizeiliche Praxis unabhängig des rechtlichen Ermessens. Das soziologische Ermessen – ein Begriff der durch die ethnografische Polizeiforschung in den siebziger Jahren geprägt wurde – umfasst die gesamte Bandbreite an tatsächlich umsetzbaren Handlungsoptionen der Polizei, die sich strukturell daraus ergibt, dass universalistische Rechtsnormen situativ unbestimmt sind, keine konkreten Handlungsanweisungen enthalten und eine situationsbezogene Interpretation erfordern.[16] In diesem Zusammenhang haben Donatella della Porta und Olivier Fillieule verschiedene Dimensionen polizeilicher Performanz im Zusammenhang mit Protesten formuliert. Diese reichen von brutal versus nachlässig in Bezug auf die Anwendung von Gewalt über repressiv versus tolerant in Bezug auf das Ausmaß der Verbote im Zusammenhang mit dem Protesthandeln bis hin zu legal versus illegal hinsichtlich der Einhaltung geltender Gesetze durch die Polizei.[17] Allein die Feststellung soziologischen Ermessenshandelns im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Protesten lässt jedoch nicht zwingend auf eine Selektivität im Sinne einer Ungleichbehandlung bei der Ausübung des Versammlungsrechts schließen. Smith diskutiert im Zusammenhang mit der Selektivität von Protest Policing die Gebote der Neutralität und Unparteilichkeit. Dementsprechend formuliert er als Bedingungen, dass operative Maßnahmen, die einer Protestpartei helfen oder sie behindern könnten, und öffentliche Stellungnahmen zum jeweiligen Konflikt, welche eine Parteilichkeit anzeigt, zu unterlassen sind. Zudem dürfe es keine willkürliche Diskriminierung seitens der Polizeikräfte bei der Durchsetzung einschlägiger gesetzlicher Vorschriften oder beim Dialog und der Verhandlung mit Protestgruppen (vor, während oder nach einer Protestveranstaltung) und keine Ungleichbehandlung bei der Einflussnahme auf den Protest geben.[18]
Ein Spannungsverhältnis ergibt sich hier, indem die Öffentlichkeit in bestimmten Kontexten erwartet, dass die Polizei nicht neutral auftritt, z. B. im Zusammenhang mit Black-Lives-Matter-Protesten, bei denen es am Rande von Demonstration in Texas, USA, im Jahr 2020 zu einem Kniefall von Polizist*innen kam. Dieser sollte nicht nur Vergebung erbitten, er war ebenso ein Versuch, eine soziale Ordnung wiederherzustellen, in der die Polizei, mit bürgerlichem Vertrauen bedacht, für Sicherheit sorgen soll.[19] Grundsätzlich stellt sich also die Frage, inwiefern Polizei in der Behandlung von Protesten, Neutralität und Unparteilichkeit wahren kann.
Dies rückt Fragen danach in den Vordergrund, inwiefern die Polizei nach einer institutionellen Logik an einer (Be-)Wertung von Protestierendengruppen nach bestimmten zugeschrieben Merkmalen beteiligt ist und darauf aufbauend Maßnahmen trifft, die in der Ausübung der Versammlungsfreiheit einschränkend wirken. Dementsprechend muss unabhängig davon, welche mehr oder weniger objektivierbare Bedrohung der öffentlichen Ordnung von einer Protestgruppe ausgeht, betrachtet werden, welche Illegitimität oder Legitimität Polizeiorganisationen im Zusammenhang mit Protesten konstruieren, die aus institutioneller Perspektive funktionell erscheinen. Vor diesem Hintergrund sind die sozialen Prozesse sowie Ausprägungen von polizeilichen Deutungsmustern und Konstruktionen zu verschiedenen Protestierendengruppen relevant. Donatella della Porta und Herbert Reiter sprechen in diesem Zusammenhang vom Wissenskorpus.[20] Demnach ist das polizeiliche Wissen konstitutiv für die Praxis des Protest Policing. So bilden u. a. Gefährdungseinschätzungen im Kontext der Gefahrenabwehr die Grundlage polizeilichen Handelns und formen della Porta zufolge den Wissenskorpus, der die von den Behörden über die Zeit entwickelten Stereotypen über Störungen und ungeordnetes Verhalten widerspiegelt.
Wesentlich für die Konstitution polizeilichen Wissens sind Narrative, die für den Polizeiberuf alltagsplausible Bedeutungen transportieren, die Komplexität polizeilicher Arbeit reduzieren und Handlungsroutinen bieten können. Vorwiegend werden in Narrativen Merkmale angesprochen, die Vorstellungen von deviantem Verhalten betreffen und dadurch Handlungen legitimieren. Die so entstandenen Legitimisierungsmythen stellen eine wesentliche kommunikative Strategie im Polizeialltag dar.[21] Zur Analyse von polizeilichen Ungleichbehandlungen sind also die polizeiliche Praxis im Rahmen von konkreten Protestereignissen, die gesetzlichen und politischen Bedingungen öffentlicher Ordnung, die Konflikthistorie zwischen Protestierendengruppen und der Polizei sowie die innerpolizeilichen Wissensbestände und Narrative, welche das polizeiliche Handeln nach außen und innen legitimieren, zu betrachten.[22] Ungleichbehandlung kann sich in diesem Zusammenhang u. a. als unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt, in Form generalisierender Gefahrenprognosen sowie selektiven Festnahmen oder Inhaftierungen gegen bestimmte Gruppen aufgrund von sozialen und zugeschriebenen Merkmalen äußern.