Stasi – Leben mit der Stasi

Von Reinhard Schult

Vorbemerkung der Redaktion: Stasi-Opfer als Stasi-Auflöser – ein Wirklichkeit gewordener Traum? Ob Reinhard Schults utopische Phantasie vor dem Herbst 1989 so übermütig gewesen ist, haben wir zu fragen unterlassen. Jedenfalls war er, Gründungsmitglied des Neuen Forums, von Beginn an bei der Auflösung der Berliner Stasi-Zentrale dabei, zuletzt als Mitarbeiter des „Staatlichen Komitees zur Auflösung der Stasi“. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre zählte er für die Stasi zu den feindlichen Kräften in der DDR, zunächst politisch aktiv im Friedenskreis der Evangelischen Studentengemeinde in Ost-Berlin. Acht Monate Haft konnten ihn nicht umerziehen. So blieb er Oppositioneller und Maurer in einem Fleischkombinat der Hauptstadt, bis er zeitweilig „hauptamtlicher“ Stasi-Auflöser wurde und neue Kenntnisse erwarb, die – so hoffen wir, deren Phantasie durch die FreundInnen aus der DDR beflügelt worden ist – auch und gerade im vereinten Deutschland noch demokratischen Nutzen bringen werden. Denn die effektivste Form der Kontrolle politisch-repressiver Apparate ist deren Auflösung.

1. Festnahme und Haft

Herbst ’79; der Tag begann wie üblich:
Wie so oft zu spät aus dem Bett gewälzt, leicht vertrieft, ohne Frühstück losgerast. Auf der Straße Schritte hinter mir. Plötzlich hält mir ein Mann eine Klappkarte vors Gesicht, klappt sie schnell wieder zu, bevor ich etwas lesen kann und sagt etwas wie: „Deutsche Volkspolizei, Ihren Personalausweis!“ Ich drehe mich um, hinter mir steht noch einer. Nachdem der Erste meinen Personalausweis studiert hat, steckt er ihn ein mit der Aufforderung, daß ich zur Klärung eines Sachverhalts mitkommen solle. An der Ecke steht ein blauer Lada mit zwei weiteren Männern. Auf der Hinterbank quetschen sie mich in ihre Mitte und ab geht’s zur Keibelstraße (Ostberliner Polizeipräsidium). Dort werden die Taschen durchsucht und der Wohnungsschlüssel genommen. Dann heißt es zwei Stunden lang warten mit einem Bewacher, der nicht redet.

Ich werde in einen Nebenraum geführt und lerne meinen Vernehmer und Untersuchungsführer kennen. Er nimmt meine Personalien auf und meine Frage nach seinem Namen beantwortet er mit: „Wo haben Sie denn das her? Hier stellen wir die Fragen, Sie sind beim Geheimdienst.“ Es folgen acht Stunden Verhör, hinterher Kopfschmerzen, zwischendurch Schweißausbrüche und das verfluchte Hoffen, doch noch einmal davonzukommen. Vergeblich. Ich werde in die Stasi-U-Haft in die Kissingenstraße (Berlin-Pankow) gefahren, ein altes Gebäude, direkt an das Pankower Bezirksgericht anschließend mit drei Etagen und ca. 100 Zellen, die etwa zur Hälfte belegt sind. Jede Zelle mißt 2 mal 3,50 Meter, hat zwei Betten, zwei Hängeschränke, zwei Hokker, ein Waschbecken, ein WC. Ein Fenster ist nicht vorhanden, nur zwei Reihen Glasbausteine mit Entlüf-tungsschacht. Für die nächsten acht Monate mein Zuhause.

2. Als Gefangener keinerlei Rechte

Am nächsten Vormittag erfolgt der Gang zum Haftrichter. Er teilt mir mit, daß ein Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet wurde wegen „Beihilfe zum ungesetzlichen Grenzübertritt“ ( 213) und „Öffentlicher Herabwürdigung“ ( 220). Ich erkläre meine Unschuld. „Lassen Sie den Quatsch. Oder meinen Sie, wir würden früh um sechs Uhr vier Leute durch die Gegend schicken, wenn wir nicht genug Beweise hätten?“ Ohne Rechtsanwalt werde ich keine weiteren Aussagen machen. Der Haftrichter sieht mich erstaunt an und meint, ich hätte mich mehr mit der DDR-Wirklichkeit auseinandersetzen und weniger amerikanische Krimis sehen sollen.

