Dokumentation

Der graue Alltag des Berliner Verfassungsschutzes im Spiegel der Prüfberichte des Berliner Datenschutzbeauftragten

Der Berliner Datenschutzbeauftragte

Prüfbericht vom 14. Juli 1989
(AZ: 051.Inn-12/89)

Überprüfung der Behandlung personenbezogener Daten beim Landesamt für Verfassungsschutz

April bis Juli 1989
3.3 Rechtsanwälte

Im Zwischenbericht war bereits darauf hingewiesen worden, daß die Personalien von 130 Rechtsanwälten in NADIS abgefragt wurden. Hinzu kamen weitere 20 Anwälte, deren Personalien sich in einer Sachakte fanden, auf die wir bei der Prüfung der Abgeordneten gestoßen waren.
Die NADIS-Anfrage hatte ergeben, daß personenbezogene Daten von acht Anwälten im Bereich der Extremismusabwehr registriert waren.

Im einzelnen handelte es sich um folgende Sachverhalte:
– Aktivitäten im Zusammenhang mit dem KBW sowie der Initiative „Bürger beobachten die Polizei 1979/80“; 1982 Teilnahme an einer Sitzung des Freun-deskreises für die Abschiebung bedrohter Palästinenser (P-Akte)
– Nennung in einer Adressenliste der (dem terroristischen Umfeld zugeordneten) Roten Hilfe, 1972 Sozialistisches Arbeitskollektiv Jura
– Beteiligung an einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Staatsanwälte 1977
– Rechtsberatung für die (Mitte der siebziger Jahre als kommunistisch beein-flußt eingestufte) Berliner Mietergemeinschaft 1978 – 1982
– Name taucht in zwei Fällen in der gestohlenen ADSen-Akte auf (vgl. Zwi-schenbericht)
– Aktivitäten für die „Liga gegen den Imperialismus“, Kandidatur für die KPD, Arbeit für das „Horst-Mahler-Komitee“ bis 1978.

Auf die Beziehung einer weiteren Unterlage wurde verzichtet.

Zu allen Fundstellen wurde vom Landesamt eingeräumt, daß die Daten für die Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich sind und daher widerrufen werden könnten.
Im Zwischenbericht war auf weitere fünf Fundstellen hingewiesen worden, die auf Sachgebiete der Terrorismusbekämpfung hinweisen. Die im Zwischenbericht geäußerte Vermutung, diese Speicherung dürfte im Zusammenhang mit der Verteidigertätigkeit der Anwälte stehen, bestätigte sich zum Teil: In drei Fällen waren die Anwälte in der Tat mit der Verteidigung terroristischer Ge-walttäter befaßt.
Die beiden anderen Fälle stellen allerdings einen Beleg dafür dar, daß nicht nur über Anwälte Daten gesammelt wurden, die unmittelbar mit Prozeßgeschäften betraut sind, sondern daß auch alle Juristen im Umfeld erfaßt wurden. So meldete der Präsident des Kammergerichts regelmäßig alle Referendare an das Landesamt, die eine Ausbildungsstation bei bestimmten Anwälten absolvierten. Die Daten wurden in einer Sachakte zusammengeführt, die heute noch besteht.

3.4 Pfarrer

Als weitere in die Überprüfung einzubeziehende Vertrauenspersonen wurden für eine spezielle Einzelfallprüfung Pfarrer der evangelischen Kirche ausgewählt. Hierzu wurden aus kirchlichen Publikationen, die von Fachleuten als kritisch eingestellt charakterisiert wurden, 25 Namen von Autoren oder in Artikeln genannten Pfarrern ausgewählt.
Aus dieser Auswahl fanden sich zu sechs Pfarrern Fundstellen in NADIS. Im einzelnen bezogen sie sich auf folgende Erkenntnisse:
– In zwei Fällen Aktivitäten im Zusammenhang mit der christlichen Friedens-konferenz (Hauptsitz Prag), die von allen Verfassungsschutzämtern als kom-munistisch eingestuftes Beobachtungsobjekt eingestuft wird;
– Engagement für ein Regionalkomitee des „Komitees für Freiheit für Wort und Dienst in der Kirche“ 1975, das als DKP-orientiert eingestuft wurde, 1981 Festnahme als Hausbesetzer;
– Mitarbeit in der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (Nebenorganisation der SEW).

