Abschrift eines Briefes, eingegangen Mitte Januar 1990

Werter Herr von Saß!

Ich wende mich an Sie um großer Sorge um all das, was in nächster Zeit auf unser Land, auf seine Menschen zukommt. Ich kann Ihnen meinen Namen nicht nennen, möchte ich doch ein paar Tage länger unter den Lebenden weilen.
Jawohl, als inoffizieller Mitarbeiter des MfS habe ich heute ein wenig Angst um mein bißchen Leben. Diese schreckliche Angst erwächst aber nicht aus dem, was ich in dieser Funktion getan habe, nein, sie erwächst aus der gegenwärtigen Situation, alles was in Verbindung mit dem MfS gebracht werden kann zu verurteilen, grausam Rache an denen zu nehmen, die damit zu tun hatten.
Sie, werter Herr von Saß, hatten die Möglichkeit in die Akten einzusehen. Sind Ihnen bei dem Aktenstudium nicht auch andere Dinge als die in dem Artikel vom 29.12.89 in der „Freien Erde“ genannten aufgefallen? Ich verurteile, wie so viele, alles was im Zusammenhang mit der Bespitzelung von Personen zu tun hatte. Ich muß aber im Interesse vieler inoffizieller Mitarbeiter, die, wie Sie sicher wissen, aus allen Klassen und Schichten – auch unabhängig von ihrem Glaubensbekenntnis kommen, sagen, daß wir weitaus mehr geleistet haben, als uns heute zugesprochen wird.
Ich bin zu diesem Amt gekommen, weil ich glaubte, daß über diesen Weg Informationen über den tatsächlichen Zustand in unserer Gesellschaft auch dahin kommen, wo sie hingehören. Ich denke dabei immer an die Meinung vieler, die Regierung weiß nicht, was wirklich los ist, die Partei informiert nicht. Diese von mir gegebenen Berichte trugen meinen Namen als Unterschrift. Nach damaliger Auffassung hätte man mich wohl einsperren können. In diesen Berichten hatte ich bis ins Detail auf Fakten und Ursachen der mißlichen Lage hingewiesen, wies nach, wie Inkompetenz, Unkenntnis und Arroganz zu den Dingen führten, die wir heute ausbaden müssen.
Neulich forderten Mitglieder von Umweltgruppen die namentliche Benennung der inoffiziellen Mitarbeiter. Auch dazu ein Wort. Vieles, was auf diesem Gebiet des Umweltschutzes trotz des großen Desinteresses des Staates passiert ist, ist auch auf unsere Arbeit zurückzuführen, weil wir eben oft diesen Weg der Klärung der Dinge über andere Instanzen gegangen sind. Wir werden Denunzianten genannt. Ich beziehe das nicht auf meine Person. Ich habe denunziert, unhaltbare Zustände, Schlendrian, Unfähigkeit und anderes. Ich habe das getan, weil ich nirgendwo sonst zu den Dingen Gehör gefunden habe. Natürlich ist nicht zu leugnen, daß diese Arbeit auch Personen betraf … Bei der Betrachtung der Arbeitsweise des Ministeriums sollte man m.E. auch die hier beschriebenen Dinge betrachten.
So gesehen gehe ich der Veröffentlichung meines Namens entgegen und rechne damit, so zusammengeschlagen zu werden wie mein Nachbar, der in der Öffentlichkeit mit einem ehemaligen Mitarbeiter des MfS gesehen wurde. Dabei habe ich mit dem guten Glauben gehandelt, für mein Land, nicht für meine Partei, das Beste zu tun, was damals nötig war und wozu das damalige System keinen Raum ließ.
Wenn ich demnächst als Verbrecher abgestempelt werde, muß ich das hinnehmen. Nur meine christliche Gesinnung läßt mir den Glauben, daß eines Tages alles so hingestellt wird, wie es wirklich war. Ich hoffe, diesen Zeitpunkt erleben zu können. In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre sicher nicht leichte Aufgabe!

Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen