Literatur: Rezensionen und Hinweise

Schwerpunkt STASI

Fricke, Karl Wilhelm: Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder, 3. Auflage, Köln (Verlag Wissenschaft und Politik) 1989, 262 S.

Mitter, Armin/ Wolle, Stefan (Hg.): Ich liebe euch doch alle! – Befehler und Lageberichte des MfS Januar – November 1989, Berlin (BasisDruck Verlagsgesellschaft) 1990, 250 S.

Wilkening, Christina: Staat im Staate – Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, Berlin (Aufbau-Verlag) 1990, 208 S.

Unabhängiger Untersuchungsausschuß Rostock (Hg.): Arbeitsberichte über die Auflösung der Rostocker Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, Rostock (Selbstverlag) 1990, 320 S.

Meinel, Reinhard/ Wernicke, Thomas (Hg.): „Mit Tschekistischem Gruß“ – Berichte der Bezirksverwaltung für StaatSSi-cherheit, Potsdam ’89, Potsdam (Edi-tion Babelturm) 1990

Saß, Ulrich von/ Suchodoletz, Harriet von (Hg.): „feindlich-negativ“ – zur politisch-operativen Arbeit einer Stasi-Zentrale, Berlin (Evangelische Verlagsanstalt) 1990, 156 S.

Die GRÜNEN, Bundesgeschäftsstelle Bonn (Hg.): „Tage und Nächte nach dem 7.Oktober 1989 in Berlin/DDR“, Bonn (Selbstverlag) 1989, 48 S.

Kalkbrenner, Jörn: Urteil ohne Prozeß – Margot Honecker gegen Ossietzky-Schüler, Berlin (Aufbau-Verlag) 1990, 118 S.

„Ob ein Systemwechsel mit einer wirklichen Revolution einhergeht, sollte man, so paradox es anmuten mag, daran messen, ob die neuen Machthaber bereit sind, die Archive der politischen Polizei ihrer Vorgänger zu öffnen. Legt man diesen Maßstab an, so kommt man allerdings zu dem Ergebnis, daß es in der neueren Geschichte nur wenige Revolutionen gegeben hat.“

Otto Kirchheimer, Politische Justiz, Frankfurt/M 19812, S. 304.

Der Streit um die Frage der Öffnung der Archive war in der DDR voll entbrannt und wird im vereinten Deutschland weiterhin noch einige Wellen schlagen. Zu erwarten ist, daß die Öffnung nur höchst begrenzt erfolgen wird. Zu stark ist das Interessengemisch der jeweils herrschenden politischen Kräfte – darunter die verwaltende Bürokratie, die von parteipolitischen Konjunkturwechseln am geringsten in ihrer alltäglichen Herrschaft betroffen ist -, möglichst wenig bekanntwerden zu lassen. So ist das fixe Angebot bundesdeutscher Spitzenvertreter aus Politik und Exekutive, Stasi-Mitarbeiter zu amnestieren, weniger eine Frage „rechtsstaatlichen Vorgehens“, als vielmehr u.a. der Versuch, bundesdeutschen hauptamtlichen Spitzeln und freiberuflichen „patriotischen Kräften“, wie die STASI ihre Denunzianten nannte, vor der Furcht zu bewahren, daß es auch ihnen künftig blühen könnte, öffentlich entlarvt zu werden. Ein Motiv für das aktuelle Amnestie-Angebot von bundesdeutscher Seite wie für die Forderung, STASI-Spitzel durch Offenlegung der Archive nicht zu gefährden, ist mithin die Fürsorgepflicht bundesdeutscher Dienstherren für die von ihnen ausgehaltenen „Ehrenleute“.

Hier wiederholt sich eine Politik, die schon nach 1945 in bezug auf die Spitzel des Gestapo-Systems betrieben wurde. So mancher bundesdeutscher Nachkriegspolitiker hatte zuvor als SD-Spitzel sich verdingt und Bürger aufs Schafott gebracht, um nach 1945 dann von der amerikanischen Besatzungsmacht gedeckt zu werden. Bis zur Gegenwart hält die amerikanische Administration ihr einst in die Finger gekommene Spitzellisten unter Verschluß, wie unlängst ein Zeitzeuge kundig machte, der 1945 für die Besatzungsmacht entsprechende Listen auszuwerten hatte (Weyrauch, Walter Otto, Gestapo-V-Leute, Frankfurt/M, V. Klostermann Vlg., 1989)

Daß es jenseits dieser Interessen auch sehr ernstzunehmende Argumente gibt, diese Frage mit Sorgfalt und Blick für Konsequenzen zu entscheiden, soll damit nicht leichter Hand zur Seite geschoben werden.

Ein wenig haben sich in letzter Zeit die STASI-Archive geöffnet, noch be-vor Innenminister Diestel und seine bundesdeutschen Berater dies verhindern konnten. Hiervon zeugen vier der oben angeführten Veröffentlichungen aus der DDR, symptomatischer-weise entweder im Selbstverlag oder von Verlags-Neugründungen aus dem Umfeld der Bürgerbewegungen publiziert.

Die „Befehle und Lageberichte des MfS“ aus dem Jahre 1989 geben einen Einblick in Denkmuster der obersten STASI-Führungsebene. Sie widerspiegeln zum einen die Geschichte der Bürgerbewegungen aus der Sicht ihrer hauptberuflichen Gegner (vgl. etwa S. 56 ff.), zum anderen kommt aber auch schon der innere Zerfall des SED-Herrschaftssystems zum Ausdruck, so etwa in den Lageberichten über Austritte aus den Kampfgruppen und Befehlsverweigerungen dieser „Machtorgane der Arbeiterklasse“ (vgl. S. 221 ff.). Zwar waren sich die STASI-Oberen offenbar durchaus des Problems bewußt, daß ein Übermaß an offener Repression eskalierend und damit kontraproduktiv wirken könnte (vgl. etwa S. 42 ff. die wiederholte Anweisung, strafrechtl. Maßnahmen zu beschränken und sie nur mit Zustimmung der STASI einzuleiten). Indes, diese Einsicht kam zu spät. Die personalisierte, verschwörungstheoretische Sicht von oppositionellen Bewegungen, die diese Lageberichte und Befehle durchzieht, ist allerdings ein professionelles Defizit nicht nur der STASI. Wir finden sie gleichermaßen auch bei bundesdeutscher „Verfassungsschützern“, wie gelegentlich bekanntwerdende „Lageberichte“ dieser Ämter ausweisen. Es ist kein Mangel an Intelligenz der Mitarbeiter, sondern es sind institutionelle Zwänge, die zum sozialen Autismus führen, die debil machen. Nur wehe, wenn diese Debilen über ein solches Maß an Macht verfügen wie die STASI.