Auch in diesen Fällen bezog sich die Beobachtung des Verfassungsschutzes nicht auf die theologische Tätigkeit als solche, sondern auf das Engagement in als extremistisch eingestufte Gruppierungen. Auch auf diesem Hintergrund erscheint die Speicherung allerdings nicht (mehr) in allen Fällen gerechtfertigt. Eine Überprüfung wurde zugesagt.
Eine weitere Akte gibt zu weiterführenden grundsätzlichen Überlegungen Anlaß: unter den geprüften Personen befindet sich ein evangelischer Studentenpfarrer, der im Zusammenhang mit der von ihm betreuten Studentengemeinde eine Vielzahl von öffentlichen Aktivitäten entwickelte, die in Anbetracht des Umstandes, daß die evangelische Studentengemeinde offensichtlich keine Berührungsängste mit als extremistisch eingestuften Gruppierungen hat, auch Kontakte zu diesen Gruppen umfassen.
Der umfänglichen Akte ist nicht zu entnehmen, daß sich gegen den Studenten-pfarrer selbst der Verdacht richtet, er unterstütze in einer Weise extremistische Bestrebungen, die eine besondere Beobachtung durch das Landesamt rechtfertigten. Hinzu kommt, daß die erste Erkenntnis, die zur Aufnahme in NADIS führte, von höchst dubioser Qualität ist: Ein Vorstandsmitglied eines bundesdeutschen Konzerns hatte sich 1969 mit dem Hinweis an das Bundesamt gewandt, der Betroffene (damals offensichtlich noch Student) äußere sich in der DDR negativ gegen die Bundesrepublik. Dieser Hinweis wurde vom Bundesamt aufgegriffen und an das Berliner Landesamt mit der Bitte um Prüfung weitergeleitet; obwohl die hiesigen Ermittlungen damals kein Ergebnis brachten, flossen sie in die ab 1974 angelegte Personalakte ein.

4. Zusammenfassende Bewertung und Beanstandungen

Hervorzuheben sind die Mängel bei der Führung der Sachakte „Infiltration der Alternativen Liste“ mit den dazugehörigen Erschließungsdateien.
Unabhängig von der Frage der ursprünglichen Zulässigkeit derartiger Daten-sammlungen lagen die rechtlichen Voraussetzungen für die Speicherung von Daten der Personen, von denen lediglich AL-Aktivitäten bekannt waren, nicht mehr vor: spätestens seit Ende 1987 wurde die AL vom Landesamt selbst nicht mehr als verfassungsfeindliche Bestrebung eingestuft.

Dieses Vorgehen ist zu beanstanden, weil die Dateien
– zur ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung des Landesamtes nicht mehr erfor-derlich sind
– auch nach der Erkenntnis, daß die Daten für die Aufgabenerfüllung des Lan-desamtes nicht mehr erforderlich sind, fortgeschrieben wurden und
– die Unterlagen auch dann nicht vernichtet wurden, als bei zahlreichen Anfra-gen von AL-Mitgliedern und -Mandatsträgern gegen Ende 1987 die Unzulässigkeit der Sammlung offensichtlich geworden sein mußte.

