Begleitschutz für Journalist*innen: Wenn Pressearbeit ohne Schutz nicht möglich ist

Interview mit der Initiative Between the Lines

Laut dem Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit gelten Demonstrationen als der gefährlichste Arbeitsplatz für Medienschaffende – 80 Prozent der Angriffe auf Journalist*innen ereignen sich dort, 60 Prozent davon auf Versammlungen mit Bezug zu Corona, besonders häufig in Sachsen.[2] Die Angriffe stehen im Kontext einer Radikalisierung in der Abneigung von Presse sowie einer Normalisierung pressefeindlicher Erzählungen in der breiten Gesellschaft. Zum Schutz werden Medienschaffende bei ihrer Arbeit zunehmend durch Sicherheitspersonal begleitet. Im Interview mit Stephanie Schmidt berichtet die ehrenamtliche Begleitschutzinitiative Between the Lines von ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen mit Angriffen auf Journalist*innen.[1]

 Ihr seid eine Initiative, die seit 2021 Journalist*innen auf Demonstrationen – vor allem im Sachsen – begleiten, um den dortigen Schutz der Medienschaffenden zu gewährleisten. Wie kam es zur Gründung von Between the Lines?

Wir wurden in einem Bekanntenkreis darauf aufmerksam, dass Angriffe auf Pressevertreter*innen sich verstetigen. Konkret: Diese Entwicklung wurde von rechtsgerichteten, verschwörungsideologischen und meist coronamaßnahmenbezogenen Versammlungen angetrieben und fand lange fast exklusiv dort statt. Auch die Intensität und der Personenkreis, aus dem heraus Angriffe stattfanden, erweiterten sich. Wo vorher eher Männer bis 40 übergriffig wurden und mal in eine Kamera griffen oder Pressevertreter*innen beleidigten, nahmen wir immer öfter auch Angriffe wahr, die Verletzungen in Kauf nahmen. Ältere Frauen rammten mit Wucht Fahrräder in Reporter*innen. Eine Entsolidarisierung mit Angreifenden auf Versammlungen fand nicht mehr statt.

Lange blieben die Angriffe unter der Eingreifschwelle der Polizei – bzw. die Eingriffsschwelle der Polizei zu hoch darüber. Wir dachten, dass wir in diesen Momenten zwischen Angreifer*innen und Presse stehen können. Entweder, um den kleinen Rempler ganz zu verhindern oder bei anhaltenden Angriffsversuchen so lange die Presse abzuschirmen, bis die Polizei vor Ort ist. Wir haben also im Bekanntenkreis angefangen, uns Gedanken über die Voraussetzungen und die Ziele eines zivilgesellschaftlichen Schutzes der Pressefreiheit zu machen. Dann haben wir lokale Journalist*innen angesprochen und diese testweise begleitet. Als sich abzeichnete, dass unsere Präsenz eine positive Wirkung hat und immer mehr Anfragen von Journalist*innen kamen, haben wir eine etwas festere Organisation aufgebaut und angefangen, weitere Freiwillige anzuwerben. Kurz darauf kippte die Stimmung in Sachsen aber völlig.

Die Pressefreiheit in Deutschland steht unter Druck. Laut einem Bericht von „Reporter ohne Grenzen“ (RSF) zur Pressefreiheit ist Deutschland im Ranking fünf Plätze nach unten gerutscht. Die Sicherheitslage für Journalist*innen hat sich in den letzten Jahren also zunehmend verschlechtert. Seht Ihr eure Arbeit in diesem Kontext?

Bis 2014 waren Pressevertreter*innen im Versammlungskontext vor allem durch organisierte Neonazigruppen und Anti-Antifa-Aktivitäten gefährdet. Ihnen wurde im Privatleben aufgelauert und oft endeten Angriffe im Krankenhaus. Danach „demokratisierte“ sich der Hass auf Medien auch durch die …GIDA-Bewegung. Dort sahen sich autoritäre, verrohte Bürger*innen falsch dargestellt.

