Die arme Verfassung – Verfassungsschutz, V-Leute und NPD-Verbot

Seit Mitte Januar wird über sie geredet: Zuerst war’s einer. Dann wurden es zwei, drei, schließlich fünf. Gemeint sind die V-Leute, die angeblich strikt im Sinne der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes die NPD ausspähten. Dazu waren und sind diese in der Wolle gefärbten NPD-Schafe trefflich geeignet.

In der Zwischenzeit weiß man eines ganz genau: dass nämlich niemand die Zahl der doppelten Lottchen, der gleichzeitigen V- und NPD-Leutchen ganz genau kennt. Und niemand scheint mehr genau zu wissen, worin nun der Skandal besteht. Darin, dass V-Leute als ‚gestandene‘ NPD-Leute „enttarnt“ wurden; darin, dass dem Verfassungsgericht diese ‚beiläufige‘ Information nicht weitergeben wurde; darin, dass selbst der zuständige Innenminister keine Ahnung hatte; darin, dass V-Leute im amtlichen Verfassungsschutz eine solche Rolle spielen; darin, dass NPD und Verfassungsschutz V-Leute-kräftig zusammenarbeiten; darin, dass ein solcher in seinen V-Leuten und nationaldemokratischen Verflechtungen unübersichtlicher „Verfassungsschutz“ die Verfassung als demokratisch grundrechtliche nicht schützen kann; oder darin – das ist die größte Sorge der BefürworterInnen und BetreiberInnen des NPD-Ver­botsantrags –, dass das Verbot der NPD durch diese Affäre gefährdet werden könnte?

Fragen über Fragen. Sie hätten alle schon zuvor gestellt werden müssen und können, bevor der erste V-Mann dieser Serie – man muss sich den Ausdruck auf der Zunge zergehen lassen –, bevor also der Vertrauens-Mann Wolfgang Frenz in seiner Mehrfach-Identität erkannt worden ist und kollegialerweise noch weitere Enttarnungen nachzog. Bis dann niemand mehr wusste, woran er war, und das Verfassungsgericht das Verbotsverfahren einstweilen aussetzte. Dabei hatte alles so schön mit vom Bundesverfassungsgericht trefflich ausgewählten Zeugen und Experten begonnen.

Apropos Bundesverfassungsgericht: Dieses spielt im Skandälchen, das um die V-Leute kreist – oder, wie man über zwei Monate nach der Skandalisierung in der Presse schon sagen muss, gekreist hat –, nur die Rolle einer missbrauchten Institution. Zu Unrecht. Dass das Gericht just die Kollegen Uwe Backes und Eckhard Jesse als Sachverständige für „Rechtsextremismus“ oder, wie es nun abmildernd heißt, als „Sachkundige“ bestellt hat, lässt seine eigene Kompetenz in reichlich trübem Licht erscheinen. Backes und Jesse, Herausgeber des Jahrbuches „Extremismus und Demokratie“, gerieren sich nicht nur seit Jahren als wissenschaftliche Verfassungsschützer, sie sind auch stets treu den verfassungsschützerisch ausgegebenen Feindbildern gefolgt. Kein Wunder also, dass sie als gute Kalte Krieger noch 1990 der Meinung waren, der Extremismus von rechts werde „vielfach hoch-, der von links hingegen heruntergespielt.“[1] Verlassen wir diesen Nebenschauplatz.

Im folgenden Überblick über das Skandälchen soll es um dreierlei gehen: um die nicht ermittelbare Zahl der V-Leute, die ‚amtlichen‘ Reaktionen und die nötigen weiteren, indes von (fast) niemandem gezogenen Konsequenzen.

Apropos V-Leute und NPD

Mit dem Verbotsverfahren gegen die NPD fängt alles an. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat haben mit überragender Mehrheit beim Bundesverfassungsgericht beantragt, die NPD gemäss Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes zu verbieten. Um den Antrag zu begründen, griff man auf das Wissen jener Bundes- und Landesbehörden zurück, die man u.a. für solcherart potenziell nötige Verbote vor über 50 Jahren in der Alt-Bundesrepublik eingerichtet hat: die sogenannten und aufwendig gesammelten Erkenntnisse des Bundesamts und der Landesämter für Verfassungsschutz. Über die in der Verbotsbegründung enthaltenen „Erkenntnisse“ hinaus wurden dem Verfassungsgericht vierzehn „Auskunftspersonen“ genannt, die die Verfassungswidrigkeit in persona beweisen sollten. Soweit, so verbotsförderlich.