Zu beanstanden ist ferner, daß das Landesamt Ende 1987/ Anfang 1988 Auskünfte gegeben hat, die die Empfänger irreleiten mußten. In mir vorliegenden Antwortschreiben hat das Landesamt gegenüber Auskunftssuchenden mitgeteilt, die AL werde als Partei nicht beobachtet, folglich würden auch keine Daten gesammelt, die sich lediglich auf die Mitgliedschaft in der AL beziehen. Diese Aussage war falsch.
Auch dem Datenschutzbeauftragten wurde bei den Prüfungen, die er aufgrund von Eingaben durchführte, nicht mitgeteilt, in welchem Umfang Daten über AL-Mitglieder geführt werden. Dies hat teilweise dazu geführt, daß den Petenten unrichtige Bescheide erteilt wurden.

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Prüfbericht vom 10. März 1989
(AZ: 054 LfV – 163/88)
VS – NfD

Betr: Überprüfung der Behandlung personenbezogener Daten in Zusammenhang mit der Publikation „Die Tageszeitung“ beim Landesamt für Verfassungsschutz

3.2 Überprüfung der einzelnen Eingaben

3.2.1 Allgemeine Feststellungen

Bei der Prüfung der bis zum Tag des Berichts eingegangenen 29 Beschwerden von Journalisten wurden folgende Feststellungen getroffen:
Das Landesamt hatte für zwölf Petenten NADIS-Fundstellen gespeichert. Davon bezogen sich drei Fundstellen auf die taz-Sachakte (in einem Fall nur Speicherung des taz-Aktenzeichens, in einem anderen Fall andere Berliner Fundstellen, im dritten Fall zum Berliner taz-Aktenzeichen fremde Fundstel-len). In den übrigen Fällen handelte es sich um andere Sachgebiete; allerdings waren dort in zwei Fällen ebenfalls Hinweise auf die taz-Mitarbeit enthalten.

Der Bestand an Arbeitskarteikarten entsprach den NADIS-Eintragungen.
Die Durchsicht der taz-Sachakte ergab, daß ohne Speicherung in NADIS in dem Vorgang personenbezogene Daten zu weiteren acht Petenten enthalten waren.
Die Speicherungen personenbezogener Daten außerhalb der taz-Akte ergaben keinen Anlaß für eine Mangelfeststellung.

3.2.2 Einzelne Feststellungen

Folgende einzelne Erkenntnisse bedürfen einer gesonderten Bewertung:

In der Sachakte befinden sich Mitteilungen des Polizeipräsidenten über Reise-bewegungen einzelner Petenten, die offensichtlich im Rahmen polizeilicher Beobachtungsmaßnahmen erhoben worden waren. Abgesehen davon, daß diese Maßnahmen mangels hinreichender Rechtsgrundlage bereits aus polizeirechtlicher Sicht äußerst problematisch sind, bedarf ihre Übermittlung an eine Ver-fassungsschutzbehörde, aber erst recht ihre Speicherung im Rahmen von Sach-vorgängen einer äußerst kritischen Prüfung. Mindestvoraussetzung ist ein sachlicher Bezug zum Verdachtsfall, der nicht bereits dadurch begründet wird, daß eine in irgendeinem Zusammenhang beobachtete Person gerade eine Grenze überschreitet. Im vorliegenden Fall bestand zwischen den Reisen und dem Verdachtsfall taz nicht die geringste in der Akte nachweisbare Beziehung.

Derartige Daten finden sich auf den Blättern IV/00125 f. sowie IX/00131 f.