Die bürokratische Perfidie und den Versuch planwirtschaftlicher Perfektion bei der Produktion von Staatsfeinden in jenem grauen STASI-Alltag zeigen vor allem die drei Dokumenten-Bände über die Auflösung der STASI in Rostock, Potsdam und Neubrandenburg – die „Arbeitsberichte über die Auflösung …“, „Mit Tschekistischem Gruß“ und „feindlich-negativ“. Spitzel werden in der STASI-Buchhaltung per „Stück“ gezählt, ihre Produktion und Anwerbung unterlag offenbar identischen Planübererfüllungs-Kampagnen wie die Produktion von Stahl und Erdmöbeln – der „realsozialistischen“ Begriffs-Neuprägung für Särge. Und immerhin, zumindest bei der Produktion von Denunzianten und Staatsfeinden funktionierte diese Planwirtschaft. Daß eine Vielfalt täglich zusammengetragener Einzelinformationen dank eines Spitzelsystems, dessen Dichte sowohl der Neubrandenburger wie der Rostocker Dokumentenband in erschreckender Banalität und Deutlichkeit anhand interner STASI-„Inventur“-Listen und Erfolgsmeldungen belegen, gleichwohl nicht dazu führt, gesellschaftliche Prozesse zu begreifen, weisen nicht nur die STASI-Lageberichte aus, die u.a. im Band „Mit Tschekistischem Gruß“ über die Oppositionsgruppen in der Potsdamer Region zusammengetragen sind. Auch zeigt sich, daß im Haß auf Personen und Gruppen, die sich in deutlicher Abgrenzung zum „offiziellen So-zialismus“ von SED oder SPD zur Idee des Sozialismus bekennen, Geheimdienste in Ost wie West offenbar vereint sind. Der Stasi-Jargon hat für diese Strömungen, die im „Verfassungsschutz“-Jargon als „Extremisten der neuen oder undogmatischen Linken“ bezeichnet werden, nur andere Begrifflichkeiten wie etwa „feindlich-negative Kräfte“, „negativ-dekadente Jugendliche“ oder „antisozialistische Sammlungsbewegungen“. Und so findet sich im Potsdamer Dokumentenband auch folgende tragisch-kuriose Einschätzung: „… durch hohen Idealismus getragene feindlich-negative Einstellung“.

Überhaupt Stasi-Bürokratie und Sprache: der Rostocker Auflösungsbericht endet mit einem lesenswerten kleinen Versuch, die Stasi-Sprache zu analysieren. Der Inferiorität des Bürokraten-Gestammels entspricht die Inferiorität der Urteile. „Die primäre Ursache für Ausreisen in die imperialistische BRD ist deren Existenz.“ (S. 316 des Rostocker Berichts).

Was alle Berichte unter dem Gesichtspunkt staatsschützerische Methoden für Bundesbürger offenlegen, ist deren „Systemneutralität“. Dies heißt beileibe noch nicht, daß die Apparate und ihre gesellschaftliche Wirkung gleichzusetzen wäre.
Ob da nun in Demonstrationen „eingesickert“ wird (vgl. Rostocker Bericht, S. 275) oder mit Taktiken der „Zersetzung“ Mißtrauen in Oppositionsgruppen geschürt wird – diese Methoden lassen sich allemal auch an bundesdeutschen Erfahrungen illustrieren, genauso wie der Zugriff auf die „Kaderakten“. Allerdings werden für operative Formen der „Zersetzung“, wie sie etwa im Neubrandenburger Bericht (vgl. S. 43 ff.) qua Aktenmaterial dokumentiert sind, die dichten Belege erst ans Tageslicht kommen, wenn auch unsere Ämter im Sturm gefallen sind. Nur für die 50er Jahre sind bundesdeutsche „Verfassungsschützer“ inzwischen hier und da bereit, in Memoiren entsprechend perfide Leistungsnachweise vorzustellen ((vgl. etwa das Kapitel „Menschen und Methoden“ in den Memoiren des ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günther Nollau, mit dem Titel „Das Amt“, München (Bertelsmann Vlg.) 1978)). Daß bundesdeutsche Staats- und „Verfassungsschützer“ sich nicht nur damit begnügen, still in Kaderakten Freier Universitäten herumzublättern oder bei Liebesspielen in verwanzten Wohnungen den Voyeur zu spielen, sondern in sog. terroristischen und anderen Szenen sehr aktive Parts zu übernehmen fähig sind, zeigt nicht nur der Mord- und Prozeß-„Fall“ Schmücker (vgl. CILIP 27 u. 34). Auch die Ergebnisse des 11. Parla-mentarischen Untersuchungsausschusses in Niedersachsen, der die Inszenierung eines vom „Verfassungsschutz“ mit Amtshilfe des Bundesgrenzschutzes betriebenen Bombenanschlags auf eine Gefängnismauer in Celle zum Thema hatte, weisen aus, wie tüchtig rechtsstaatliche Staatsschützer Lockspitzel aus dem kriminellen Milieu zu nutzen wissen.

Eher eine Statistenrolle spielte die Stasi bei der Verfolgung und Relegation von Schülern der Ossietzky-Schule in Berlin (O) im September 1988. Hier war es die Kulturministerin der DDR in eigener Person, die beim „Urteil ohne Prozeß“ zur Richterin wurde, unterstützt von einer Vielzahl Pädagogen. Dieser kleine Band dokumentiert aber nicht nur politische Repression sondern zugleich die zunehmend mutiger werdenden Versuche, sich zu wehren.

Einen anderen Weg zum Verständnis des STASI-Alltags geht Christina Wilkening, die unter dem Titel „Staat im Staate“ unkommentiert zwölf Tonbandprotokolle und Lebensbeichten ehemaliger STASI-Mitarbeiter veröffentlicht hat. Die Herausgeberin mag verzeihen, wenn als Auffälligkeit vermerkt wird, daß der erste Text zur STASI, der aus einem DDR-Altverlag kommt, um „Verständnis für die Mitarbeiter“ wirbt.