Ende Januar 2002 drückte einen Beamten des Innenministeriums das zu einem ordentlichen Verfahren gehörige Gewissen. Er eröffnete dem Gericht, dass eine der vierzehn „Auskunftspersonen“ eine Doppelrolle spielen müsse, er sei NPD-Mitglied und zugleich V-Mann des Verfassungsschutzes. Die Rede war von Wolfgang Frenz. Das Bundesverfassungsgericht hat daraufhin den im Februar anstehenden Termin mündlicher Verhandlung abgesagt und das Verfahren einstweilen suspendiert.

Die Doppelrolle des Wolfgang Frenz, die dem Gericht zuvor nicht signalisiert worden war, brachte die hektische Suche nach weiteren in den Zeugenstand erhobenen Doppelkünstlern in Gang. Das eingangs genannte Zuwachsspiel begann. Otto Schily, Bundesminister des Innern, so hieß es am 5. Februar, „weiß von drei V-Leuten“.[2] Wenig später waren’s deren fünf. Die Frankfurter Rundschau titelte am 16. Februar durchaus nicht ironisch: „Schily erbost über neue V-Leute. Späte Angaben der Länder für NPD-Verbot ärgern Minister.“ Von insgesamt 100 Leuten des Verfassungsschutzes, die die NPD auslugten, war bald die Rede. Einer, der die Zahlen kennen müsste, der frühere Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz und zeitweilige Innensenator des Landes Berlin, Eckart Werthebach, sagte dazu: „Niemand kann diese Zahl im Moment präzise schätzen, weil dann alle Landesämter für Verfassungsschutz ihre Informationen über geführte V-Leute auf den Tisch legen müssten. Richtig ist aber, dass die NPD als jahrelang verfassungsfeindliche Partei sehr intensiv beobachtet worden ist von allen Verfassungsschutzbehörden. Deshalb ist die Zahl der V-Leute hoch.“[3]

Das Skandälchen wurde rasch handsam gestutzt, alle Problemsprossen wurden beschnitten. Zuerst bekam der Beamte, der seine Information an das Gericht nicht über ‚seinen‘ Minister geleitet hat, sein ‚Fett‘ weg; was mit ihm seither im Rahmen des Ministeriums geschehen ist, wissen wir nicht. Dann wurde der Fall Wolfgang Frenz in der Presse ausführlich vorgestellt. Wolfgang Frenz, seit 1995 nicht mehr für den Verfassungsschutz tätig, hatte seine Doppelrolle insgesamt 36 Jahre gespielt. Er hat es hierbei nicht nur zum hohen NPD-Funktionär gebracht; er hat sich vielmehr bis in jüngste Zeit rabiat national-„demokratisch“ – das heißt zugleich rabiat antisemitisch – geäußert und war „seit langem als Hardcore-Nazi bekannt.“[4] Die drei Verfassungsgewalten Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag, die die NPD anklagten, fanden diesen Umstand indes harmlos. In ihrer gemeinsamen Stellungnahme zum V-Mann-Problem, die sie Mitte Februar dem Gericht zuleiteten, unterstrich die bundesdeutsche Verfassungsgewalt-Triade, dass zwischen den V-Mann-Eigenschaften und den Aussagen oder Hand­lungen von V-Leuten in ihrer Eigenschaft als Rechtsextremisten und NPD-Mitgliedern strikt zu unterscheiden sei – analog einer perfekten Rollentrennung im Theater.[5] Schließlich wurde die „Panne“ Frenz & Co. zu einem bloßen Verfahrensmangel und dem Gericht gegenüber verharmlost. Und verfassungswirklich besehen, scheint dies auch der Fall zu sein. So man denn angesichts der Abstimmung der Verfassungsschutzämter untereinander, des sogenannten Quellenschutzes etc. überhaupt dazu in der Lage wäre (s. oben das Werthebach-Zitat), hätte man dem Gericht rechtzeitig und erschöpfend signalisieren müssen, welche kunst- und also verbotsantragsgerechten Doppelrollenspieler es zu erwarten habe, damit es seinerseits entsprechend rollentrennerisch vorgehen und die Informationen exakt auseinander halten könne. An Künsten der Interpretation sollte es, so scheint es, keiner der drei Gewalten und ihrer diversen Ämter fehlen.

Das Verbotsverfahren

Das Verbotsverfahren stagniert. Es wird jedoch, so der Schein nicht trügt, nach den Wahlen „unpolitisch“, sprich: im Konsens der ‚verfassungsgemäßen‘ Parteien, und dann ohne Irritationen durch den bis dahin längst vergessen gemachten Skandal in Karlsruhe seinen verfassungsgerichtlichen Gang nehmen.

