von Helmut Knüttel*
Zum 1. April dieses Jahres hat der bayerische Landtag eine Änderung des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) beschlossen, die unmittelbare Auswirkungen haben soll für Demonstrationen auf bayerischem Boden. Der Polizei wird es durch die Senkung der Eingriffschwelle wesentlich erleichtert, Demonstranten vorbeugend in Haft zu nehmen. Gleichzeitig wird der Hafteingriff durch Verlängerung der möglichen Haftdauer auf 14 Tage intensiviert.
1. Der Regelungsinhalt
Die Polizeigesetze der Länder sehen ziemlich übereinstimmend die Möglichkeit einer polizeilichen Präventivhaft vor: als sog. Schutzgewahrsam (z.B. zur Unterbringung von Selbstmordgefährdeten) und daneben den sog. Sicherungsgewahrsam, um den es hier geht. Die bayerische Staatsregierung nennt ihn verharmlosend und sachlich unzutreffend „Unterbindungsgewahrsam“. Die Dauer des Sicherungsgewahrsams ist in den Ländern unterschiedlich geregelt. Die Polizeigesetze Hamburgs und Bremens sehen keine ausdrückliche und fest Begrenzung der Haftdauer vor, Baden-Württemberg begrenzt die höchstzulässige Dauer auf zwei Wochen.
Die übrigen Ländergesetze schreiben vor, daß der Gewahrsam spätestens bis zum Ablauf des nächsten Tages aufgehoben werden muß, „wenn nicht vorher die Fortdauer der Freiheitsentziehung auf Grund eines anderen Gesetzes durch richterliche Entscheidung angeordnet ist“, so bisher auch Art.19 Ziffer 3 des bayerischen PAG a.F.. Nach dem novellierten Art.19 PAG kann der Richter Gewahrsam bis zu 14 Tagen anordnen und zwar nun allein aufgrund des PAG. Materiellrechtliche Grundlage für die Anordnung des Sicherungsgewahrsams war bisher Art.16 Abs.1 Ziffer 2 PAG (a.F.):
„Die Polizei kann eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn
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2. das unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.“
Mit der Novelle ist nun ein Katalog mit Regelbeispielen angefügt worden, der bundesweit ohne Vorbild ist (vgl. 1 Nr.1a des 2. Gesetzes zur Änderung des PAG vom 23.März 1989).
Für Bayern neu ist schließlich, daß in Anlehnung an eine Regelung in NRW und Niedersachsen dieser Unterbindungsgewahrsam nun auch zur Durchsetzung einer sog. Platzverweisung nach Art.15 PAG alte und neue Fassung zulässig gemacht worden ist (vgl. 1 Nr.1b).
Staatliche Eingriffe in die persönliche Freiheit des Bürgers unterliegen seit der habeas-corpus-Akte im bürgerlichen Rechtsstaat ausgeprägten verfassungsrechtlichen Eingrenzungen. So liegt es nahe, gesetzliche Verschärfungen der Polizeihaft an der verfassungsrechtlichen Latte zu messen. Die bayerische Staatsregierung hat gleichwohl ein entsprechendes Anhörungsverfahren des Landtages zur Frage der Verfassungsmäßigkeit abgelehnt. Die Fraktionen der Grünen und der SPD haben daher jeweils eine eigene Sachverständigenanhörung durchgeführt, deren wesentliche Ergebnisse im folgenden referiert werden, wobei der Akzent auf verfassungsrechtlichen Fragestellungen liegt. Die Expertenbank war in beiden Anhörungen ähnlich besetzt: Ordinarien für öffentliches Recht, Polizeipraktiker und -rechtler, betroffene Demonstranten und Rechtsanwälte sowie Gewerkschaftsvertreter.
Nicht näher eingegangen wird im Rahmen dieses Beitrags auf die Regelung des Verfahrens und der Zuständigkeiten bei gerichtlichen Feststellungsanträgen (Art.17 Abs.2 und 3 PAG n.F.) und auf die Entschädigungsregelung in Art.49 PAG.
2. Die in den Anhörungen vorgetragene Kritik
Verlängerung der Vorbeugehaft auf 14 Tage
Art.104 Abs.2 Satz 3 GG gebietet, daß die Polizei „aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten“ darf. Mittlerweile unbestritten ist, daß die Polizei in jedem Fall eine richterliche Entscheidung über Verhängung und Fortdauer der Polizeihaft benötigt – also auch bei jedem Polizeigewahrsam unter 48 Stunden. In Bayern und anderswo wird von diesem Grundsatz allerdings insofern abgewichen, als auf eine richterliche Entscheidung in jenen Fällen verzichtet wird, in denen der Betroffene schon vor einer möglichen Richterentscheidung wegen Wegfalls des Gewahrsamsgrundes wieder freigelassen werden muß.