Das gleiche gilt für Mitteilungen der Staatsanwaltschaft. Die Zulässigkeit der Speicherung derartiger Mitteilungen in einer Sachakte setzt voraus, daß zwi-schen mitgeteilter Straftat und Verdachtsfall ein innerer Zusammenhang und nicht nur eine gewisse Personenidentität steht. Zudem erwecken derartige Mitteilungen der Staatsanwaltschaft einen unrichtigen Eindruck, wenn nicht die weiteren Entscheidungen (z.B. der Gerichte) in der Sache ebenfalls mitgeteilt werden.
Ein Beispiel hierfür ist die von der Staatsanwaltschaft am 12.2.1986 erfolgte Mitteilung über einen angeblichen Benzindiebstahl im Grunewald.
Es ist üblich, Fotografien von Personen, die in einem Zusammenhang mit der Beobachtung einer Bestrebung stehen, durch Auswertung des Personalausweis-registers zu beschaffen. Die Anträge auf Ausstellung der Ausweise werden ko-piert, von den Paßbildern werden Vergrößerungen gefertigt. Rechtsgrundlage für die Übermittlung der Daten von der Personalausweisbehörde an das Landesamt war nach altem Recht mangels Spezialvorschrift 3 Abs. 1 Gesetz über das Landesamt für Verfassungsschutz. Im Hinblick auf den Verhältnismäßig-keitsgrundsatz begegnet bereits die Zulässigkeit der Herausgabe der Kopien des gesamten Ausweisantrages Bedenken, da hier erheblich mehr Daten herausgegeben werden als für die Aufgabenerfüllung erforderlich sind (z.B. Notierungen über die nichteheliche Abstammung einer Journalistin). Diese Bedenken bestehen umso mehr gegenüber der gesonderten Ablage dieser Kopien in „Bildkarteien“ – entsprechend der Bezeichnung dieser Arbeitskarteien würde die Ablage des Fotos genügen.
Fundstellen für derartige Unterlagen: III/00081, 00091, 00103.

Hinzuweisen ist im übrigen darauf, daß seit 1. April 1987 die Übermittlung von Daten aus dem Personalausweisregister sowie der Sammlung der Ausweisanträge in der Verordnung zur Durchführung der BK/O (49) 51 geregelt ist. Unter den einschränkenden Bedingungen … der Verordnung dürfte nach neuem Recht die Herausgabe von Kopien der Ausweisanträge nicht mehr zulässig sein.

Entsprechenden Überlegungen gelten für die Kopien von Meldekarten.
Fundstelle: II 00256.

Soweit sich derartige Unterlagen in der Sachakte befinden, ist dies zu bean-standen.

3.2.3 Problemfälle

In mehreren Fällen versuchte der für das Redaktionsgebäude zuständige Kon-taktbereichsbeamte durch Aufnotieren der Kennzeichen von Kraftfahrzeugen die Mitarbeiter der Redaktion zu ermitteln. Fraglich ist, ob die Übermittlung der entsprechenden Halterdaten an das Landesamt, erst recht aber deren Auf-bewahrung in einer Sachakte (die notwendigerweise auch Personalien gänzlich unbeteiligter Personen umfaßt) sich im Rahmen des Erforderlichen hält.

Fundstellen für derartige Daten: II/00009, 00016, 00188.

Diese Feststellung wirft auch die grundsätzliche Frage nach den Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Verfassungsschutz auf, die im Hinblick auf das sogenannte „Trennungsgebot“ dringend einer gesetzlichen Regelung bedarf. Eine Beanstandung von Datenübermittlungen der dargestellten Art kann heute nur noch unter extensiver Auslegung des sog. „Übergangsbonus“ vermieden werden.
Die taz-Sachakte enthält in zeitlichen Abständen mehrere Versuche, eine Zu-sammenstellung aller personenbezogener Daten über die bekannten Mitarbeiter zu fertigen (z.B. auf dem Wege der Zusammenstellung aller Kenntnisse eines V-Mannes oder einer MS-Umfrage unter anderen Landesämtern). In einem Fall wurde eine derartige Zusammenstellung auch an das Bundesamt übermittelt.