In der oben zitierten „Gemeinsamen Stellungnahme“ haben die Verbotskläger ihre Argumente wiederholt. Neue Aspekte sind nicht hinzugekommen. Auch außerhalb der klagenden Verfassungsorgane und ihrer Repräsentanten kam fast niemand darauf, ob an der Klage gegen die NPD etwas falsch sein könne, wenn man für ein Verbot der Partei V-Leute benutzen müsse – jene geradezu der „Natur der Sache“ nach zweifelhaften Ehrenleute. Der Einsatz der Verbotswaffe ist im Grundgesetz mit guten Gründen erschwert worden. Muss diese Waffe in der Tat erprobt werden, wenn man die Gefahr, die die NPD politisch öffentlich darstellt, durch spionageartige Techniken und V-Leute herausfinden muss – durch Techniken also, die selbst verfassungspolitisch, sprich demokratisch-grundrechtlich auf krummen Beinen gehen? Besteht der Missbrauch, den Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat mit dem Verfassungsgericht durch ihre Verbotsklage betreiben, nicht primär darin, dass sie als exekutive und legislative Gewalten die judikative Gewalt unnötig einem – demokratisch-grundrechtlich gesehen – falschen Druck aussetzen?

Ausgelassen wurde in den Januar- und Februardiskussionen rund um die V-Leute und ihrer politische „Würde“ als Zeugen auch die Frage nach der Institution der Verfassungsschutzämter selber und deren Funktionen. Diese Frage hätte vor aller grundsätzlichen Kritik schon bei zwei im Januar/Februar sichtbar werdenden Auffälligkeiten anzuheben: Wie können die Verfassungsschutzämter die Verfassung schützen, wenn schon die zuständigen Organe, in deren Rahmen sie tätig sind, die Innenministerien und ihre Spitzenrepräsentanten nämlich, nicht genau wissen, woran sie sind und was sie tun, wenn sie daran gehen, mit dem Verfassungsschutz die Verfassung zu schützen? Die Kontroverse um den Schwarzen Peter „V- und NPD-Mann in einem“ zwischen den Innenministern Schily, Beckstein und Schäuble ist dafür symptomatisch.

Das Kontrollproblem geht weiter: Auch die Ämter selber haben ihre Schwierigkeiten: Um ihre „Quelle“, V-Mann X (selten V-Frau Y) zu schützen, muss auch im jeweiligen Amt und vor allem zwischen den Ämtern ein großes Maß an „Vertrauensschutz“ den „Vertrauens“-Leuten gegenüber geübt werden. Es scheint, als müsse letztlich die Vertrauensperson in sich selbst, in ihrer dritten Identität, ausmachen, ob ihr Doppelrollenspiel so ausgeübt wird, dass die Rolle als verfassungsschützende Vertrauensperson diejenige der an potentiell verfassungsfeindlichen Aktivitäten mitwirkenden Person überwiegt oder dass doch beide „strikt“ von einander zu trennen sind.

Die parlamentarischen Kontrollkommissionen haben ohnehin immer das Nachsehen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als hinterher nachzuschauen, was jeweils aus der verfassungsschützerisch und vertrauensleutehaft gefüllten Pandora-Büchse herausfällt.

Schützen geheimdienstliche Ämter die Verfassung?

Das ist die Frage. Sie wurde in all dem V-Leute-Gewusel der letzten Monate nicht einmal gestellt (Ausnahmen bestätigen wie üblich die Regel). Selbst kompetente und kritische Beobachter wie der Verfassungsrechtler Erhard Denninger dringen zu ihnen nicht (mehr) vor. Als verstehe sich – nimmt man das Grundgesetz ernst – von selbst, dass es eines administrativen Verfassungsschutzes bedürfe. Und als verstünde es sich konsequenterweise außerdem von selbst, dass dieser Geheimdienst das nicht mehr kontrollierbare Instrument der V-Leute benötige.

