von Gabriele Klocke & Studiengruppe
Regensburg ist seit Juni 2000 Schauplatz eines Pilotprojekts. Sieben Plätze in der Innenstadt werden von der Polizei videoüberwacht. Eine PassantInnen-Befragung im Rahmen eines Studienprojekts brachte nun erstaunliche Ergebnisse: Die Interviewten wissen zwar kaum etwas über Standorte und polizeiliche Nutzungsweise der Kameras, sprechen sich aber trotzdem in großer Mehrheit für die Überwachung aus.
Auf sieben Plätzen der Regensburger Innenstadt findet sich seit dem 1. Juni letzten Jahres ein Schild mit der Aufschrift: „Sehr geehrte Bürger/-innen! Dieser Platz wird von der Polizei zu Ihrer Sicherheit mit einer Videokamera überwacht.“ Die zum Pilotprojekt gehörenden neun Kameras stehen da schon lange. Sie sind Teil des Überwachungssystems, das die Regensburger Verkehrsbetriebe (RVB) seit den 70er Jahren zur Beobachtung des Verkehrsaufkommens nutzen, und gehören diesen, wie ein RVB-Mitarbeiter am Telefon klarstellte, auch weiterhin. Die Polizei darf sie nur kostenlos mitbenutzen.
Die nun zu polizeilichen Kontrollzwecken umfunktionierten Kameras sind beweglich und verfügen über eine Zoom-Funktion. Ihre Bilder werden in die Einsatzzentrale der Regensburger Polizei übertragen, in der auf zwei Monitoren das Straßengeschehen standortbezogen ausgewählt und bei Bedarf aufgenommen werden kann. Die Überwachung der Monitore wird von den ein bis zwei im Funkdienst tätigen BeamtInnen miterledigt, zusätzliches Personal wurde nicht eingestellt. Die Polizeidirektion Regensburg begründet dies damit, dass „die Überwachung … nicht ständig, sondern sowohl örtlich als auch zeitlich schwerpunktmäßig erfolgen (soll). Die von den Kameras erfassten Geschehensabläufe werden grundsätzlich nicht aufgezeichnet … Erst zur Beweisfeststellung von Straftaten wird die Zoomfunktion der elektronischen Augen genutzt und zugleich die Aufzeichnung gestartet.“[1]
Dauern sollte der Versuch zunächst nur ein Jahr. Am 10. Juli änderte der bayerische Landtag jedoch das Polizeiaufgabengesetz und legalisierte die Videoüberwachung samt Aufzeichnung der gewonnenen Daten. Aus der versuchsweisen wurde damit eine definitive Überwachung.
Kriminologische Sinnkategorien
Studien über die Nutzung von Videokameras zu Zwecken der Kriminalitätskontrolle sind in Deutschland (noch) selten. Die Aufstellung von Videokameras zu Zwecken der Kriminalitätskontrolle wird in der Regel unter Verweis auf Opfer- oder Täterbefragungen legitimiert. Daneben versucht man zu ermitteln, wie sich die Überwachung auf die lokale Kriminalitätsbelastung auswirkt oder welchen Nutzen sie für die Strafverfolgung hat. Derartige Forschungsgegenstände lassen sich als „kriminologische Sinnkategorien“ bezeichnen, die man jeweils mit Begriffen wie Kriminalitätsfurcht, Prävention und Repression betiteln kann. Als vierte Sinnkategorie kann man die Bürgerrechte ansehen, die bislang jedoch nur mit theoretischen Überlegungen gefüllt wurde.
Auch der hier vorgestellten Fragebogenstudie ging eine qualitative Explorationsstudie zum Thema „Kriminalitätsfurcht und Tatgelegenheitsstrukturen“ voraus. Hundert Regensburger BürgerInnen konnten sich u.a. zu den Themen „Kontrollpräsenz“ und „Kriminalitätsfurcht“ frei äußern.[2] Erstaunlicherweise nahmen dabei nur gerade zehn der Befragten aus eigener Initiative auf die Videoüberwachung Bezug – und das, obwohl das Pilotprojekt erst einige Monate zuvor angelaufen war. Warum finden die BürgerInnen einer videoüberwachten Stadt diese Tatsache, die doch in bundesdeutschen Städten noch immer eine Ausnahmeerscheinung darstellt, nicht erwähnenswert? Ist es bei kriminologischen Studien zu diesem Thema überhaupt sinnvoll, den Befragten von Beginn an kriminologische Sinnkategorien vorzugeben, ihnen also etwa Kriminalitätsfurcht zu unterstellen, um sie hernach abzufragen?