Der nächste Sprung war die Demokratisierung der Gewalt. Also dass große Teile von Versammlungen nicht nur „Lügenpresse“ rufen, sondern auch körperlich übergriffig werden. Das ist ziemlich klar ein „Querdenken“-Phänomen, das natürlich von rechtsradikalen, verschwörungsideologischen Kreisen vorangetrieben wurde, aber auch bei zahlreichen Teilnehmer*innen verfing. Die Grenzen zivilisierten Miteinanders zu überschreiten, gemeinsam Pressevertreter*innen anzugehen, ist das Niveau seit 2021, und das erstreckt sich über ganz Deutschland.

Wieso habt ihr euch ausgerechnet in Sachsen gegründet? Gibt es dort eine spezifische Gefährdung von Journalist*innen?

Einen besonderen Kipppunkt gab es in Sachsen, als dort im Dezember 2021 Demonstrationen fast komplett verboten wurden. Damals gingen in Sachsen jeden Montag Zehntausende gegen Coronamaßnahmen auf die Straße. In jedem noch so kleinen Städtchen waren es Hunderte. Das wurde verboten. Die Leute kamen trotzdem, die Polizei konnte das in der Fläche nicht verhindern – beides war unserer Meinung nach vorher absolut absehbar. Teilweise wurde die Polizei gezielt angegriffen. Der psychologische Effekt auf die Versammlungsteilnehmer*innen war, dass sie auf der „anderen Seite“ standen sowieso Gesetzesbrecher oder „Widerständler“ waren. Und das zerstörte jede vorhandene Hemmung auch für Angriffe auf Pressevertreter*innen. Das ist ein spezifisches sächsisches Phänomen, das man an den Zahlen von RSF sehen kann, das wir aber auch genauso wahrnehmen, wenn wir außerhalb von Sachsen begleiten. Oder wenn auswärtige Gruppen in Sachsen unterwegs sind. Allgemein verbreiten sich diese Angriffs- und Verhaltensweisen langsam auch auf andere „Szenen“. Between The Lines ist eine zivilgesellschaftliche Antwort darauf. Deswegen haben wir uns gegründet.

Als Reaktion auf die zunehmenden Angriffe auf Journalist*innen empfiehlt der Schutzkodex für Medienhäuser bei verschiedenen Veranstaltung die Begleitung durch Sicherheitspersonal. Wer nimmt eure Arbeit vor allem in Anspruch?

Wir begleiten Freie Journalist*innen. Das heißt Menschen ohne Redaktionsvertrag, aber mit bundeseinheitlichem Presseausweis. Besonders oft sind das Protestberichterstatter*innen, die wegen ihres Profils auch in der rechten Szene bekannt sind und die immer wieder und gezielt angegriffen werden. Aber grundsätzlich kann uns jede*r freie Journalist*in anfragen. Üblicherweise gibt es von uns dann eine Risikoanalyse und ein Begleitteam aus zwei Freiwilligen. Das Ganze ist komplett ehrenamtlich und für die Journalist*innen kostenlos. Wir begleiten dort, wo wenig Polizei ist, in den 30 Sekunden, wo kein anderer Schutz da ist, und die Menschen, die keine anderen Ressourcen haben. Das sind Freie Journalist*innen, die über gefährliche Menschen und Organisationen recherchieren.

Wieso arbeitet ihr ehrenamtlich und nicht bspw. als Angestellte bspw. in einer Sicherheitsfirma?

Zum einen ist uns wichtig, dieses Engagement allen möglich zu machen, die Hürden niedrig zu halten. Zum anderen würde ein kommerzielles Angebot an ganz andere gewerberechtliche Bedingungen geknüpft sein, die letztendlich die Datensicherheit und die physische Sicherheit der freiwilligen Begleiter*innen inakzeptabel reduzieren würde. Aufwand, Risiken und Nutzen stünden da in keinem Verhältnis. Persönliche Risiken versuchen wir durch solidarischen Umgang mit gemeinsamen und individuellen Ressourcen auszugleichen. Mit rechtlichen oder anderen Folgen der Begleittätigkeit wird niemand allein gelassen.