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Zwischenbericht zur Prüfung des
Landesamtes für Verfassungsschutz vom 22. Mai 1989
(Erfassung von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses von Berlin betreffend)

3.3 Einzelergebnisse

Bei allen Abgeordneten lagen die ersten Erkenntnisse außerhalb der Tätigkeit im Abgeordnetenhaus, so daß festgestellt werden kann, daß über Abgeordnete keine systematischen Datenerhebungen erfolgen.
Auch wurden keine Einspeicherungen alleine wegen der Abgeordneteneigenschaft mehr vorgefunden. Die Weisung des Innensenators ist also umgesetzt worden.
Die festgestellten Fälle, die Abgeordnete der CDU, SPD, AL und FDP betreffen, beruhen auf folgenden Gründen für die Ersterfassung:

– ein MdA, das bis 1979 eine Mietergemeinschaft beraten hatte, die nach An-sicht des Amtes der KPD nahestand;
– ein MdA, das 1971 in Zusammenhang mit der SEW in Erscheinung getreten sein soll;
– ein MdA, das 1976 in einer Hochschule eine Unterschrift zu einer Erklärung geleistet hatte, mit der die Entlassung eines Hochschullehrers aus der U-Haft gefordert wurde (dieser war in den Verdacht geraten, eine kriminelle Vereini-gung unterstützt zu haben, hatte sich aber selbst gestellt);
– ein MdA, das 1977 an einem Seminar der marxistischen Abendschule des SEW-Parteivorstandes teilgenommen hatte;
– mehrere MdA, die bis 1980 mehrfach in Zusammenhang mit K-Gruppen-Aktivitäten aufgefallen sind;
– ein MdA, das 1984 als Gründungsmitglied des – nicht aktiv gewordenen – „Aktiven Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e.V.“ in Erscheinung getreten ist;
– ein MdA, das wegen SEW-naher Veranstaltungen und verschiedener anderer Aktivitäten als „linksextremistischer Verdachtsfall“ eingestuft wurde;
– ein MdA, das 1975 von einem V-Mann auf dem Foto einer Schülerdemonstration des Kommunistischen Oberschülerverbandes erkannt wurde;
– ein MdA, das in einer 1984 beschlagnahmten Abonnentenliste der Zeitschrift „radikal“ aufgeführt ist;
– ein MdA, das 1968 Kontakte zu sozialistischen Jugendorganisationen hatte;
– ein MdA, das 1977 im Zusammenhang mit der KPD-Zeitschrift „Rote Fahne“ aufgefallen war;
– ein MdA, das 1973 für eine linksextremistisch eingestufte Gruppierung an Hochschulwahlen teilgenommen hatte und von 1978 bis 1980 Mitglied einer SEW-Gliederung, später der Sozialistischen Initiative war;
– ein MdA, gegen das die Polizei 1977/78 wegen Farbschmierereien („Weg mit der Mauer“) ermittelte und das 1980 wegen einer einmaligen Teilnahme an einer KPD-Veranstaltung auffiel;
– ein MdA, das 1967 bei Studentenwahlen kandidierte und später die Wohnung als „Stützpunkt der APO“ zur Verfügung stellte, Aktivitäten in verschiedenen linken Organisationen entfaltete und 1972 – 1977 an Veranstaltungen der KPD teilnahm;
– ein MdA, das seit 1971 in der „Liga gegen den Imperialismus“ und später für die KPD aktiv war; 1975 Teilnahme als Kanditat für die KPD bei BVV-Wahlen;
– mehrere MdA, die in Zusammenhang mit der Hausbesetzerszene bekannt geworden waren;
– ein MdA, das 1977 in Zusammenhang mit der „Frauenaktionseinheit“ unter Beteiligung des KB und des SSB aktiv war;
– ein MdA, das sich 1983 in der Friedensbewegung engagierte.

3.4 Sonderproblem: Akte „Infiltration der AL“

Eine Vielzahl von Hinweisen in NADIS und den Arbeitskarteien bezieht sich auf eine Sachakte mit der Bezeichnung „Infiltration der AL“ (Aktenordnungszahl 086-S-23002).