Ergebnisse der Befragung
In der Fragebogenstudie wurde auf die Vorgabe solcher Kategorien bewusst verzichtet. Die Befragten sollten vielmehr eigeninitiativ Sinnkategorien zum Thema Kameraüberwachung produzieren. Sechs InterviewerInnen wählten nach dem Zufallsprinzip in der Innenstadt ortsansässige PassantInnen aus, die um Auskunft über ihr Wissen, ihre Alltagstheorien sowie ihre Meinungen zur polizeilichen Videoüberwachung gebeten wurden. Die Befragung erfolgte mittels eines standardisierten Fragebogens. 120 PassantInnen im Alter zwischen 19 und 85 Jahren nahmen daran teil.
Die Befragung gestaltete sich für die Befragten oft als peinlich, da sie deren Unwissen offen legte. Die InterviewerInnen mussten die Teilnehmenden während der Befragung immer wieder zum Nachdenken anregen, um überhaupt Antworten zu erhalten. KeinE BefragungsteilnehmerIn erwähnte die kamerabegleitende Beschilderung. Die Befragten erinnerten sich im Schnitt an 1,2 von 7 Kamerastandorten. Sie verfügten durchschnittlich über 0,5 von etwa mindestens 5 möglichen Wissenselementen über die Art der Kameranutzung.
Jeder Befragte bediente sich eigeninitiativ etwa einer Sinnkategorie, die sich letztlich einer kriminologischen Sinnkategorie zuordnen ließ. Mehrfachnennungen waren möglich: Prävention: 61,7%; Bürgerrechte: 40,8%; Kriminalitätsfurcht: 29,2%; Repression: 24,2%. Etwa ein Viertel der Befragten argumentierte jenseits dieser Sinnkategorien. Für eine Kameraüberwachung sprachen sich 53,3%, dagegen 35% aus. 11,7% äußerten sich unentschieden.
Die Befragten wurden explizit dazu aufgefordert, ausschließlich polizeiliche Kamerastandorte zu nennen. Dennoch wurden in vielen Fällen Kameras genannt, die ausschließlich von den RVB genutzt werden und keine polizeiliche Kontrollfunktion haben. Über ein Drittel der Befragten wähnt sich auf bestimmten Plätzen irrtümlicherweise im Sicherheits- bzw. Überwachungswinkel einer Kamera. Auch „verschärfen“ die Befragten in ihrer Vorstellung das Ausmaß der Kameranutzung: 19 Befragte meinen, es erfolge eine ständige Aufzeichnung des Straßengeschehens. Neun sind der Überzeugung, jeder Standort werde rund um die Uhr überwacht. Das korrekte Wissen über Kamerastandorte war in den meisten Fällen auf bestimmte Kamerastandorte bezogen, die aus den Medien einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben.
„Wer sich nichts vorzuwerfen hat, …“
Aus einer freiheits- und bürgerrechtlichen Perspektive stellt die Aufstellung von Überwachungskameras eine Ausnahme dar. Ausnahmen bedürfen der Rechtfertigung. 53% der Befragten befürworten die Ausnahme. Also sollte man von ihnen eine inhaltliche Stellungnahme ihrer Position erwarten dürfen. Unsere Daten besagen jedoch, dass die Regensburger BürgerInnen sehr wenig über die Kameras nachdenken: Sie befürworten Kameras, weil sie Kameras befürworten.
Die Regensburger Polizei rechtfertigt ihre Videoüberwachung auf der Hinweisbeschilderung mit der Begründung, den Passanten werde zu mehr „Sicherheit“ verholfen. Dies ist eine Argumentation innerhalb der Sinnkategorie Kriminalitätsfurcht. Die Kategorie Kriminalitätsfurcht wurde jedoch nur von 29,2% aller Befragten angesprochen, wobei ein Drittel dieser Nennungen die Aussage enthielt, sich trotz der Kameraüberwachung nicht sicherer zu fühlen.
Die Kameraaufstellung wird insbesondere mit dem Verweis auf die Kriminalitätsfurcht von Frauen legitimiert. Dabei ist durchaus denkbar, dass auch Männer nachts Angst vor Belästigung haben. Dennoch äußerten Männer, es sei „besser für die Mädels“. Laut unseren Ergebnissen argumentieren die Geschlechter insgesamt jedoch gleichermaßen wenig innerhalb der Sinnkategorie Kriminalitätsfurcht und wissen auch gleichermaßen wenig über die Kamerawirklichkeit.