Wie gestaltet sich eure Arbeit?

Alles läuft ehrenamtlich. Es gibt wenig Struktur: Ein Orga-Team für die Hintergrundarbeit, einen Twitteraccount, ein Spendenkonto. Die Struktur soll vor allem dazu dienen, die Begleiter*innen möglichst weit zu entlasten, damit wir so viele Begleitungen wie möglich machen können. Gleichzeitig haben wir einen großen Anspruch an unsere Professionalität. Nichts wäre unangenehmer, als wenn wir Fehler machen und dann die Arbeit von Journalist*innen schwieriger wird, etwa weil wir provozieren statt zu deeskalieren, oder wenn unsere Gefahreneinschätzung, auf die sich die Journalist*innen ja verlassen, falsch wäre.

Was genau macht ihr in einer Begleitung?

Eine Begleitung beginnt meistens etwas vor der Versammlung oder Veranstaltung. Zuerst wird vorbereitet: Wie ist die Gefahrenlage, gibt es Besonderheiten – entweder bei der Versammlung und den Teilnehmer*innen oder bei den Pressevertreter*innen –, wie sieht es vor Ort aus, brauchen wir bestimmte Ausrüstung, wie funktionieren An- und Abreise, welches Verhalten und welche Präsenz können wir von der Polizei erwarten? Diese Informationen werden gesammelt und mit allen Beteiligten geteilt, um Unklarheiten, abweichende Einschätzungen und Störgefühle auszuräumen.

Vor Ort treffen wir uns mit der Schutzperson und besprechen das genaue Vorgehen: Wie sichtbar sollen die Begleiter*innen sein, wie viel Input wollen die Schutzpersonen, wer hat den Hut für bestimmte Entscheidungen auf, welchen Umgang mit Bildmaterial wollen die Menschen vor Ort, wie wird mit Strafverfolgungswünschen umgegangen? Es gibt für diese Vorgespräche auch Checklisten. Auch für die Begleitung selbst gibt es ein paar Handlungsempfehlungen. Das reicht von: Wer reagiert wie bei kontaktsuchenden Teilnehmer*innen? Und geht letztendlich bis hin zu Notwehr und Nothilfe. Oft besteht der größte „Service“ darin, dass wir auf sich anbahnende Gefahren im Auge behalten und die Journalist*innen darauf aufmerksam machen.

Wo liegen die Grenzen von dem was ihr gewährleisten könnt?

Die Grenzen unserer Begleitteams liegen bei der persönlichen Belastbarkeit. Grundsätzlich kann jede*r immer ein Abbruchsignal geben, wenn die persönlichen Grenzen erreicht werden. Also Begleiter*innen und Schutzpersonen. Das ist das übergeordnete Solidaritätsprinzip, und daran müssen sich Schutzpersonen auch halten. Es gibt auch harte Abbruchkriterien, die wir mit den Journalist*innen besprechen.

Seid Ihr besonders geschult?

Es gibt keine IHK-Schulung, keinen Sachkundeschein, keine Kampfsporttrainings, sondern auf unsere Tätigkeit angepasste und ständig mit aktuellen Erfahrungen ergänzte Trainings. Damit wir auf hohem Niveau arbeiten können – also bei dem Aggressionspotenzial soweit handlungssicher bleiben, dass alle sicher wieder rauskommen –, bereiten wir uns aber natürlich vor: Neue Bewerber*innen werden unverbindlich kennengelernt. Wir reden offen darüber, was passieren kann, was schon passiert ist, welches Verhalten wir in bestimmten Situationen erwarten, die nicht alltäglich sind. Haben wir gemeinsam den Eindruck, dass der*die Bewerber*in passt, geht es weiter: Verpflichtend ist ein Workshop zum Umgang mit „Standardsituationen“. Danach gehen die Neuen als zusätzliche Person mit einem erfahrenen Zweierteam zu einer Versammlung mit geringem Gefahrenpotenzial. Dort übt man nochmal Bewegungen ein, zeigt das Timing, Körpersprache, Umgang mit der Polizei: Standardprozeduren.