Frau Wilkening veröffentlicht durchgängig Rechtfertigungstexte voller Selbstmitleid, in denen nahezu bei keinem der Täter ein ernsthaftes Verständnis dafür durchscheint, was dieser Apparat und seine Mitarbeiter den Menschen der DDR und damit der Gesellschaft angetan haben. Gewiß haben dieser Täter, die zugleich Opfer sind, Anspruch darauf, sich zu rechtfertigen. Nur, weder Herausgeberin noch jene Lohnarbeiter in Sachen Unterdrückung, die als sich selbst darstellende Täter auftreten, scheinen einen Begriff davon zu haben, daß wenige Monate nach ihrer Abservierung den Opfern noch nicht die psychische Leistung abverlangt werden kann, nur „nüchtern sachlich“ über gemeinsame Geschichte zu disputieren. Die unzweideutig offene Opferrolle verlangt – auch zeitlich – ihren Vorrang „vor den Qualen der Henker“, die Stefan Andres in dem uns Schülern zur nationalsozialistischen Vergangenheitsbewältigung aufgezwungenen Buch „El Greco und der Großinquisitor“ wortgewaltig-plastisch zu schildern vermochte. Sollen nun die Opfer erneut schweigen – emotionslos sich in Ecken drükken -, bescheiden angesichts des Leidens jener Täter, die hier ihre Opferrolle schildern?

Vom Gestus her erinnert dieser Band an einen weiteren Standardtext aus jener Schulzeit in Berlin (W) – Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“. Auch dies ist ein Stück Literatur zur „Bewältigung“ des Zweiten Weltkrieges, in dessen Bühneninszenierung nahezu jeder bundesdeutsche Schüler von den 50er bis in die 70er Jahre gezerrt wurde. Präsentiert werden die Qualen eines heimgekehrten deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges, hinter die das von deutschen Soldaten produzierte Leiden und die Leichenberge in den überfallenen Ländern umso besser in Vergessenheit geraten konnten.

Dennoch lohnt es sich, diesen Band zu lesen, will man das STASI-System auch in seinem endgültigen Versagen begreifen. So wird etwa deutlich, wie auf dem „Weg nach oben“ einzelne Versuche, relativ offene und damit kritische Situationsschilderungen zu liefern, der Selbstzensur der STASI unterlagen, dieser Geheimdienst also sich und seine Abnehmer in den Führungsetagen der SED selbst noch betrog (vgl. etwa S. 24 ff). Daß die Verantwortung für das STASI-Regime ausschließlich die „Leiter ganz oben“ trugen (vgl. S. 131), die „von goldenen Tellern gegessen haben und dabei vergaßen, uns die silbernen hinzu-schieben“ (S.95), durchzieht als Rechtsfertigung die Lebensbeichten jener, „die sich nichts vorzuwerfen haben“ sondern nur bemüht waren, die ihnen „auferlegten Pflichten ehrlich und pflichtbewußt zu erfüllen“ (S. 161), in einer erschütternden Penetranz. Es sind Muster der Rechtfertigung, die fatale Erinnerungen wecken an jene Argumentationsschablonen und moralische Inferiorität, mit denen bundesdeutsche Richter und Staatsanwälte, Polizisten und Verfassungsschützer sich von aller Schuld freisprachen, wenn sie daran erinnert wurden, daß sie ihre staatsschützerischen Qualitäten im deutschen Faschismus erworben hatten, bevor sie berufen wurden, die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ zu verteidigen. Dies sei genauso vermerkt wie jenes verständliche Phänomen, daß mehr als die Hälfte der hier Auskunft gebenden „Tschekisten“ nun in der PDS ihre politische Heimat gefunden hat. In einer Situation gesellschaftlicher Isolation nutzt man jede Chance sozialer Kontakte. Schließlich haben nur unentdeckte – oder vor der Entdeckung geschützte – „inoffizielle Mitarbeiter“ die Chance, den in solchen Ämtern zum Habitus werdenden Konservativismus in den für die DDR neuen Kartell-Parteien der Bundesrepublik (CDU/CSU, FDP, SPD) befriedigen zu können.

In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist schließlich Frickes Arbeit „Die DDR-Staatssicherheit“. Sie galt bis Anfang dieses Jahres als Standard-Werk. Selbst die Aktivisten der Bürgerbewegungen griffen anfangs zum „Fricke“ beim Versuch, apparative Strukturen der von ihnen aufzulösenden STASI zu begreifen. Fricke, in den 50er Jahren von STASI-Agenten in die DDR entführt und dort langjährig in Haft, ist in dieser Arbeit deutlich bemüht, sich eines blinden Antikommunismus zu enthalten. Das empirisches Gerüst dieser Arbeit erweist sich heute als weitgehend unzuverlässig und überholt. Dies ist dem Autor gewiß nicht vorzuwerfen. Zugleich auffällig ist der Mangel an Analyse der Wirkungsweise des „realsozialistischen“ Herrschaftssystems, so daß die Arbeit kaum etwas hergibt, um dieses Herrschaftssystem zu verstehen.

Es ist zu hoffen, daß weitere Dokumentenbände zur STASI folgen, die als Grundlage zum vertieften Verständnis der Organisation politischer Herrschaft dienen könnnen und damit Voraussetzungen schaffen, sich ihrer besser zu erwehren. Zugleich, so wäre zu hoffen, könnten weitere STASI-Publikationen dazu beitragen, in der DDR die Abwehrhaltung gegen alle Bemühungen aufrechtzuerhalten, erneut nun mit „rechtsstaatlichen“ Geheimdiensten die politische Loyalität gesamtdeutscher Bürger zu überwachen und zu sichern.

Die Dokumentation „Tage und Nächte nach dem 7. Oktober 1989 in Berlin/ DDR“ enthält Gedächtnisprotokolle von Verhafteten, die von Mitarbeitern der Kontakttelefongruppe (eine beim Stadtjugendpfarramt angegliederte Ar-beitsgemeinschaft von Vertretern verschiedener Basisgruppen) gesammelt worden sind. In CILIP 35 haben wir bereits zwei dieser Protokolle abgedruckt. Die Protokolle schildern einen der letzten Versuche, mit Gewalt den Zusammenbruch des SED-Regimes zu verhindern.
(sie kann bestellt werden bei der Bundesgeschäftsstelle der GRÜNEN, Collmanstr. 36, Bonn)
(FW)

Wolf, Christa:Was bleibt. Erzählung, Frankfurt/ Main (Luchterhand Literatur-Verlag) 1990
Biographische Erfahrungen mit der STASI sind von Christa Wolf in ihrer Erzählung „Was bleibt“ verarbeitet worden.
„Sie standen wieder da“ (S. 15). „sie waren Abgesandte des anderen“ (S. 21). „Obwohl ich an diesem Tag noch nichts getan hatte, würde ich jetzt, mitten in der Arbeitszeit, einkaufen gehen. Es war ein Sieg der anderen, da machte ich mir nichts vor, denn wenn es eine Moral gab, an der ich festhielt, so war es die Arbeitsmoral, auch weil sie imstande zu sein schien, Verfehlungen in anderen Moralsystemen auszugleichen“ (S. 26 f.) „Den Argwohn gegen diese gepflegten Objekte (öffentliche Gebäude u.ä., d. Verf.) hatte ich auch lernen müssen, hatte begriffen, daß sie alle dem Herrn gehörten, der unangefochten meine Stadt beherrschte: der rücksichtslose Augenblicksvorteil“ (S. 34 f.).

Solcherart erfährt die Ich-Erzählerin Christa Wolf in ihrer eben erschienenen Erzählung „Was bleibt“, entstanden 1979/89, heftig in bundesdeutschen Feuilletons umstritten, bevor das schmale Buch schon erschienen war, die sich über Tage, Wochen (?) hinziehende Beobachtung durch angesandte junge Männer ohne andere als STASI-Eigenschaften. Gerade weil die Überwachung vergleichsweise „harmlos“ bleibt, gerade weil sie als „Luxusgeschöpf“ ungleich geschützter ist als viele weniger Privilegierte, gerade weil die DDR trotz aller Entfremdung – „Kaltgestellt nennt man das. Mit dem Rücken an der Wand“ (S. 104) – als „ihr“ Land begreift, kommen in der sachten, oft (zu) schwebenden Andeutungen die Innenwirkungen dieser dem Anscheine nach nur äußeren Kontrolle sublim ver-dichtet zum Ausdruck. Alle Zeilen durchströmt das „feine Aroma der Selbstaufgabe“ (63). Die eigene Verunsicherung verstärkt sich und geht bis zur Sprachlosigkeit. „Ich selbst. Über diese zwei Worte kam ich lange nicht hinweg. Ich selbst. Wer war das. Welches der multiplen Wesen, aus denen „ich selbst“ mich zusammensetzte. Das, was sich kennen wollte? Das, das sich schonen wollte? Oder jenes dritte, das immer noch versucht war, nach derselben Pfeife zu tanzen wie die jungen Herren da draußen vor der Tür?“ (57) „Das blanke Grauen“ droht so bewacht. „Das blanke Grauen, ich hatte nicht gewußt, daß es sich durch Fühllosigkeit anzeigt“ (80). (WDN)

Nicht mehr um die Stasi, sondern um die Bewältigung der Stasi-Vergangenheit soll es bei folgendem Text gehen:
Polizeidienst – ein Beruf mit demokratischen Traditionen, in: Wissenschaftliche Beiträge, Hochschule des Ministerium des Innern, Nr. 2/1990

Über kurz oder lang wird es diese Hochschule und Zeitschrift der VoPo-Kaderschmiede wohl nicht mehr geben.
Dieses Heft legt erste Arbeitsergebnisse einer von Innenminister Diestel eingesetzten Kommission vor, die den Auftrag hatte, zur „geistigen Erneuerung“ der Volkspolizei aus der Geschichtskiste Versatzstücke zusammenzuklauben, um ein neues Traditionsbild zu entwerfen. Gewiß, „Traditionsbestimmung (ist) Auseinandersetzung mit und Auswahl aus der geschichtlichen Hinterlassenschaft“ (S. 85). Danach sieht die offizielle Polizeigeschichtsschreibung – und nicht nur sie – in Ost und West auch immer aus, Apologetik billigster Art, zu deren beliebtesten Begriffen der der „Verstrickung“ zählt.

Sofort zu Widersprechen ist den Autoren aber beim folgenden Satz. „Gleichwohl macht uns die Geschichte deutlich, daß Bürgerwohl und Staatsschutz nicht automatisch iden-tisch sein müssen.“ (ebenda) Nein, was für ein Unsinn. Wo hätte es diese Identität wohl je gegeben. Vielmehr ließe sich mit mehr Berech-tigung sagen, daß mit der Sonderung von Staat und Gesellschaft „automatisch“ der Widerspruch von Staats- und Bürgerschutz gesetzt war und gesetzt bleiben wird. Da sind von unabhängigen Historikern, die unlängst in der DDR einen eigenen Verband gegründet haben, andere Arbeitsergebnisse zu erwarten, als bei einer solchen Schrift, die als Ideologie-Produktion in Auftrag gegeben wurde.
(FW)

Sonstige aktuelle DDR-Literatur:

Schüddekopf, Charles (Hg.): Wir sind das Volk. Flugschriften, Auf-rufe und Texte einer deutschen Re-volution, Reinbek bei Hamburg 1990, 280 S.

Golombek, Dieter/ Ratzke, Dietrich (Hg.): Dagewesen und aufgeschreiben – Reportagen über eine deutsche Revolution, Frankfurt/ M (IMK) 1990, 370 S.

Neue Forum Leipzig: Jetzt oder nie – Demokratie! Leipzig Herbst ’89, Leipzig (Forum Verlag Leipzig) 1989, 348 S.

In einer Zeit, in der sich die Ereignisse so überschlagen wie seit Oktober letzten Jahres, können die hier angeführten Sammelbände zur Rekonstruktion der Entwicklung ganz hilfreich sein. Der vom Neuen Forum Leipzig mit Redaktionsschluß 17. Dezember ’89 zusammengestellte Band ist eine Collage aus Interviews, Reden, Flugblättern und Auszügen aus der Sächsischen Presse, ergänzt um eine Chronologie zur Entwicklung in Leipzig ab Oktober ’89. Der Band vermittelt einen atmosphärisch dichten Eindruck aus dieser entscheidenen Periode.

„Dagewesen und aufgeschreiben“ ist eine Sammlung von Zeitungsartikeln überwiegend aus der konservativen bundesdeutscher Presse zur DDR, beginnend 1987, jedoch mit klarer Schwerpunktsetzung in den letzten Monaten bis März ’90. Wer also Interesse an der konservativ-pluralistischen Sichtweise der jüngsten DDR-Entwicklung hat, ist mit diesem Band gut bedient.
Weit hilfreicher zur Rekonstruktion der jüngsten Entwicklung seit September ’89 ist die Sammlung von Flugblättern, Aufrufen, Gründungserklärungen, Reden und Offenen Briefen aus der DDR, die in dem Band „Wir sind das Volk“ vereinigt sind. Liest man sie, so wird geradezu schmerzlich bewußt, was im Zusammenspiel zwischen den DDR-Blockparteien und ihren neuen Vormündern in Gestalt des bundesdeutschen Parteienblocks, also im Zusammenspiel konservativ-autoritärer Kräfte aus der DDR und der BRD, unter der Peitsche ökonomischer Drohungen und eines politisch gezielt immer weiter beschleunigten Anschlußprozesses zerstört werden soll.