Die erste Begegnung mit meinem Anwalt, Dr. Starkulla aus dem Büro Vogel, hatte ich nach sechs Wochen. Die Rahmenbedingungen unserer Gespräche wurden durch die Staatsanwaltschaft festgelegt. So war in den ersten vier Monaten immer mein Vernehmer dabei, und es durfte nicht über „meinen Fall“ geredet werden. Das sah dann folgendermaßen aus: Mein Rechtsanwalt brachte Grüße von meiner Mutter und von Freunden und fragte nach meinem Befinden. Ich grüßte zurück…

Nach fünf Monaten fand dann das erste Gespräch unter vier Augen statt. Auf meine Frage, ob wir denn auch unter vier Ohren wären, grinste er und sagte betont deutlich, daß es ein grober Verstoß gegen die Strafprozeßordnung wäre, wenn Wanzen eingebaut seien. Ich hatte verstanden.

Geschlagen wurde bei den Vernehmungen nicht. Doch die Enge der Zelle, das vollständige Ausgeschlossensein von der Außenwelt und die Beschimpfungen als „Ratte“ und „Lügenschwein“ durch den Vernehmer erzeugten einen immmensen psy-chischen Druck. Drohungen mit zehn Jahren Knast oder der Einlieferung in eine psychiatrische Anstalt – „Dort können Sie dann mit Armstrongs Trompete und Napoleons Pferd Widerstandskämpfer spielen“ – taten ihr übriges. Nach vier Monaten Haft stellten sich nervöse Herzbeschwerden ein, die wie bei den anderen Untersuchungshäftlingen mit Beruhigungstabletten behandelt wurden. Nach fast acht Monaten fand der Prozeß statt, an dessen Ende die Verurteilung zu acht Monaten Haft ohne Bewährung wegen „Öffentlicher Herabwürdigung“ stand. Die Weitergabe von 20 Schreibmaschinenseiten aus Reiner Kunzes „Wunderbaren Jahren“, zwei

Aus dem „Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit“ der Stasi
(S. 111, GVS JHS 001-400/81)

„Feindbild, tschekistisches

Gesamtheit von Kenntnissen und Vorstellungen über das Wesen und die Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus, seine subversiven Pläne und Zielstel-lungen gegen den Sozialismus, über die Erscheinungsformen der subversiven Tätigkeit und deren Angriffsrichtungen, die feindlichen Zentren, Organisationen und Kräfte, die Abwehrmaßnahmen des Feindes, die Mittel und Methoden des feindlichen Vorgehens sowie der darauf beruhenden Wertungen, Gefühle und Überzeugungen im Kampf gegen den Feind.

Das tschekistische F. ist eine spezifische Erscheinungsform des auf der marxistisch-leninistischen Analyse des Klassenkampfes und der der Arbeiter-klasse und dem Sozialismus antagonistisch gegenüberstehenden feindlichen Klassenkräfte beruhenden wissenschaftlichen Feindbildes der Arbeiterklasse.
Es beinhaltet dessen Bestandteile und wird spezifisch geprägt durch die im konspirativen Kampf gegen den subversiven Feind gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse.

Als immanenter Bestandteil der Ideologie und des moralischen Wertsystems gehört das wissenschaftlich begründete, reale und aktuelle F. zu den wesentlich charakteristischen Merkmalen der tschekistischen Persönlichkeit.

Im Prozeß der politisch-ideologischen Erziehung der operativen sowie der inoffiziellen Mitarbeiter erlangt die umfassende, individuelle und methodisch vielseitige Vermittlung und Anerziehung des F. eine ständige steigende Bedeutung.

Konkrete und gesicherte Erkenntnisse über den Feind und die auf ihnen be-ruhenden tiefen Gefühle des Hasses, des Abscheus, der Abneigung und Un-erbittlichkeit gegenüber dem Feind sind außerordentlich bedeutsame Vor-aussetzungen für den erfolgreichen Kampf gegen den Feind.

Je präziser und eindringlicher die entsprechenden Erkenntnisse über den Feind mit ihrem emotionalen Gewicht in der klassenmäßigen Erziehung in den Diensteinheiten und in der Zusammenarbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern nahegebracht werden, umso mehr erhöht sich die Fähigkeit, feindliche Angriffe rechtzeitig zu erkennen, aufzuklären und zu verhindern sowie die Bereitschaft und die Motive zur aktiven Bekämpfung des Feindes. Vereinseitigungen, Verab-solutierungen, Abschwächungen oder Verzerrungen des F. können in der politisch-operativen Arbeit zu Fehlentscheidungen und falschem Reagieren führen und dürfen nicht zugelassen werden.“

Tonbändern mit Biermann-Liedern, Texten von Jürgen Fuchs und zwei Ausgaben der Untergrundzeitung „Roter Morgen“ an Freunde und Kollegen hatten sie mir nachgewiesen. Von der Anklage wegen „Beihilfe zum ungesetzlichen Grenzübertritt“ mußte ich freigesprochen werden; es gab keine Beweise. Anklageschrift und Urteilsbegründung wurden mir nur zur Einsichtnahme vorgelegt. Politische Häftlinge erhielten keinerlei Papiere in die Hand.