Die teilweise Einsicht in die Akte ergab folgendes Bild:
Die AL wurde seit ihrer Gründung vom Verfassungsschutz intensiv beobachtet. Die beginnt mit sieben Ordnern, in denen nach Sachgebieten strukturiert die Gründungsgeschichte der AL seit der Gründungsveranstaltung am 6.10.78 dokumentiert ist. Im folgenden wurden chronologisch alle gesammelten Er-kenntnisse abgeheftet, die letzte Unterlage ist ein Zeitungsartikel über die Senatsneuwahl vom 6. März 1989.
Im Gegensatz zur Bezeichnung „Infiltration der Alternativen Liste“ werden keineswegs nur Informationen über die Beziehungen der AL zu extremistischen Bestrebungen gesammelt; vielmehr stellt die Akte eine komplette Dokumentation der AL dar. Wesentliche Informationsquellen sind V-Mann-Berichte, die über eine Vielzahl von Sitzungen auf Landes- und Bezirksebene vorliegen.
Bei der von uns durchgeführten Durchsicht fand sich keine abschließende Be-wertung, warum die AL in dieser Intensität beobachtet wurde. Allerdings exi-stieren zwei Vermerke aus dem Oktober 1984, in denen das zuständige Sachgebiet niederlegt, daß „in der jüngsten Vergangenheit weder Klarheit noch Weisung darüber bestanden hat, wie die AL von Seiten des LfV Berlin zu behandeln ist“. Dies wurde als Begründung dafür angegeben, daß neben den NADIS-Einspeicherungen über AL-Anhänger, über die auch sonstige Erkenntnisse vorliegen, eine Handkartei aller bekanntgewordenen Personen angelegt wurde. Die am 30.10.1984 geäußerte Bitte an den Abteilungsleiter, zu entscheiden, wie zu verfahren sei, wurde nach Angabe der zuständigen Mitarbeiter nie beantwortet.

Mit dem Material der Akte wurde eine Reihe von Berichten gefertigt. In Anla-gebänden sind folgende Berichte dokumentiert:

– 7.5.79: Bericht an Senator über Senatsdirektor über Mitgliedervollversamm-lung am 24.4.79
– 3.7.79: Fertigung einer Auswertung für den Bezirksbürgermeister Tiergarten, der allerdings nicht übersandt wird.
– 20.12.89: Bericht an BfV über das Verhältnis AL-Grüne
– 2.5.80: Bericht über Erkenntnisstand über Einflußnahme linksextremistischer Gruppen auf die AL, im wesentlichen ohne Personenbezug
– 23.1.81: Kurzbericht über Mitgliedervollversammlung am 22.1.81 an Senator über SenDir, BfV und VOe
– 13.5.81: Bericht über Anteil der Linksextremisten unter den AL-Kandidaten bei Wahlen am 10.11.81 an BfV (198 Kandidaten mit jeweiliger Kurzdarstellung, soweit Erkenntnisse vorhanden)
– 23.8.82: Sonderbericht über ein Mitglied eines Bezirksamtes (anonymisiert)
– 9.4.84: Bericht über AL-Abgeordnete mit Kurzerkenntnissen an Bürgermeister über SenDir
– 24.10.84: Bericht mit 84 Anlagen über alle AL-Abgeordneten in Abghs. und BVVen an SenDir
– 24.11.84: Zusammenstellung von Material zur Veröffentlichung von AL-Kandidaten bei Wahl 1985 an Bürgermeister über SenDir
– 29.3.85: Ausführlicher Bericht über „Wahlbewerber mit linksextremistischem Hintergrund“ bei Wahlen am 6.3.85 (10.4. an RegBm, 25.4. an PolPräsDirVBc) – 56 Anlagen –
– 8.11.85: Sonderbericht über Finanzsituation der AL an Bm über SenDir
– 22.10.86: Auf telefonische Anfrage an „Herrn Lancelle persönlich“ 66 Blatt „Zusammenstellung meiner Erkenntnisse über Mitglieder der AL, die in das Abgeordnetenhaus, die BVV, den BT sowie das Europaparlament gewählt worden sind, einschließlich Nachrücker“ (Anlaß: Mündliche Anfrage der Abgeordneten Künast über „Parlamentarische Kontrolle des Verfassungsschutzes“)
– 3.12.86: Bericht über Erkenntnisse zu den Verfassern der „20 Thesen über Westberlin“ der Mittwochsrunde der AL mit personenbezogenen Angaben an Sen über SenDir, BfV, VOe
– 29.12.86: Erkenntnisse über künftige Abgeordnete der AL im Abghs. an StS
– 24.6.87 weiterer Bericht mit hoher Sicherheitsstufe.