Vor dem in diesen Dokumenten sich anmeldenden demokratischen Übermut mußten die konservativen Kräfte im östlichen wie im westlichen Teil gleichermaßen panische Angst bekommen. Mit der Zuchtpeitsche des aktuell konstatierbaren ökonomischen Verfalls der ehemaligen DDR, soll wohl der de-mokratische Übermut durch die allemal verständliche und nicht der vorschnellen Denunziation preiszugebenen Angst um Wohnung und Brot ersetzt werden. Es drängt sich der Verdacht auf, daß es ein gewolltes, zumindest „billigend in Kauf genommenes“ erzieherisches Instrument zum Einüben jener demokratischen „Bescheidenheit“ ist, die das „realsozialistische“ Herrschaftssystem deutlich kräftiger mit direkter Gewalt erzwang. Nur ist auch der „stille Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ kaum anderes als Gewalt, auch wenn sie sich nicht so sinnlich-greifbar – und damit sinnlich begreifbar – darstellt wie personalisierte Gewalt in Gestalt eines Mannes wie Mielke, dessen Erscheinungsbild bereits vom „Amt“ gezeichnet scheint.

Diese falsche Konkretheit des personifizierten Bösen und der „Individualität“ annehmenden Herrschaft war schon immer ein politisch höchst wirkungsvoller Fallstrick. Daß eine Bevölkerung, die über 40 Jahre im Marxismus „beschult“ wurde, dieser falschen Konkretheit in der Masse aufsitzt, darin rächt sich das Regime an seiner Bevölkerung noch im nachhinein.
Demokratische Vitalität und selbstbewußter Übermut, den Bloch immer wieder an jenem Bild aus der Zeit der deutschen Bauernaufstände festmachte – „Wenn Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“ – im Band des Neuen Forums Leipzig und in der Dokumentensammlung von Schüddekopf sind diese Vitalität und dieser Übermut wieder lebendig.
(FW)

Außerhalb des Schwerpunktes:

Semerak, Arved F.: Die Polizeien in Westeuropa, Stuttgart (Boorberg) 1989, unter Mitarbeit von Günter Kratz, hg. von Karl Heinz Amft und Karl Heinz Peters, 191 S.
Titel und Titelblattgestaltung versprechen mehr als der Text hält. Das beginnt damit, daß das Titelblatt, geschmückt mit der blauen EG-Fahne und ihren gelben Sternen, im Zentrum mit dem Wort EUROPOL wirbt. Auf „Europol“, d.h. der Idee einer europäischen Polizeibehörde, die bisher selbst unter den Polizeien der Mitgliedsstaaten der EG umstritten ist, geht der Autor allerdings nur im Vorwort ein, wo er die Notwendigkeit stärkerer Zusammenarbeit der europäischen Polizeien unterstreicht. In den folgenden, äußerst knappen Darstellungen der Polizeisysteme von 24 europäischen Ländern finden sich keine Referenzen mehr auf Europa.
Wer meint, „ein möglichst zutreffendes und komplettes Bild von den Polizeien in Westeuropa“ zu erhalten, wie das Vorwort verspricht, sieht sich gleichermaßen getäuscht. Nach der Lektüre wird der Leser zwar die Uniformen der Polizisten in 24 europäischen Ländern kennen, auch einen groben Überblick bekommen haben über unterschiedliche Organisationsstrukturen und schließlich wissen, welche jeweiligen Einstellungsvoraussetzungen und Ausbildungsinstitutionen existieren etc. Über die gesellschaftliche Verortung der jeweiligen Polizeien, deren Traditionslinien, derzeitige Konfliktlinien und sowie über aktuelle Handlungsmuster der 24 Polizeisysteme erfährt er nichts. Die im Vorwort selbst gestellte Aufgabe wurde glatt verfehlt.
(HB)

Korbmacher, Reinhold: Möglichkeiten gewaltfreien Einschreitens der Polizei – Forschungsbericht, Dortmund 1989, 140 S.
Wensing, Rainer: Konfliktverhalten von Polizeibeamten. Individuelle Streßreagibilität und Ag-gressionsbereitschaft, Münster (Wax-mann-Internationale Hochschulschrif-ten) 1990, 255 S.
Beide Schriften kommen aus dem Umkreis der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Dortmund: die erste ist ein Bericht über ein Projekt, das Korbmacher an der besagten FHöV durchführte, die zweite eine Dissertation, die aus der Zusammenarbeit der psychologischen Fakul-tät der Universität Münster mit der Fachhochschule entstand. Gemeinsam teilen die Arbeiten nicht nur die methodischen Ansätze der Aggressionsforschung, sondern auch die darin steckenden Probleme:
Die Erklärung polizeilicher Gewalt wird hier im wesentlichen auf die Verhaltensdisposition einzelner Beamter verlagert. Je aggressiver Poli-zeibeamte sind, desto mehr Gewalt üben sie aus. So lautet die Grundthese, die mit Hilfe statistischer Auswertungen von Fragebögen bestätigt wird. Der institutionelle Rahmen, in dem sich diese Aggression entfaltet, geht kaum noch in die Analyse mit ein. Weder die Situationen, mit denen sich die Beamten zu beschäftigen und für die sie Lösungen zu suchen haben, noch das Verhältnis von angeordnetem Gewalteinsatz und Ausführung dieser Anordnung durch die Beamten, noch gar die gesellschaftliche Rolle der Polizei als Trägerin des Monopols physischer Gewaltsamkeit, als Herrschaftsinstrument, werden analysiert. Selbst die Interpretation des erhobenen und verfügbaren Materials ist dürftig.

Korbmacher, der seine Umfrage vor allem bei Beamten des Streifendienstes machte, unterscheidet zwar zwischen Polizisten aus Groß-, Mittel- und Kleinstädten. Unterschiedliche „Klimata“ in der Behördenorganisation verschiedener Städte, unterschiedliche polizeiliche Alltagsprobleme und soziale Kontexte zwischen den einzelnen Städten und zwischen Groß- und Kleinstädten bleiben jedoch unberücksichtigt. Die Qualität der Aussagen reicht deshalb nicht einmal an die Untersuchungsansätze der interaktionistischen Soziologie heran, die die Gewalt bei Demonstrationen zumindest in den Kontext von Eskalationsprozessen setzt (siehe die Besprechung von Eckert/ Willems et. al. in CILIP 33, S. 105-108). Werden von diesen Autoren wenigstens Forderungen nach deeskalierenden Taktiken und Strategien erhoben, so bleibt es bei den hier angezeigten Arbeiten letztendlich nur bei der nochmaligen Bestätigung der in NRW betriebenen Fortbildung in Sachen „Verhaltenstraining“. So richtig und gut die Bestrebung ist, Polizeibeamte nicht voller Wut und Aggression auf die BürgerInnen loszulassen, so kann sie doch die Reflexion auf und die Veränderung von polizeilichen Methoden, Organisation und Instrumenten nicht ersetzen.
HB

Krumsiek, Lothar: Verdeckte Ermittler in der Polizei der Bundesrepublik Deutschland, München (Verlag V. Florentz) 1988, 269 S.
Krumsiek, Dozent an der niedersächsischen Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege – Fachbereich Polizei -, nimmt sich in seiner Dissertation die Diskussion um „neue Methoden der Verbrechensbekämpfung“, um verdeckte Ermittlungen, vor, wie sie seit den 70er Jahren geführt wurden. Er untersucht sie insbesondere im Hinblick auf die Frage der Verrechtlichung – von der Wetterich-Kommission, über die Thesen der IMK von 1985, die in den Ländern mit leichten Modifikationen in Erlasse umgegossen wurden, bis hin zum Musterentwurf des Polizeirechts von 1986 und den korrespondierenden Plänen für eine Änderung im Strafprozeßrecht. Der Autor kritisiert nicht nur die Tatsache, daß in den meisten Ländern nach wie vor verdeckte Ermittlungen nur auf ministerielle Anordnungen und Erlasse, nicht aber auf gesetzliche Regelungen gestützt sind. Er schließt sich darüber hinaus der von Bürgerrechtsorganisationen geäußerten Kritik an der geheimen Polizeitätigkeit an, die rechtsstaatlichen Konzeptionen einer offenen, d.h. als solche erkennbaren Polizei zuwiderlaufen.

Die Arbeit ist gut geschrieben und stellt eine wertvolle Materialsammlung für die politische Auseinandersetzung in dieser Frage dar. Die polizeilichen Argumentationen charakterisiert der Autor als „inhaltlich oberflächlich, nicht immer offen alle Probleme ansprechend und durchgehend vom Zweckdenken überlagert“ (S. 210). Krumsieks Arbeit, wie auch die meisten anderen zum Thema, bleiben aber bei der Entlarvung dieses Zweckdenkens weitgehend stehen. Wie die Praxis der verdeckten Ermittlungen aussieht, ob und wie weit die immer wieder behauptete Effizienz geheimer Polizei z.B. im Bereich der „organisierten Kriminalität“ geht, welche Nebeneffekte daraus entstehen – all diese Fragen sind im Rahmen einer rein rechtspolitischen Arbeit wie der vorliegenden nicht zu beantworten.
(HB)

Baumgartner, Hans: Zum V-Mann-Einsatz – unter besonderer Berücksichtigung des Scheinkaufs im Betäubungsmittelverfahren und des Zürcher Strafprozesses, Zürcher Studien zum Strafrecht, Bd. 16, Zürich (Schulthess Polygraphischer Verlag) 1990, 352 S.
Im Unterschied zu den meisten deutschen Arbeiten zur Problematik verdeckter Polizeitätigkeit, die sich nahezu ausschließlich juristisch mit diesen Praktiken auseinandersetzen, geht Baumgartner sehr stark die praktischen Probleme an, die er als Ermittlungsrichter und Staatsanwalt in Zürich kennenlernte.

Der Autor bejaht die Notwendigkeit des V-Mann-Einsatzes im Bereich des organisierten Drogenhandels, will aber hierfür bessere rechtliche, insbe-sondere prozeßrechtliche Regelungen einführen, um so das Prinzip des fairen Prozesses zu wahren. Bei aller Anstrengung, die er auf Vorschläge einer rechtlichen Kontrolle geheimer polizeilicher Tätigkeit verwendet, kann er doch nicht das Problem ausräumen, daß der Gebrauch solcher geheimer Methoden sich einer Kontrolle weitgehend entzieht, die Justiz entweder von der Kontrolle ausgeschlossen oder in die geheime polizeiliche Tätigkeit eingebunden wird.

Das interessantere an diesem Buch sind daher nicht die Vorschläge zu einer Verrechtlichung der V-Mann-Tätigkeit, sondern die kenntnisreiche Beschreibung der Praxis des V-Mann-Einsatzes und des Scheinkaufs von Drogen. Baumgartner zitiert zwar kaum Fälle, beschreibt diese Praxis aber erheblich genauer als das in anderen deutschsprachigen Arbeiten der Fall ist. Probleme wie die Herkunft von V-Leuten, deren Eigeninteressen, die Zusicherung von Vertraulichkeit, die Hinnahme von Straftaten, die Versuche der Polizei, den V-Mann oder Scheinkäufer vor der Kenntnis selbst der Justiz zu schützen oder bei der Festnahme die Zielperson schlicht „entkommen“ zu lassen, werden aus-führlich betrachtet. Dieses Buch ist auch für die hiesige Diskussion ein wertvoller Beitrag.(HB)

Roßnagel, Alexander (Hg.): Freiheit im Griff. Informationsgesellschaft und Grundgesetz, Stuttgart (S.Hirzel) 1989, 188 S.
Der vorliegende Band faßt im wesentlichen Ergebnisse einer Konferenz zusammen, die die von Roßnagel geführte „Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung“ (kurz „Provet“) im Januar 1988 veranstaltete. Der Band enthält z.T. interessante Überblicke zu Situation und Zukunft der Informationstechnologie in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen, von denen sich insbesondere die Aufsätze der Provet-Mitarbeiter auf das Konzept der Sozial- und Verfassungsverträglichkeit beziehen, das auch Gegenstand der Einleitungsbeiträge Roßnagels und von Alemanns ist.

Roßnagel wiederholt die mittlerweile in Datenschutzdiskussionen und ins-besondere in Bürgerrechtskreisen bekannte Tatsache, daß gegenüber der rasanten Technikentwicklung das Recht nur noch hinterherzuhinken vermag und rechtliche Grundsätze entwertet werden. Dabei und bei allgemeinen Hinweisen auf die Gefahr, daß bestimmte Techniken nicht verfassungsverträglich seien, bleibt es dann aber auch weitgehend. Die Frage, welche Recht für die Steuerung von Technik, und d.h. immer auch Herrschaft, hat, wird nicht mehr gestellt.