Umstritten ist jedoch, ob auch der Richter bei der Anordnung von Polizeihaft an die Höchstfrist des Art.104 GG gebunden ist und deswegen Freiheitsentziehungen über die genannte Frist hinaus nur auf Rechtsgrundlagen jenseits des Polizeirechts (wie beispielsweise die StPO) stützen darf. Für eine so verstandene, von Art.104 GG gesetzte materielle Begrenzung – und gegen ein rein prozeduales Verständnis des Richtervorbehalts (ob mit oder ohne richterlichen Segen) – spricht, daß polizeiliche „Machtvollkommenheit“ unter den rechtsstaatlichen Bedingungen des Grundgesetzes nur bedeuten kann: Machtausübung auf polizeigesetzlicher Grundlage. So gesehen darf es keinen Unterschied machen, ob der Richter oder die Polizeibehörde in Anwendung des Polizeirechts präventive Haft anordnet.
Zur Prognoseentscheidung
Selbst wenn man eine Ausdehnung der Polizeihaft für zulässig hält, bleibt die Frage, welche Anforderungen an eine Prognoseentscheidung über das Störerverhalten gestellt werden müssen. Im Zusammenhang mit den Unterbringungsgesetzen, die die zwangsweise Unterbringung in Einrichtungen der Psychiatrie regeln, hat das BverfG Maßstäbe gesetzt und verlangt, daß Anlaß und Fortdauer einer Freiheitsentziehung einer ständigen Kontrolle zu unterwerfen sind. Auf die präventive Polizeihaft übertragen, hieße dies, eine abgesicherte Langzeitprognose zu verlangen, die außer der Darstellung des objektiven Störungstatbestandes auch Aussagen zur „Störerpersönlichkeit“ enthalten müßte. Schließlich müßten diese Voraussetzungen über die gesamte Haftdauer vorliegen und unter aktueller richterlicher Kontrolle gehalten werden. Die Polizeiwirklichkeit schilderten die angehörten Polizeipraktikter:
Unter den Zwängen des Einsatzes können nur situative Kurzzeitprognosen erstellt werden, die sich auf den Anlaß und die absehbare Dauer des Geschehens beschränken. Der entscheidende Richter ist typischerweise auf die Polizeiunterlagen verwiesen; seine Prüfung beschränkt sich daher auf die Stichhaltigkeit der von der Polizei dargelegten Ausgangslage.
Zur Vorbeugehaft als Mittel der Verhinderung von Ordnungswidrigkeiten
Unter den Verfassungsrechtsexperten bestand ein fast vollständiger Konsens – das handfesteste Ergebnis der Anhörungen – über die Verfassungswidrigkeit der zweiwöchigen Polizeihaft zur Verhinderung von bevorstehenden Ordnungswidrigkeiten. Die Argumente kamen aus unterschiedlichen Richtungen. So gibt es eine eindeutige Rechtsprechung des BVerfG zu 112a StPO, die eine präventive Freiheitsentziehung aus Anlaß von Ordnungswidrigkeiten ausschließt, weil ein so schwerwiegender Eingriff wie der Entzug der persönlichen Freiheit eine Straftat voraussetzt, „die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist.“ (BVerfGE 35, 191)
In den Anhörungen wurde mehrfach auf den Wertungswiderspruch hingewiesen, der darin liegt, daß derjenige, der die schwerwiegendste Ordnungswidrigkeit mit dem denkbar größten Schaden nachweislich begangen hat, nur mit einer Geldbuße belegt werden kann, während derjenige, der eine qualifizierte Ordnungswidrigkeit nicht einmal versucht, sondern sich nur im nicht-bußgeldbewehrten Vorfeld einer Vorbereitung bewegt hat, mit einer Haft bis zu zwei Wochen „bestraft“ werden kann.
Schließlich ist noch auf Art.5 der Europäischen Menschenrechtskonvention hinzuweisen, die geltendes Bundesrecht ist und ebenfalls eine Präventivhaft zur Verhinderung von Ordnungswidrigkeiten verbietet.
Zu den Rechtstatsachen
Die bayerische Staatsregierung begründete die Notwendigkeit der 14-Tage-Frist mit Polizeierfahrungen, wonach bereits entlassene Störer an noch nicht beendeten Veranstaltung wieder teilgenommen hätten und bei Straftaten in Erscheinung getreten seien. Wiederholte Nachfragen bei den auf beiden Anhörungen anwesenden Polizeibeamten erbrachten keine konkreten Nachweise für diese Behauptung.