Nach der Entlassung dann die Rückkehr ins Fleischkombinat Berlin, wo ich als Maurer arbeitete. Die Kaderabteilung versuchte, mich aus meiner Brigade weg auf eine andere, isolierte Arbeitsstelle umzusetzen. Mit Hilfe der Chefärztin der Betriebspoliklinik wurde eine „gesundheitliche Nichteignung“ konstruiert; ich sollte in eine andere Abteilung oder kündigen. Der Versuch scheiterte an der Solidarität der Kollegen und an einem Arbeitsgesetzbuch, das der Willkür der Betriebsleitung enge Grenzen setzte.

3. Trotz Spitzel politisch arbeiten

Acht Monate Knast, acht Monate Zeit um nachzudenken. Wie weiter danach, warum das alles? Der Sog, wie fast alle Mithäftlinge in den Westen zu gehen, war groß, die nächtlichen Rufe über den Gefängnishof: „Allen zukünftigen Bundesbürgern eine gute Nacht!“, die Angebote von Kirchenleitung und Rechtsanwalt, bei einer Übersiedlung behilflich zu sein. Ich hatte mir selber eine Grenze gesetzt. Zwei Jahre Knast wollte ich aushalten, ansonsten ausreisen.

Vor meiner Verhaftung hatte ich mich dem Friedenskreis der Evangelischen Studentengemeinde angeschlossen und mit einigen Freunden auf diversen Veranstaltungen für die Verweigerung des Wehrdienstes geworben. Das war auch der eigentliche Hintergrund meiner Verhaftung. Die Stasi bekämpfte alles, was den Keim einer Opposition in sich tragen konnte.

Der Mensch, den wir als Spitzel in Verdacht hatten, war nach meiner In-haftierung verschwunden. Neue Leute tauchten auf. Und immer war das Mißtrauen da. Wie damit umgehen? Wir entschieden uns, auf drei Ebenen zu arbeiten.

Die öffentliche, legal im kirchlichen Raum, war der Friedenskreis. Er war offen für alle, die konstruktiv mitarbeiten wollten. Die Stasi versuchte immer, durch eingeschleuste Spitzel die Arbeit zu stören, Mißtrauen zu säen, die Gruppe zu spalten, Entscheidungen und Beschlüsse zu verhindern. Auf einer anderen, sozusagen halblegalen Ebene waren die theoretischen Zirkel und eine Bibliothek angesiedelt. Da die Weitergabe von verbotener, „antisozialistischer“ Literatur strafbar war, durften nur wenige Konkretes wissen. Die Zirkel fanden immer in Wohnungen statt, eingeladen wurde nur persönlich und auf Empfehlung. Für den Fall, „auf frischer Tat“ entdeckt zu werden, hätten wir uns als kirchlicher Vorbereitungskreis einer gerade geplanten Veranstaltung ausgegeben. Ein- bis zweimal im Jahr fanden diese Zirkel auch als Wochenendseminar auf dem Land statt.

Auf illegaler Ebene, weil konspirativ, bereitete ein enger Kreis von sich län-ger kennenden Menschen Aktionen (Flugblätter etc.) vor und hielt Kontakte zu westlichen Medien. Anfang der 80er Jahre war die Friedensbewegung entstanden, wenig später die Ökologie- und die Menschenrechtsbewegung. Immer wieder kam es zu Verhaftungen:
1980 wurden zum Beispiel Hans-Jörg Waigel (Organisator des Königswalder Friedensseminars) wegen der Weitergabe der „Wunderbaren Jahre“ verhaftet, Eckard Hübener und Klaus Teßmann wegen Schmuggels von Untergrundliteratur der Solidarnosc zu 15 Monaten verurteilt. Elisabeth Gibbels und Martin Böttger wurden während einer Kerzendemo 1983 vor der sowjetischen Botschaft inhaftiert, Bärbel Bohley und Ulrike Poppe wegen ihrer Kontakte zur englischen Friedensbewegung. Bei Karl-Heinz Bomberg reichten 1985 seine selbst-geschriebenen Lieder. Viele andere mußten wegen ähnlich nichtiger Dinge in den Knast. Dazu kamen immer wieder sogenannte vorläufige Festnahmen oder Zuführungen. So wurden, um eine Aktion vor der amerikanischen und der sowjetischen Botschaft zu verhindern, 1983 etwa 300 Personen abgeholt oder unter Hausarrest gestellt.