Auch Pordeschs Beitrag zu „Informa-tisierung und neue Polizeistrategien“ ist zwar in der Beschreibung weit-gehend richtig – obwohl neuere Prob-leme wie der Einsatz von PCs in der Polizei nicht mehr diskutiert werden – , der Beitrag geht aber auf das Prob-lem des Bezugswandels polizeilicher Tätigkeit nicht ein. So spricht Pordesch weiterhin über Straftäter als dem eigentlichen Ziel der Daten-sammlung und -verarbeitung und läßt dabei außer acht, daß es doch gerade der Hintergedanke der technisch un-termauerten „vorbeugenden Verbre-chensbekämpfung“ ist, eindeutig Un-verdächtige in den Bereich der polizeilichen Maßnahmen einzubeziehen, Verdächte erst zu schöpfen etc. Akzeptiert man dieses Ziel der „vor-beugenden Verbrechensbekämpfung“ aber, so fallen die alten rechtlichen Begrenzungsmechanismen – Gefahr und Verdacht – und damit der Bezug auf Störer und Verdächtige weg. Be-seitigt werden dann auch die meisten Grenzen der Verhältnismäßigkeit, weil als Bezugsgröße nur noch das polizeiliche Ziel der „Vorbeugung“ existiert.

Richtig und wichtig ist der Hinweis, daß Datenvermeidung der beste Datenschutz ist. Die Vorschläge bleiben allerdings sehr zahm. Wer Datenvermeidung sagt, der muß auch sagen, welche Formen der Datenverarbeitung, der Techniknutzung er der Polizei wegnehmen will. (HB)

Stalker, John: Stalker, London (Harrap) 1988, 288 S.
John Stalker, stellvertretender Polizeipräsident von Manchester, wird 1984 beauftragt, eine Untersuchung zu leiten, die die Hintergründe um den Tod von sechs jungen mutmaßlichen IRA-Anhängern aufklären soll, die 1982 innerhalb von fünf Wochen von der Royal Ulster Constabulary (RUC) in Nordirland getötet worden sind. Stalker beginnt seine Nachforschungen innerhalb der RUC mit den Todesfällen von Burns, Toman und McKerr in Lurgan.

Nach den offiziellen Polizeiberichten wollten zwei uniformierte Polizeibeamte bei einer Routinekontrolle ein Auto anhalten. Der Fahrer ignoriert die Anweisung und flüchtet mit hoher Geschwindigkeit. Das Fluchtfahrzeug wird daraufhin von einem Streifenwagen verfolgt. Die Flüchtigen schießen, die Beamten erwidern das Feuer. Hierbei werden alle drei Insassen des flüchtigen Wagens getötet.

Nach den ersten Untersuchungen von Stalker ergibt sich hingegen ein anderer Ablauf. Die verdächtigen Männer wurden entgegen der Polizeiversion bereits seit Stunden observiert und sollten festgenommen werden. Von der Polizei wurde nicht der Versuch unternommen, das Auto anzuhalten. Statt dessen zersiebten die Beamten das Auto und seine Insassen regelrecht in einem Hagel von 108 Kugeln aus einer Maschinenpistole. Keiner der getöteten Männer hatte eine Waffe.

Das von der RUC aufgebaute Lügengebäude wird von Stalker und seiner Untersuchungsgruppe Stück für Stück zerlegt. Er beschreibt ausführlich den Fortgang der Untersuchungen und seine Schwierigkeiten, Unterstützung innerhalb der RUC zu finden. Diese Schwierigkeiten potenzieren sich noch durch die Verbindungen der RUC zum britischen Geheimdienst MI5. Am 28.5.1986 wird Stalker von seinem Untersuchungsauftrag entbunden und aus dem Polizeidienst wegen angeblicher Kontakte zur Unterwelt von Manchester entlassen. Obwohl er am 22.8.1986 vollständig rehabilitiert wird, verläßt Stalker am 13. März 1987 endgültig die Polizei.
Es ist ein beklemmendes und zugleich lesenswertes Buch – insbesondere unter den Aspekten der Abschottung der RUC gegenüber der rechtlichen und politischen Kontrolle sowie der Verselbständigung polizeilicher Strategien angesichts der manifesten Bedrohung durch die IRA. (MW)

Ferstl, Lothar; Hetzel, Harald: „Für mich ist das Alltag“- Innenansichten der Polizei, Bonn 1989, 190 S.
Such, Manfred: Bürger statt Bullen. Eine Streitschrift für eine andere Polizei, Essen 1988, 176 S.
Held, Annegret: Meine Nachtgedanken. Tagebuch einer Polizistin, Frankfurt 1988, 166 S.
Mein Bruder sagt, Du bist ein Bulle, Reinbek b. Hamburg 1990, 139 S.

Daß in der Bundesrepublik Polizisten ihren beruflichen Alltag beschreiben und ihren Frust zu Papier bringen, ist recht selten. Umso erfreulicher ist es, daß in jüngster Zeit vier Bücher dieses Genres auf den Markt gekommen sind.
Ferstl und Hetzels Buch beginnt mit einer knappen, wenig kennntnisreichen Einleitung über die geschichtliche Entwicklung der Polizei und ihrer rechtlichen Aufgaben und Befugnisse. Es folgen 30 Protokolle von Polizisten und Polizistinnen unterschiedlichster politischer Positionen. Sie berichten von ihren Erlebnissen, Ängsten und Aggressionen; sie erzählen, warum sie zur Polizei gegangen sind, weshalb sie am Bauzaun in Wackersdorf stehen müssen, wie sie die Polizistenmorde erlebt haben und vieles mehr. Diese Sammlung gibt zwar keinen systematischen Einblick in die Arbeitswelt von Polizisten, bleibt aber gleichwohl lesenswert, u.a. deshalb, weil sich zeigt, wie unterschiedliche politische Einstellungen „das Leben“ in der Polizei erschweren, aber auch erleichtern können.

Manfred Such, Kriminalkommissar in NRW, der nach disziplinarischen Maßnahmen infolge seiner öffentlicher Kritik an Polizeipraktiken als Abgeordneter der GRÜNEN in den Bundestag „flüchtete“, erhebt mit seiner Streitschrift nicht den „Anspruch einer wissenschaftlichen Untersuchung; es handelt sich vielmehr um die Erfahrungen eines Polizeipraktikers“, der sich an die interessierte Öffentlichkeit und insbesondere an die Berufskollegen wenden will. Vor dem Hintergrund einer nahezu 20jährigen Tätigkeit in der Polizei behandelt Such die Themen Ausbildung, kriminalpolizeilicher Alltag, Feindbilder, Kontrolle der Polizei, Alternativen – Die neue Polizei. Hier fordert er eine Kennzeichnung von Polizeibeamten, die Rücknahme der „Bürgerkriegsausrüstung“ (CS/CN-Gas, Hochdruckwasserwerfer, Gasbomben), neue Schwerpunkte für die polizeiliche Arbeit (organisierte Kriminalität). Besonders interessant ist die Überlegung, die Aufgabenbereiche der Polizei (und damit Organisation, Ausrüstung etc.) konsequent nach funktionalen Gesichtspunkten zu trennen. So sei z.B. nicht nachzuvollziehen, „daß ein Verkehrspolizist genauso ausgerüstet, ausgebildet und bewaffnet sein muß wie der Schutzpolizist, der sich … mit der Kriminalitätsbekämpfung befaßt.