Polizeivertreter der Länder Hamburg und Bremen, in deren Polizeigesetze keine fixe zeitliche Begrenzungen für den Sicherungsgewahrsam vorgeschrieben sind, haben übereinstimmend erklärt, daß in der bisherigen Praxis nicht einmal die Frist bis zum Ablauf des nächsten Tages in Anspruch genommen würde. Der Anwendungsbereich für Gewahrsamnahmen läge schwerpunktmäßig bei Ausnüchterungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen und hier insbesondere bei Vergnügungs- und Sportgroßveranstaltungen; der Gewahrsam sei in der Regel nach 6-8 Stunden beendet. Lediglich aus Baden-Württemberg wurde über drei Fälle der längerfristigen Vorbeugehaft berichtet: gegen mehrere Personen im Zusammenhang mit zwei Punkertreffen im Jahr 1987 über drei bis vier Tage und ein mehrtägiger Gewahrsam 1971 gegen eine Person aus Anlaß einer Demonstration.
Zum Regelbeispielkatalog
Nach dem Willen der Gesetzesschöpfer soll den Gerichten und Polizeidienststellen die Prognoseentscheidung über unmittelbar bevorstehende Straftaten bzw. qualifizierte Ordnungwidrigkeiten ein Regelbeispielkatalog erleichtern. In diesem Sinne wurde der Katalog auch von den anwesenden Polizeigewerkschaftsvertretern begrüßt. Dem ist entgegenzuhalten, daß die typisierten Gefährdungsannahmen des Katalogs geradezu Überreaktionen und ungezielte Maßnahmen mit weiten Streueffekten provozieren. Die Struktur des Katalogs bringt es mit sich, daß an die Stelle von Einzelfallentscheidungen anhand der ausdifferenzierten Rechtsprechungsstandards zum polizeilichen Begriff der gegenwärtigen Gefahr Vorfeld-Annahmen treten. Diese bestehen in der gesetzlich sanktionierten Vermutung, der angetroffene Bürger könne zu einem späteren Zeitpunkt die Demonstration, an der er teilzunehmen beabsichtigt, mißbrauchen, um dort Straftaten bzw. Ordnungwidrigkeiten zu begehen. Der polizeiliche Zugriff auf sämtliche Vorstufen eines Demonstrationsgeschehens wird damit freigegeben, womit umgekehrt der grundsätzliche Schutzbereich der Versammlungsfreiheit aus Art.8 GG eingeschränkt wird.
Zum „Ankündigungsstörer“
Der vorbeugende polizeiliche Zugriff erweitert sich von den gegenständlichen Verlautbarungsmitteln wie Flugblättern und Transparenten auf die Träger und Inhaber derselben – das heißt auf deren persönliche Freiheit. Hier geht es (schon) nicht mehr um die Strafverfolgung von Meinungsäußerungen, auch nicht mehr um die Polizeikontrolle von Transparent- und Flugblattinhalten. Auch der unmittelbare Griff auf die Transparente und Flugblätter, die Sicherstellung oder Beschlagnahme, reicht nicht mehr: Menschen, die solche Dinge mit sich führen, sollen vorbeugend aus dem Verkehr gezogen werden.
Verwaltungsrechtlich gesehen dürfte ziemlich jede künftige, einzelne Gewahrsamnahme nach dem Art.16 Abs.1 Ziffer 2a PAG n.F. dem Verdikt der Unverhältnismäßigkeit unterliegen. Denn wenn die Polizei schon meint, eingreifen zu müssen, hat sie auf jeden Fall das mildere Mittel der Beschlagnahme anzuwenden. Wenn es für das Gesetz jedoch keinen Anwendungsbereich gibt, der vor dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit Bestand hat, kann bereits auf der Ebene des abstrakten Gesetzes die Verfassungswidrigkeit festgestellt werden.
Freilich wurden bei der Anhörung auch Zweifel geäußert, ob das BVerfG im Fall seiner Anrufung diese weitreichende Konsequenz ziehen würde.