Nach Begleitungen und auch zwischendurch versuchen wir, gemeinsam die individuellen Bedürfnisse anzuschauen. Jede*r soll nur in Situationen geraten, in denen er oder sie sich im Team auch handlungssicher fühlt. Unsere Gesamtbilanz ist selbst bei Eskalationen sehr gut: Es wurde noch keine Begleiter*in und keine Schutzperson verletzt. Das kann man auch ein bisschen für sich sprechen lassen.

Eigentlich ist die Polizei dafür verantwortlich, die journalistische Arbeit auf Demonstrationen zu gewährleisten. Wieso braucht es euch da überhaupt?

Unserem Verständnis nach soll die Rolle der Polizei für Versammlungen und Journalist*innen so gering wie möglich sein. Denn die Polizei greift in Grundrechte ein. Journalist*innen wollen selten eng begleitet werden, weil sie sich dadurch beobachtet fühlen. Polizeieskorten durch Versammlungen schüchtern eventuell Teilnehmer*innen ein. Also rein praktisch kann die Polizei nicht präventiv alle Grundrechte von Pressevertreter*innen schützen, wenn auf Versammlungen einzelne oder viele gewaltbereit sind, wobei nicht erkennbar ist, wer das ist.

Manchen Journalist*innen ist es auch einfach unangenehm, nah an der Polizei zu arbeiten oder fern der Versammlung. Manchmal müssen selbst wir so begleiten. Dann kann man sich stundenlang nicht mehr als einen Meter von Polizeikräften entfernen, ohne dass es zu körperlichen Übergriffen kommt. Aber mit Pressefreiheit hat das dann nur noch wenig zu tun. Um das klarzustellen: Da kann die Polizei angesichts der Aggressivität, die sich da unvermittelt Bahn brechen kann, auch nicht mehr erreichen. Das kommt selbst bei Begleitungen vor, wo wir unsere und die Polizei ihr Arbeit eigentlich als optimal wahrnehmen.

Wie sind eure Erfahrungen im Umgang mit der Polizei?

Wir füllen da eine Lücke. Das sehen auch Polizeidienststellen so, die öfter mit uns in Kontakt sind. Gerade die Polizei Sachsen ist da mit konkreten Ansprechparter*innen für Presseschutz, mit einer aktiven Entwicklung von Schutzkonzepten im Vergleich zu anderen Bundesländern relativ weit vorn. Da drängt man auch dem örtlichen Einsatzleiter mal zusätzliche Kräfte für den Presseschutz auf. Im Vergleich zu anderen Bundesländern, wo Schutzkonzepte entweder nicht vorhanden sind oder sich auf „Pressezoos“ beschränken, ist das luxuriös. Anderswo sind vorhandene Konzepte teilweise nur Luftschlösser ohne Ressourcen. Hier hat man sehr gut verstanden, dass Angriffe auf Pressevertreter*innen der Ausdruck von Radikalisierungsprozessen sind, dass Journalist*innen gezielt angegriffen werden, egal wie sie sich verhalten oder auftreten.

Dennoch kommt es zu Angriffen.

Ja, und das zeigt drei Probleme sehr deutlich: Erstens kann auch das beste Einsatzkonzept Angriffe nicht zu 100% verhindern, wenn genug Aggressionspotenzial in der Versammlung vorhanden ist. Das Problem in Sachsen ist die Vielzahl potenzieller Angreifer*innen und deren geringe Hemmschwelle. Setzt die Polizei unmittelbaren Zwang – also Gewalt – ein, ist das Einsatzkonzept meist schon gescheitert, und wie sich eine Situation weiter entwickelt ist nur begrenzt kontrollierbar.