Strategischer Ansatzpunkt seiner Argumentation für eine „andere Polizei“ ist die Veränderung der polizeilichen Ausbildung. Den sonstigen kritischen Intentionen Suchs entgegen werden damit hinterrücks die bisherigen Probleme mit der Polizei zum Problemen der einzelnen Polizisten. Der Apparat und seine Handlungszwänge in ihrer verhaltensprägenden Kraft – gleichgültig, wie zuvor die Ausbildung war – geraten damit strategisch aus dem Blick. Eine Ausbildungsreform jedoch, die nicht gleichzeitig und gleichläufig begleitet wird von einer Reform der Bürokratie, für die ausgebildet wird, muß unter dem Gesichtspunkt der Reform des Apparates nahezu wirkungslos bleiben.

Annegret Held verarbeitet in beiden Büchern Erfahrungen eines sechsjährigen Schichtdienst bei der Schutzpolizei. Sie erzählt von ihren körperlichen Anstrengungen, von ihrem Arbeitsalltag in einer männerdominierten Organisation, von ihren Konflikten mit Kollegen und Bürgern, von ihren teilweise frustierenden Erlebnissen mit dem „polizeilichen Gegenüber“. Es sind zwei Bücher, die sich auch als Bettlektüre eignen. (MW)

Interessante „graue“ Literatur

Der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein: Zur Lage der Polizei in Schleswig-Holstein, Kiel (Düsternbroker Weg 82) Juni 1990 Eine materialreiche Antwort auf eine Große Landtags-Anfrage der CDU.

Ständige Konferenz der Innenminister und -Senatoren: Organisierte Kriminalität in Europa. Internationale Expertentagung der IMK an der Polizei-Führungsakademie Münster am 15.3.1990, Stuttgart (Dorotheenstr. 6, 7000 Stuttgart 1), Juni 1990
Referate der Teilnehmer u.a. aus der BRD, Italien, USA, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz. Die Broschüre ist zu sehen im Zusammenhang der Diskussion um Schengen und um die Verrechtlichung der verdeckten Ermittlungen in den Polizeigesetzen und der StPO hierzulande.

Landtag NRW, Bericht des III. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, Drucksache 10/ 5291, Auszüge in: Die Streife, 7-8/ 1990, S. 9-16
Bericht zum Gladbecker Geiseldrama

Interessantes aus Zeitschriften

Wilhelms, Uwe: Kripo-International 1990. Drogenbekämpfung 1990 – Aktion statt Reaktion, in: Der Kriminalist, 7-8/ 1990, S. 298-309
Bericht über die jährliche internationale Tagung des BDK mit knappen Zusammenfassungen der Referate von Teilnehmern aus der BRD, der Türkei, Spanien, Italien, der Sowjetunion und den Niederlanden.

Matznick, Holger: Der Rat der Europäischen Polizeigewerkschaften, in: Der Kriminalist, 7-8/ 1990, S. 312-314
Der CESP, der Rat der Europäischen Polizeigewerkschaften, dessen deutsches Mitglied der BDK ist, ist eine 1988 gegründete Vereinigung der Po-lizeigewerkschaften und Ständeverbände im kriminalpolizeilichen Bereich – im Unterschied zur UISP, der die GdP angeschlossen ist.

Schnarr, Karl-Heinz: Der Zeugenschutz im Strafprozeßrecht. Möglichkeiten und Reformerfordernisse, in: Kriminalistik, 6/ 1990, S. 293-296
Der Autor ist Oberstaatsanwalt am BGH. Er erörtert die Möglichkeiten der Geheimhaltung von Zeugendaten in erster Linie gegenüber dem Angeklagten und seinem Verteidiger. Dargestellt werden die derzeitige Rechtslage sowie Reformvorschläge.

Füllkrug, Michael: Telefonüberwachung als kriminalistische Erkenntnisquelle, in: Kriminalistik 7/ 1990, S. 349-356
Erörtert werden u.a. die Möglichkeiten zur Verwertung von „Zufallsfunden“ bei Telefonüberwachungen nach 100 a der StPO. Dabei geht es insbesondere um die Möglichkeiten, die der 129 StGB (Kriminelle Vereinigung) eröffnet.

Reuter, Michael: Arbeiten an HEPOLAS begonnen, in: Hessische Polizeirundschau, 6/ 1990, S. 17-20
Das Konzept von HEPOLAS (Hessisches Polizeiliches Arbeitsplatz-System) wird dargestellt. Ziele des Systems sind u.a die Umstellung der Vorgangsverwaltung (Anzeigenaufnahme) von Papier auf Computer, die de-zentrale Auskunft und Recherche, die Möglichkeit, Nachrichten direkt vom Bildschirmarbeitsplatz abzusetzen.

Zechlin, Lothar: Polizeigesetzentwurf in Hamburg, in: Demokratie und Recht 2/1990, S. 129-135
Eine Analyse von Geschichte und Inhalt des vom sozialliberalen Hamburger Senat im Januar d.J. an die Bürgerschaft weitergeleiteten Polizeigesetzentwurfs (BüDrs. 13/ 5422)

Mahr, Manfred: Der Feind des Polizisten heißt „Chaot“ und trägt eine Haßkappe. Plädoyer für eine Ausbildung zum „Freund und Helfer“, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 144, 25.6. 1990, Dokumentationsseite
Der Sprecher der Kritischen PolizistInnen zeigt die Ausbildung von Feindbildern bei der Polizei und plädiert für Formen der Konfliktbewältigung, die nicht nur instrumentell beim „Anti-Streß-Training“ ansetzen, sondern den PolizistInnen verstärkt die bürgerrechtliche Dimension von gesellschaftlichen Konflikten vermittelt.

Brendel, Robert: Die polizeilichen Informationssysteme – ein Überblick im Extrakt, in: Die Polizei 4/ 1990, S. 73-75
Kurze und informative Beschreibung des INPOL-Systems in seinem derzeitigen Stand, insbesondere im Verhältnis zu den Landessystemen.

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