4. Erste Erfolge

Gemessen an den siebziger Jahren begann sich die Situation im Laufe der Achtziger zu verändern. Durch die große Zahl von akkreditierten westlichen Journalisten, die sich nach der Anerkennungswelle in Ostberlin niederließen, verbesserten sich die Möglichkeiten, Öffentlichkeit herzustellen. Der spießige Drang nach westlicher Anerkennung machte die DDR-Regierung erpreßbar, so daß es gelang, die meisten Inhaftierten wieder freizukämpfen.

„Feind
Personen, die in Gruppen oder individuell dem Sozialismus wesensfremde politisch-ideologische Haltungen und Anschauungen absichtsvoll entwickeln und in ihrem praktischen Verhalten durch gezieltes Hervorrufen von Ereignissen oder Bedingungen, die die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung generell oder in einzelnen Seiten gefährden oder schädigen, eine Verwirklichung dieser Haltungen und Anschauungen anstreben.“
(Aus: Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, a.a.O.)

Doch die Angst wich nie vollständig. Sechs Uhr morgens war Verhaftungszeit. Klingelte es um diese Zeit an der Wohnungstür, habe ich nie aufgemacht, ohne erst auf die Straße zu sehen.

Ungewollt wirkte die Stasi aber auch als Klammer für die Opposition. Als ab Mitte 1985 die offene Repression der politischen Szene nachließ, alle sich sicherer zu fühlen begannen und sogar halblegale Infoblätter mit einer Auflage zwischen 1.000 und 2.000 Exemplaren kursierten, führte die Opposition den politischen Kampf hauptsächlich untereinander oder ignorierte sich gegenseitig. Erst der Sturm der Stasi auf die Umweltbibliothek im November 1987 führte zum Schulterschluß. Zum ersten Mal gelang es auch, das Ghetto der Zirkel und Kreise zu durchbrechen und eine nie erlebte offene Solidarisierung der Bevölkerung zu erfahren. Die Mahnwache vor der Zionskirche, die Für-bittgottesdienste und Aktionen DDRweit wurden ein voller Erfolg. Nach vier Tagen waren die Inhaftierten wieder frei. Doch die Rache folgte auf dem Fuße.

5. Der letzte Schlag der Stasi

Im Januar 1988 wurden innerhalb von acht Tagen zwölf Oppositionelle im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demo verhaftet. Die Desinformation des später als Stasi-Mitarbeiter entlarvten Rechtsanwaltes Schnur trug das Ihrige dazu bei, den größten Teil der Inhaftierten dazu zu bewegen, Richtung Westen auszuweichen. Die Solidaritätsbewegung brach zusammen. Der mögliche vorgezogene Herbst 1989 fiel aus. Frust und das Gefühl der Lähmung blieben zu-rück.
Die Stasi überwachte weiter wie gehabt. Abgehörte Telefone, geöffnete Briefe, zwei bis sechs Autos mit je drei Personen verfolgten uns bei entsprechenden Anlässen (politische Feiertage, Besuch hoher ausländischer Gäste in der Stadt etc.).
Zum Repertoire gehörten auch konspirative Hausdurchsuchungen, bei denen manchmal ganze Straßenzüge abgesperrt wurden, um nicht erwischt zu werden.

Zog ich morgens das Rollo hoch und blickte aus dem Fenster, stand des öfteren ein Auto mit einem zeitunglesenden Mann gegenüber. Nach einigen Stunden war er immer noch da oder hatte seinen Standort eine Ecke weiter gewählt. In den letzten Monaten vor dem Ende der Stasi-Herrschaft konnte es den Beobachtern schon passieren, daß sie von Passanten oder Nachbarn der Bewachten regelrecht angemacht wurden wegen des faulen Lebens und der Vergeudung der Steuergelder. Manche Autobesatzungen lagen dann auch in ihren Wagen, um nicht bemerkt zu werden. Aber das half ihnen nichts, denn der Mut hineinzusehen, war bei vielen gewachsen.