Zweitens besteht ein Problem bei der Strafverfolgung. Nur die wenigsten Angriffe, Bedrohungen, Nötigungen werden von der Polizei selbstständig zur Anzeige gebracht, die Täter*innen vor Ort in der Regel nicht verfolgt. Wir haben einen sehr gut dokumentierten Angriff in Dresden Laubegast erlebt. 13 Tatbeteiligte, massive Gewalt in Form von Tritten, Schlägen, teilweise Schlägen mit Fahrradschlössern. Die sich entfernende Gruppe der Pressevertreter*innen wurde verfolgt und immer weiter angegriffen. Trotz Notrufen der Journalist*innen wurden diese von eintreffenden Polizeikräften zuerst selbst als Beschuldigte und ursprüngliche Angreifer*in geführt und behandelt. Nach über einem Jahr wurde Anklage gegen die tatsächlichen Angreifer erhoben. Allerdings nur gegen vier Personen. Mehrere namentlich bekannte Angreifer wurden ignoriert. Der Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft ist Nötigung. So kann man Täter auch ermutigen. Und das sieht man auch, wenn man deren Social Media-Profile anschaut. Gleichzeitig gibt und gab es gravierende Mängel im Zeugenschutz. Also: Wenn man nicht selbst anzeigt, wird oft nicht verfolgt. Wenn man selbst anzeigt, dann landen auch gesperrte Adressen trotz angeordnetem Zeugenschutz in Prozessakten. Bestrafung der Täter*innen ist ungewiss.

Und das dritte Problem?

Das dritte Problem im Kontext Polizei und Presseschutz sind Einzeldienstbeamte auf Revieren in Vor- und Kleinstädten. Im Frust nennen wir sie dann häufig „Dorfcops“. Wenn sich da ein lokaler Einsatzleiter vor unserem Teamlead aufbaut und erzählt „ich bin hier schon 38 Jahre Polizist“, dann wird die ganze Begleitung Mist. Wir hatten örtliche Einsatzleiter, die zusätzliche Presseschutzbeamte an anderen Stellen eingesetzt oder komplett zurückgehalten haben. Wir hatten Einsatzleiter, die uns nach Angriffen gesagt haben, dass die Bürger hier sowas nicht tun würden. Wir hatten Dorfcops, die sich mit zwei Semestern Jura gebrüstet haben und beständig mit Kriminalisierung von Pressevertreter*innen und Begleitschutz gedroht haben. Beamte, denen von einer verbalen Todesdrohung samt Hitlergruß berichtet wurde und die dann erstmal zum Täter gehen und freundlich die Hand schütteln. Oder Beamte, die gegenüber Dritten eins-zu-eins die Narrative weitergeben, die in Telegramkanälen der Freien Sachsen gestreut wurden. In einem Fall war das ein Beamter, der am Tag eines Angriffs Einsatzleiter war und später erzählt hat, wie angeblich die Journalisten die organisierten Neonazis angegriffen hätten. Es ist manchmal wild.

Aber um das zusammenzufassen: Unsere Erfahrungen mit Bereitschaftspolizeikräften aus allen Bundesländern sind unproblematisch oder zumindest gut kalkulierbar. Einzeldienstbeamt*innen sind immer ein Glücksspiel. Polizeikräfte, die öfter mit uns Kontakt haben, passen ihr Vorgehen an unsere Anwesenheit an. Meist kommt dabei ein besserer Presseschutz raus.

Bei der Studie durch das Bielefelder „Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung“ (IKG) gaben 82 Prozent der angegriffenen Journalist*innen an, dass sie vermuten, dass die Angreifenden aus dem politisch rechten Milieu stammen. Wie sind eure Erfahrungen?

Die meisten Angriffe finden auch unserer Erfahrung nach bei rechtsgerichteten Versammlungen statt. Dabei überschneiden sich zwei Teilnehmer*innen- und Angreifer*innentypen: Der erste besteht aus organisierten, gewalterfahrenen Gruppen. Die greifen gezielt, relativ rational an. Die wollen auch keine negativen Konsequenzen spüren und sind bei vorhandenem Begleitschutz oft zurückhaltend, verschieben ihre aggressive Zielsetzung auf eine bessere Gelegenheit. Wenn dann noch Polizei dazukommt, sind sie meist ganz weg. Aber sie verfolgen einen vielleicht zum Auto und schlagen dann dort zu.

Der zweite Typus sind die verrohten, radikalisierten Bürger*innen mit mehr oder weniger geschlossenem rechten Weltbild. Stumpf ausgedrückt: Der Opa, der sich ungerecht behandelt fühlt; der glaubt, sein Recht selbst durchsetzen zu dürfen und als Mittel den Schlag in die Kamera nutzt. Die machen das teilweise direkt neben der Polizei, sind völlig überrascht und empört, wenn jemand dazwischengeht. Da wird in die Kamera gelangt, mit der Fahnenstange gestoßen, angerempelt, aber steht eine Begleiter*in dazwischen wird gebrüllt „Fass mich nicht an!“ Völlig verschobenes Anspruchs- und Hegemoniedenken. „Ich bin wer, du bist nichts. Deswegen darf ich alles, und du darfst nicht.“

Um was für Angriffe geht es da genau?

Angriffe entwickeln sich selten aus dem luftleeren Raum heraus. Meist müssen die Täter*innen auch erstmal Mut sammeln oder Wut. Es fängt mit Pöbeleien oder „versehentlichen“ Remplern an und steigert sich über Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zu gezielten Angriffen. Dabei werden häufig ähnliche Gründe vorgeschoben: Die Journalist*innen würden lügen, gehörten zur Antifa, zum Staat, würden für Meinungsmache bezahlt. Solche Sachen.

Um es ganz klar zu sagen: Diese Muster haben sich bei verschwörungsideologischen, rechtsradikalen Versammlungen gebildet und 99% der Angriffe finden dort statt. Das verbindende Element bei Pressefeindlichkeit ist so gut wie immer offener oder kryptischer Antisemitismus. Der Unterschied ist dann im Wesentlichen, ob man noch als Lügenpresse oder schon als Judenpresse angefeindet wird. Es bricht sich dann oft auch Sexismus Bahn, indem bevorzugt Journalistinnen angegriffen werden, während die Kollegen daneben unbehelligt bleiben. Ein ähnliches Muster gibt es bei anderen marginalisierten Gruppen. Ist jemand jung, nicht-weiß, ohne festen Redaktionsvertrag, steigt die Gefahr der Angriffe für die konkrete Person. Das heißt: Das Feindbild Presse entscheidet, ob es zu Angriffen kommt. Ganz egal wie sich die Betroffenen verhalten. Andere Diskriminierungsmuster entscheiden darüber, wer angegriffen wird.

Gibt es auch davon abweichende Erfahrungen?

Es gibt in unserem Erfahrungsschatz zwei Muster, die abweichen. Das sind zum einen Fußballhooligans, die einfach jede Kamera als Bedrohung wahrnehmen. Man kann hier anders deeskalieren, weil man nicht der Feind ist, der vernichtet werden muss, wie das bei rechts radikalisierten Menschen immer wieder durchscheint. Außerdem linksradikale, autonome Proteste. Hier ist es meist völlig entspannt für uns. Menschen, die nicht fotografiert werden wollen, kommen ran, sagen das, man unterhält sich, die Situation wird geklärt. Das Potenzial, dass Journalist*innen hier zusammengeschlagen werden und wirklich verletzt werden sollen, ist gering. Selbst neonazistischen Medienaktivist*innen wird eher mal die Mütze geklaut, als dass zugeschlagen wird.

Wir wollen das nicht verharmlosen. Aber von autonomen Versammlungen geht in Deutschland keine Gefahr für die Pressefreiheit insgesamt aus. „Ich mache keine Protestberichterstattung mehr“, „ich hab‘ das ganz aufgegeben“, „dorthin fahre ich nicht mehr“ oder „… nicht mehr ohne Begleitschutz“: Diese Sätze hören wir nur in Bezug auf rechte, verschwörungsideologische Versammlungen.