In den Antwortmustern der Befragten finden sich zwei Hinweise darauf, dass der Gesellschaft mit der Videoüberwachung ein weiteres Instrument zum sozialen Ausschluss an die Hand gegeben wird. „Wer sich nichts vorzuwerfen hat, braucht auch nichts befürchten“, meinen (sinngemäß) elf von 120 Befragten. Die Sprecher zählen sich hier zu den Inkludierten, die glauben, sich als unbescholtene Bürger nichts vorwerfen zu müssen. Der Anblick der Kameras hält das Dasein von Ausgeschlossenen – jenen, die etwas zu befürchten haben – im Bewusstsein aufrecht. Die Kamera besitzt Symbolwert: Sie steht für einen allgegenwärtigen Beobachter, welcher die ihm zu Füßen spazierenden Menschen nach dem Kriterium strafrechtlichen Fehl- oder Wohlverhaltens ordnet.
Mit einer Kamera kann man sich nicht über das Wetter oder das Leben unterhalten, wie es im persönlichen Umgang mit StreifenbeamtInnen auch möglich ist. Der Umgang mit der Kamera ist reduziert auf das Entweder-Oder von „Exklusion und Inklusion“. Die vermeintlich Unbescholtenen möchte man dann jedoch daran erinnern, dass „zumindest im öffentlichen Raum … schnell auch die Untugenden der Ordentlichen ins Visier geraten [können], etwa ihre Spaziergänge mit nicht angeleintem Hund oder dessen Notdurft oder ihre eigenen Rauchgewohnheiten oder Autowaschen, Verbrennen von Gartenabfällen, Füttern von Tauben, u.a.“[3]
Um das Bürgerrechtsempfinden ist es bei den Befragten schlecht bestellt. Viele äußern sich zum Thema Bürgerrechte, indem sie diese lediglich als eine Hintergrundfolie aufspannen, vor der sie ihr Vertrauen in den Staat darstellen. Die Aussage lautet dann in etwa wie folgt: „Ich weiß, dass sich da manche beobachtet und überwacht fühlen. Aber ich bin trotzdem für die Kameras.“ Das Anliegen, vor dem Staat und seinen Eingriffen geschützt zu werden, tritt in den Erwartungshaltungen der Befragten gegenüber einem Schutz durch den Staat in den Hintergrund.
Warum sind die RegensburgerInnen in Fragen der Kameraaufstellung derart duldsam, ja fast naiv gutgläubig? Der Grund hierfür dürfte nicht bei den Betroffenen zu suchen sein, sondern bei den Bedingungen, unter denen die Kameras eingeführt wurden. Diese hatte die RVB bereits in den 70er Jahren in der Stadt aus rein verkehrsbetrieblichen Gründen installiert. Aus der Perspektive der PassantInnen hat sich also im Stadtbild nichts geändert. Der Wechsel der KontrolleurInnen an den Monitoren erfolgte im vergangenen Jahr jenseits des Wahrnehmungsbereiches der Passanten. Eine Einführung von polizeilichen Überwachungskameras ohne entsprechende Neuinstallationen mindert wohl die Aufmerksamkeit gegenüber dem Phänomen der Videoüberwachung. Die Bürger sehen keinen Anlass, sich zu wehren, denn das Austauschen von Angestellten der Verkehrsbetriebe gegen PolizeibeamtInnen ist unspektakulär – die bürgerrechtliche Bedeutung dieses Wechsels wird nur denen klar, die ihre Bürger- und Schutzrechte kennen und bewusst wahrnehmen. Die polizeiliche Kameraüberwachung wurde wahrnehmungspsychologisch durch das Hintertürchen des Nichtwissens eingeführt.
Fazit
Die kamerabefürwortenden Instanzen können sich oberflächlich betrachtet auf die Stimmung in der Bevölkerung berufen. Trotzdem bleibt das Verfahren illegitim, da es der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger an ausreichender Sensibilität zum Gesamtthema mangelt. Es stellt sich die Frage, ob ein Staat, der sich als demokratischer Rechtsstaat versteht, nicht verpflichtet wäre, das Unwissen über die Kamerawirklichkeit als Anzeichen für bürgerrechtliche Unmotiviertheit und mangelnde Freiheitssensibilität anzusehen.
Leider gibt es keine bürgerrechtsbezogenen Zahlenkolonnen, die genauso medienwirksam ins Feld geführt werden könnten wie die immer wieder gern zitierte Polizeiliche Kriminalstatistik. Straftäter kann man filmen, abzählen und anfassen, Bürgerrechte nicht. Darum bleibt die Argumentation um letztere abstrakt und auf Intuition angewiesen. In einer Gesellschaft, in der die Technisierung der Überwachung Freiheit bedeuten soll und die Polizeiliche Kriminalstatistik allen Ausgeschlossenen ein numerisches Zuhause bietet, bleibt für Bürgerrechtsempfinden kein Platz. Hauptsache, es ist alles so einfach, wie es sich einer unserer Befragten vorstellt: „Wenn einer eine Straftat begeht, wird er geblitzt.“