Schließlich existiert ein Anlageband mit Sonderberichten zu bestimmten Themen:
– 21.1.81: Unterstützung der AL durch KBW an Sen über SenDir (ohne Per-sonenbezug)
– 6.7.81: Mitarbeit KBW in AL an Bm über SenDir, BfV, VOe
– 23.7.81: Hausbesetzer und AL an Bm über SenDir, BfV, VOe (ohne Perso-nenbezug)
– 8.7.85: Bericht über ein Mitglied eines Bezirksamtes (anonymisiert) an Bm über SenDir
– 29.1.88: ohne Adressat: Bericht über ehemalige Mitglieder der „Gruppe In-ternationaler Marxisten“ in der AL mit Personenangaben.

Im August wurde ein Bericht „Untersuchungen zur Frage der Übereinstimmung der politischen Ziele und Tätigkeiten der AL mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des GG und der VvB“ gefertigt. Auf insgesamt 288 Seiten kommt der Bericht, der eine Vielzahl personenbezogener Daten verarbeitet, zu folgendem Ergebnis: „Zusammenfassend ergibt sich aus der politischen Zielsetzung, der allgemeinen Betätigung und dem politischen Gesamtstil der AL, daß das von der Organisation angestrebte sozialistische Gesellschaftssystem mit den unverzichtbaren Elementen der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes unvereinbar ist. Die AL verfolgt so-mit v e r f a s s u n g s f e i n d l i c h e (Sperrung im Orginal) Ziele“ (S. 282).

4.1 Richter und Staatsanwälte

Insgesamt wurden NADIS-Abfragen zu 165 Richtern und Staatsanwälten durchgeführt.
Lediglich in drei Fällen lagen Fundstellen aus dem Bereich der Extremismus-abwehr vor.
Sie verwiesen auf folgende Vorgänge:

– Ein Richter nahm im Rahmen von Aktivitäten der Initiative „Richter und Staatsanwälte für den Frieden“ an der Kundgebung in Mutlangen am 12. Januar 1987 teil; diese Vorgänge waren auch Gegenstand öffentlicher Erörterungen. Die Daten über diesen Richter finden sich in der entsprechenden Sachakte „Kampagne gegen NATO-Nachrüstung“.
– Ein Richter wurde als Abonnement der Zeitung „Die Wahrheit“ im Jahr 1973 festgestellt; entsprechende Listen waren dem Landesamt bekanntgeworden.
– Der Name eines Richters wurde neben einer Vielzahl anderer Namen in Un-terlagen erwähnt, die einer in der Aktionsgemeinschaft der Demokraten und Sozialisten im Jahr 1973 einer Studentin gestohlen worden waren (vgl. unten unter 5.2).

5.2 Rechtswidrig erlangtes Material

In einer Sachakte wurde folgender Sachverhalt festgestellt:
1973 wurde einer Studentin aus dem Wagen eine Akte gestohlen, in der sich Unterlagen über eine Vielzahl von Sitzungen und anderen Aktionen der Akti-onsgemeinschaft der Demokraten und Sozialisten befanden. Diese Akte tauchte beim Verfassungsschutz auf (möglicherweise auf dem Weg über die Notge-meinschaft für eine Freie Universität). In Kenntnis des Umstands, daß die Unterlagen gestohlen waren, wurden Kopien gefertigt und eine entsprechende Akte angelegt (die ironischerweise auch eine Kopie der Strafanzeige der Stu-dentin enthält). Sämtliche in der Akte erwähnten Namen wurden durch Nachfrage beim Einwohnermeldeamt abgeklärt und in NADIS eingegeben.
Fraglich ist, in welchem Umfang auch für den Verfassungsschutz ein Verwer-tungsverbot besteht, jedenfalls dann, wenn das Übermaßverbot verletzt ist.