Welche Probleme seht ihr für eure Arbeit und was fordert ihr?

Das Hauptproblem ist die Aggressionsbereitschaft in immer größeren Kreisen der Bevölkerung. Da braucht es eine gesamtgesellschaftliche Reaktion, statt der Ignoranz gegenüber Kritik und den Hilferufen der Betroffenen, welche ja weit mehr sind als nur die Pressevertreter*innen. Alles andere, also Sensibilisierung der Polizei, der Schutzkodex, Gefahrentrainings für Journalist*innen und natürlich auch unsere Initiative, ist nur Symptombehandlung.

Was fordert ihr konkret vom Staat?

Bei gruppenbezogener Gewalt muss Strafverfolgung viel schneller werden. Beispielweise kommen nach drei Jahren Querdenken erst jetzt viele der Anklagen oder erstinstanzlichen Urteile. Zum einen haben sich die Täter jetzt jahrelang in ihrem Weltbild eingerichtet, sich bewaffnet und in ihren Wohnungen verschanzt. Zum anderen haben sie über Jahre Pressevertreter*innen und andere angegriffen. Wir treffen die Angreifer von vor zwei Jahren immer noch regelmäßig auf Demonstrationen, wo sie genau so weiter machen. Das hat massive persönliche Konsequenzen. Ob das erzwungene Umzüge sind, psychische und körperliche Verletzungen, man darf das nicht schönreden: Da wurden Existenzen zerstört. Hier ist der Staat gefordert und muss seine Aufgabe in der Repression auch machen. Präventiv ist das oft anders.

In unserer Initiative manifestiert sich der Gedanke, dass es ein latentes Gewaltpotential gibt, und dass dieses auch zivilgesellschaftlich eingedämmt werden kann. Dass es nur wenig Training, Vorbereitung und Organisation bei wenigen Menschen braucht, um Schäden zu verhindern. Kontakt zur Polizei kann helfen. Insbesondere, wenn es phänomenbezogen Spezialist*innen und Ansprechpartner*innen gibt. Nicht nur als Meldestelle, sondern in den Stäben der Polizeibehörden mit der Befugnis und Rückendeckung auch mal nachgeordnete Reviere „gerade zu biegen“, wenn da etwas im Argen liegt. Es braucht das Eingeständnis, dass nicht jeder „Dorfcop“ nach drei Jahren Fachhochschulstudium die Einsatzleitung bei Versammlungen übernehmen und dabei die Feinheiten des Presseschutzes selbst berücksichtigen kann. Polizeibehörden müssen da vor die Lage kommen, sich neu entwickelnde Feindbilder radikalisierter Bürger*innen identifizieren und Ansprechpartner*innen professionell aufbauen, Präventions- und Schutzkonzepte erarbeiten, bevor sich die Gewalt Bahn bricht.

Unser Ansatz ist aber nicht, mehr Polizei zu fordern: andere Behörden und die Zivilgesellschaft müssen sich da emanzipieren. Gewalt gegen Pressevertreter*innen ist nur ein Ausdruck gesellschaftlicher Radikalisierung. Wir möchten alle gesellschaftlichen Akteur*innen ermuntern, Konzepte zum Umgang mit dieser Radikalisierung zu entwickeln; ob mit oder ohne staatliche Stellen. Between the Lines bieten sich gern an, dabei zu unterstützen.

Danke für das Interview!

[1]    Das Interview erfolgte mit Klemens Köhler, einem der Mitgründer*innen und Sprecher*innen.
[2]    Europäisches Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF): Feindbild Journalist:in. Berufsrisiko Nähe v. 23.3.2023, www.ecpmf.eu/wp-content/uploads/2023/03/Feindbild-Journalistin-7-Berufsrisiko-Nahe.pdf

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