Waffen und Ausrüstungsgegenstände
In die verfassungsrechtliche Gesamtwürdigung – darin waren sich die Sachverständigen einig – ist der hohe Rang des Rechtsguts der persönlichen Freiheit (Art.2 Abs.2 Satz 2 GG) einzubeziehen. Nach einer festen Rechtsprechung des BVerfG darf die persönliche Freiheit nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden. Die Eingriffsschwelle verschiebt sich noch weiter nach oben, wenn es – wie hier – um präventive Haftmaßnahmen geht. Diese verfassungsrechtlichen Markierungen sind natürlich bei der Bewertung des gesamten bayerischen Änderungsgesetzes zu beachten – sie sprin-gen besonders ins Auge beim zweiten Regelfall des Katalogs. Hier gilt der Vorrang einer Sicherstellung oder Beschlagnahme von Waffen oder bestimmten Ausrüstungsgegenständen erst recht: Wird das Umsägen von Strommasten befürchtet, genügt es, die erforderlichen Spezialwerkzeuge zu beschlagnahmen. Der bayerischen Staatsregierung ist denn auch als einzige Rechtfertigung dieser Norm nichts anderes eingefallen als der entlarvende Einwand, daß „die Störer sich solche Gegenstände auf irgendeine Weise schnell wieder beschaffen können.“ (amtl. Begr. S.5)
Im übrigen ist in Relation zur einschneidenden Rechtsfolge einer 2-Wochen-Haft die Tatbestandsvoraussetzung so unbestimmt formuliert („die erfahrungsgemäß bei derartigen Taten verwendet werden“), daß sich der amtierende Polizeipräsident in Düsseldorf, Lisken, bei der Anhörung veranlaßt sah, auf die Haftgefahr für einen Bürger hinzuweisen, der in einem von Wohnungseinbrüchen heimgesuchten Stadtteil mit einem Schraubenzieher angetroffen würde. Dieser Bürger müsse dann in Umkehrung des verfassungskräftigen Grundsatzes der Unschuldsvermutung für jedermann seine Harmlosigkeit nachweisen.
Zur „Begleiterhaftung“
Dem bayerischen Gesetzgeber war es vorbehalten, den neuen Tatbestand einer „Begleiterhaftung“ in das deutsche Polizeirecht einzuführen. Um die Motive nachzuvollziehen, muß man gut drei Jahre zurückgehen: Ostern 1986 war in der Nähe von Wackersdorf ein Zeltlager mit Zustimmung des Grundeigentümers aufgeschlagen worden. In das Zeltlager waren nach und nach die Teilnehmer an den angekündigten Demonstrationen eingetroffen. Am Morgen des 29.3. befanden sich 281 Personen in den Zelten. Das Zeltlager wurde von 600 Polizisten umstellt und alle 281 Personen nach Art.16 PAG a.F. festgenommen. Begründet wurde die Festnahme mit einem Vorfall am Mittag des Vortages (einem Zeitpunkt also, an dem noch gar nicht alle 281 Demonstranten angereist waren), bei dem anläßlich einer Straßenblockade 17 vermummte Personen in das Zeltlager geflüchtet seien. Im Zuge der Massenfestnahme fertigte die Polizei eine Liste mit Gegenständen, die im Lager gefunden wurden, jedoch keiner bestimmten Person zugeordnet werden konnten. Genau aus diesem Grunde hat die später angerufene Beschwerdeinstanz, das LG Amberg, in allen Fällen die Haft für unrechtmäßig erklärt.
Nach den traditionellen und von Verfassungs wegen gebotenen Grundsätzen des Polizeirechts kann nur derjenige (entschädigungslos) von der Polizei in Anspruch genommen werden, der als Störer eine Gefahr herbeiführt. Die Begleitperson kann als solche kein Störer sein. Sie ist grundsätzlich weder gehalten noch verpflichtet oder berechtigt, die Begleitperson zu „durchsuchen“. Schon deswegen darf sie – vom Ausnahmefall des sog. polizeilichen Notstandes abgesehen – kein Objekt polizeilicher Maßnahmen sein.
Vergegenwärtigt man sich die Gefahr, die mit Art.16 bekämpft werden soll, nämlich die unmittelbar bevorstehende Begehung einer Straftat oder qualifizierten Ordnungswidrigkeit, so wird deutlich: der Schluß vom Besitz einer Waffe oder eines Ausrüstungsgegenstandes auf die unmittelbar bevorstehende Tatbegehung durch den bloßen Begleiter ist abwegig. Es fehlt an dem auch nur hypothetischen Kausalzusammenhang für eine rechtsstaatliche Gefahrenprognose.
Außerdem entspricht auch hier die Tatbestandsformulierung nicht den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen. Wer ist Begleitperson? Nach der amtlichen Begründung fallen darunter die Insassen eines PKW, nicht jedoch die eines Omnibusses. Was ist mit den Insassen eines Kleinbusses? Was mit Fahrgemeinschaften in PKWs?
Mit der „Begleiterhaftung“ wird der Polizei ein Instrument gegeben zum Eingriff in den kollektiven Prozeß der Mobilisierung, Planung und Vorbereitung im Vorfeld von Demonstrationen und anderen öffentlichen Veranstaltungen.