5.3 Aktenanforderung bei Behörden

Die Einholung von Auskünften bei anderen Behörden ist ein Mittel der Infor-mationsbeschaffung, das dem Verfassungsschutz selbstverständlich zustehen sollte. Allerdings muß auch hier der Rahmen des Verhältnismäßigen eingehalten werden.
Dies kann sowohl den Umfang der Übermittlung an den Verfassungsschutz als auch die Aufbewahrung der Unterlagen betreffen.
Mehrfach wurde festgestellt, daß von Universitäten Kopien der dortigen Studi-enunterlagen (einschließlich Lebenslauf, Zeugnissen u.ä.) ohne weitere Be-gründung angefordert, übermittelt und in die Akten aufgenommen wurden. Die Erforderlichkeit ist in keiner Weise ersichtlich. Wenn hier nicht schon die Übermittlung unverhältnismäßig ist, so doch jedenfalls die komplette Aufnahme in die Akte.

Ähnlich zu beurteilen ist das Abheften kompletter polizeilicher Ermittlungs-vorgänge.

Üblich ist es, von der Meldebehörde Kopien der früher verwendeten Meldekarten oder der Anträge zur Ausstellung eines bPA zu erbitten und nicht nur in Personen-, sondern auch in Sachakten zu heften. Dies ist in Zusammenhang mit dem taz-Vorgang von uns bereits beanstandet worden. Eine neue Variante zeigte sich nunmehr bei Meldekarten von Minderjährigen, bei denen auch sämliche Angaben über die Eltern (in einem Fall einschließlich von Hinweisen auf die nationalsozialistische Vergangenheit) in die Akte gelangten.
Auch die Daten, die vom Landeseinwohneramt im automatisierten Verfahren übermittelt werden, dürften über das zulässige Maß hinausgehen. Eine ent-sprechende Sonderprüfung wird noch von uns vorgenommen werden.

5.4 Aufbewahrung und Auswertung von Personenlisten der Polizei

Wie uns aus früheren Vorgängen bekannt ist, übermittelt die Polizei in be-stimmten Fällen Listen über Personengruppen, die aus den verschiedensten Gründen bei der polizeilichen Aufgabenerfüllung anfallen (z.B. bei Identitätsprüfungen, Durchsuchungen, Grenzübertritt). Diese Listen werden in der Regel beim Verfassungsschutz aufbewahrt, unabhängig von der Aufbewahrung bei der Polizei. Der Zugriff wird durch Einspeicherung in NADIS ermöglicht. Schon alleine wegen der Menge der anfallenden Daten ist eine qualitative Be-wertung nicht möglich und – jedenfalls soweit aus der Akte ersichtlich – nicht vorgenommen worden.

Typische Beispiele: Anfahrt zu Großdemonstrationen (Brokdorf), Durchsuchungen im Zusammenhang mit Hausbesetzungen, Beschlagnahme von Mitglieder- oder Abonnentenlisten, Kandidatur für Wahlen.
Hier ist die Verhältnismäßigkeit nur gewahrt, wenn jedenfalls vor der Einspei-cherung in NADIS eine qualitative Bewertung der Informationen vorgenommen wurde. Dies ist insbesondere in Bereichen dringlich, die besonderen grundrechtlichen Schutz genießen (Grundrecht auf freien Informationszugang, Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Grundrecht auf Versamm-lungsfreiheit, Grundrecht auf Schutz der Familie).