Welch ein widersprüchlicher Ausdruck, ein orwellscher Euphemismus: Vertrauensleute. Letzteren ist, wie die im Januar dieses Jahres erzählte Fabel lehrt, aus einem doppelten Grunde nicht zu trauen. Damit sie in „Untergründe“ gelangen, zu denen selbst eine „normale“ geheimdienstlich tätige Person keinen Zugang hat, müssen sie möglichst aktive Mitglieder solcher Gruppen werden, die man „im Dunkeln“ nicht sieht. Selbst wenn diese Leute, erst um ausspionieren zu können, etwa NPD-Mitglieder werden und dort ihre Sporen durch besonderes stiefelgesporntes Verhalten erringen, steht die Chance, über kurz und vor allem über länger korrupt zu werden, sagen wir 10 zu 1. Das kennt man aus vielen Bereichen polizeilicher und geheimdienstlicher Tätigkeit. Der andere Grund, dass die Vertrauensleute gerade solche sind, denen man jedenfalls grundrechtlich nicht vertrauen kann, besteht darin, dass niemand sie in ihrem Verhalten und in dem, worüber sie informieren, zureichend kontrollieren kann (auch nicht, wenn man mehrere V-Leute in vollem Vertrauen gegeneinander hetzt).

Nun mag es Bereiche geben, wo man das Risiko der Spionage und der Gegenspionage eingehen muss. Das ist hier nicht mein Thema, obgleich meine empirisch vielfach bestätigten und demokratisch-politisch systematisch entwickelten Zweifel groß sind. Wozu braucht jedoch der Verfassungsschutz solche, wie es in einem anderem euphemistischen Deckwort heißt, „nachrichtendienstliche Mittel“?

Bevor ich die Antwort auf diese Frage nachfolgenden andeute, will ich nur auf den täuscherischen Fehlversuch hinweisen, V-Leute dadurch verfassungsgemäß salonfähig zu machen, dass man sie ‚besser‘ verrechtlicht. In diese Kerbe schlagen nicht wenige neuere Einlassungen von Roderich Reifenrath bis Arthur Kreutzer.[6] Wie solche erfahrenen Leute zu solchen verfehlten Reformvorstellungen einer zusätzlichen Verrechtlichung kommen, bleibt ein Rätsel. Man sollte ja nicht annehmen, sie jagten der Gesetzesillusion nach. Reifenrath und Kreutzer wissen sehr wohl, dass die meisten Bundesdeutschen kritisch verstummen, wenn behauptet wird, etwas sei „rechtsstaatlich“. Ebenso wenig mag man Naivität unterstellen. Wie kann jemand vernünftigerweise annehmen, der V-Leute-Einsatz, der der „Natur der Sache“ und der Personen nach gerade nicht genau und offen erfasst werden soll und kann, sei rechtlich zu vertäuen. Es sei denn, man verfahre wie bereits in einigen Landesverfassungsschutzgesetzen und arbeite vor allem mit unbestimmten Rechtsbegriffen. Das aber bedeutet: Indem man den Anschein des gesetzlich Berechenbaren gibt, nimmt man gesetzesfaktisch alles bürgerlich Berechenbare, Rechtssichere und gerichtlich Überprüfbare hinweg. Das ist neuerdings die Eigenschaft allzu vieler Gesetze in Sachen „innere Sicherheit“. Sie legalisieren das exekutivische Opportunitätsprinzip.

Es ist schlicht unmöglich, den Nachweis zu erbringen, dass man in einer liberalen Demokratie, die diese Kennzeichnung verdient, eines administrativen Verfassungsschutzes bedürfe, der vor allem die eigenen Bürgerinnen und Bürger mit besagten „nachrichtendienstlichen Mitteln“ ausspäht, aushorcht, erfasst und Erfasstes als „Erkenntnisse“ im Rahmen der Exekutive weitergibt. Die bundesdeutsche Legitimationsformel mit falschem Verweis auf die Weimarer Republik, dass eine Demokratie „streitbar“ bzw. „abwehrbereit“ dem jakobinischen Motto „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“ folgen müsse, führt in die Irre. Sie schädigt den Grundrechtsschutz und damit den Kern der Demokratie. Läse man die Botschaft der missbrauchten V-Leute im Rahmen des NPD-Verbotsverfahrens verfassungsgemäß, es könnte nur eine Konsequenz gezogen werden: Der administrative Verfassungsschutz gefährdet die lebendige Verfassung selber. Er ist ersatzlos abzuschaffen.

Wolf-Dieter Narr lehrt Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Frankfurter Rundschau v. 7.2.2002
[2] Frankfurter Rundschau v. 5.2.2002
[3] Berliner Morgenpost v. 29.1.2002
[4] Frankfurter Rundschau v. 24.1.2002
[5] Auszüge aus der gemeinsamen Stellungsnahme von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung zum V-Mann-Problem, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.2.2002
[6] Frankfurter Rundschau v. 6.2.2002 und 16.3.2002