Zum Wiederholungsstörer
Auch diese polizeirechtliche Fiktion wird eine neue Qualität der polizeilichen Vorfeldbeobachtung mit sich bringen. Ob der betroffene Bürger bereits in der Vergangenheit mehrfach als Störer festgestellt worden ist, läßt sich nur aus umfassenden „Störerdateien“ ermitteln. Für die Annahme einer Wiederholungsgefahr müssen keineswegs einschlägige rechtskräftige Verurteilungen wegen Straftaten vorliegen. Es soll der bloße Verdacht z.B. einer Ordnungswidrigkeit genügen, der sich auf „behördliche Entscheidungen wie etwa Bußgeldbescheide, Verwaltungsakte, vor allem frühere polizeiliche Maßnahmen, und auch bürgerliche Rechtshandlungen – wie etwa ein Hausverbot eines Veranstalters“ (amtl. Begr. S.5) – stützen kann. Folglich muß für den Gesetzesvollzug eine all diese Daten umfassende Verdachtskartei geschaffen werden; die einzelnen Daten müßten auf Vorrat gespeichert werden, damit sie zu einem späteren Zeitpunkt einmal ihren Zweck, die polizeiliche Definition von Wiederholungstätern, erfüllen können. Dem auf diese Weise stigmatisierten Bürger soll es für die Zukunft schier unmöglich gemacht werden, friedlich von seinem Demonstrationsgrundrecht Gebrauch zu machen – eine Art von Grundrechts-Verwirkung durch den Landesgesetzgeber, die im geltenden Verfassungsrecht keine Grundlage findet.
Zum Durchsetzungsgewahrsam – Platzverweis
Was macht die bayerische Polizei, wenn jemand eine besetzte Kirche durch den Haupteingang verläßt, um sie durch den Hintereingang wieder zu betreten? Nein, sie wartet nicht vor dem Hintereingang bzw. versperrt diesen; sie nimmt den Betroffenen in Haft – bis zu 14 Tagen! So in der Tat die amtl. Begr. zu Art.16 Abs.1 Ziff.3 PAG n.F.
Dieser Gewahrsam hat keine präventive Zielrichtung. Demgemäß wird auf die durch den Beispielskatalog ohnehin schon aufgeweichte Haftvoraussetzung einer unmittelbar bevorstehenden Straftat bzw. qualifizierten Ordnungwidrigkeit gänzlich verzichtet. Der Platzverweis ist eine vorübergehende Maßnahme, die der kurzfristigen Räumung eines Platzes (z.B. von Schaulustigen) dient. Diese relativ voraussetzungslose Standardmaßnahme mit der Keule einer 14tägigen Haft zu sanktionieren, widerspricht dem verfassungskräftigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
3. Das Ziel: Abschreckung von potentiellen Demonstranten
Der Anwendungsbereich der PAG-Novelle ist nicht auf Demonstranten beschränkt. In beiden Anhörungen wurden Befürchtungen laut, daß die neuen Instrumente auch bei künftigen Streikbewegungen ihre Funktion erfüllen könnten, indem z.B. Verfasser von Aufrufen oder Streikwachen aus dem Verkehr gezogen werden.
Die Begründung und die Formulierung des Beispielkatalogs zeigen jedoch die aktuelle Zielrichtung: das Demonstrationsgeschehen wird als polizeiliche Sondergefahr normiert. Die Vorschriften des allgemeinen Polizeirechts sollen nicht allgemein, sondern selektiv auf bestimmte Personengruppen angewendet werden. Sie erfüllen die Funktion eines Sonderrechts gegen Demonstranten. Verfassungsrechtlich gewendet: der bayerische Gesetzgeber hat eine Kompetenz ursurpiert, von welcher der Bund mit dem Versammlungsrecht und dem Demonstrationsstrafrecht abschließend Gebrauch gemacht hat. Er geht sogar noch darüber hinaus und maßt sich – auch hier gegen die Bundeskompetenz – an, Rechtsgüterschutz durch Abschreckung zu bewirken: den eigentlichen politischen Beweggrund des Gesetzes enthüllt in unverblümter Offenheit die amtl. Begr. auf Seite 2. Sie führt aus, daß die auf den Staat zukommenden Unterbringungskosten trotz der verlängerten Haftdauer gering bleiben werden, „da die Möglichkeit eines längeren Unterbindungsgewahrsams durch Richterentscheid nach den polizeilichen Erfahrungen für potentielle Störer eine erhebliche Präventivwirkung entfalten dürfte.“