DDR-Kriminalstatistik – Immer mit Blick Richtung Westen

von Falco Werkentin

Wer zu DDR-Zeiten sich kundig machen wollte über kriminalstatistische Daten im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat, suchte nahezu vergeblich.

Zwar gab es in den statistischen Jahrbüchern der DDR seit den 50er Jahren zunächst eine Rubrik „Rechtsprechung“ und danach eine mit dem Titel „Kriminalität und Zivilprozesssachen“, die dann Mitte der 60er Jahre in „Rechtspflege“ umbenannt wurde. Doch blieben die Angaben so hoch aggregiert, dass ihr Aussagewert gegen Null ging. Veröffentlicht wurden fast ausschließlich Insgesamt-Angaben über festgestellte Straftaten und verurteilte Personen sowie Angaben zu wenigen ausgewählten Deliktgruppen aus den Bereichen der Gewalt-, Eigentums- und Sexualkriminalität und Verkehrsdelikte. Seit 1978 waren es immerhin 25 Deliktgruppen, zu denen Jahreszahlen vorgelegt wurden. Zeitweilig, in den Jahrbüchern 1973-1977, hatte man selbst die Veröffentlichung dieser aggregierten Daten eingestellt. Sonstige statistische Fachserien und Publikationen – vergleichbar etwa der Rechtspflege- oder der polizeilichen Kriminalstatistik der BRD – gab es nicht.

Angaben über die Zahl der in Haft einsitzenden Bürger wurden während der ganzen 40 Jahre DDR-Geschichte nicht publiziert – von Daten zur politischen Strafjustiz ganz zu schweigen. Die DDR-Öffentlichkeit erfuhr nicht, dass die Zahl der Strafgefangenen pro 100.000 Einwohner trotz weitaus niedrigerer „Kriminalitätsbelastungsziffern“ in den 50er Jahren bis zu fünfmal höher war als in der BRD. Nicht nur die Verfolgung politischer Gegner, sondern die insgesamt ungleich rigidere Strafpraxis der DDR sorgten auch in den 70er und 80er Jahren weiter für dramatisch hohe Haftquoten (vgl. Tab. 1).

Dass detaillierte Daten zur registrierten Kriminalität, zur politischen Justiz und zur Strafverfolgung insgesamt nicht veröffentlicht wurden, hieß keineswegs, dass es sie nicht gegeben hätte. Konzentriert zu finden sind sie in den Überlieferungen des Politbüros der SED, des Sekretariats des ZK und der ZK-Abteilung für Staats- und Rechtsfragen. Letztere kann als heimliches Justizministeriums der DDR angesehen werden. Seit den frühen 50er Jahren legten die Strafverfolgungsorgane der Parteiführung Jahresberichte zur Kriminalitätsentwicklung und Strafverfolgung vor, die unregelmäßig ergänzt wurden durch Spezialberichte zu einzelnen Bereichen. Denn selbstverständlich wollten die Mitglieder des Politbüros und insbesondere die beiden Generalsekretäre der SED – bis 1971 Walter Ulbricht, dann Erich Honecker – wissen, wie es in dem von ihnen gestalteten Staat und Gemeinwesen mit der Kriminalitätsentwicklung stand. Dabei galt ihr Interesse nicht nur dem Output der politischen Strafjustiz, einem Bereich der „Rechtspflege“, in dem beide SED-Chefs häufig als verdeckte Staatsanwälte und „Richter hinter dem Richter“ selbst die Entscheidung über Anklage und Urteil übernahmen.

Tab. 1: Strafgefangene pro 100.000 BewohnerInnen

Jahr 1970 1975 1980 1985
DDR 147,2 239,7 212,6 172,1
BRD 59,2 55,9 68,6 79,4

Das Thema Kriminalität war jedoch weit über den engeren Bereich politischer Verfahren hinaus hoch politisiert, galt doch Kriminalität als dem Sozialismus wesensfremd und jeder Eierdiebstahl als eine Beleidigung der großen Utopie. Und so gab es ab Oktober 1952 nach einem erziehungsdiktatorisch inspirierten „Gesetz zum Schutz des Volkseigentums“ für den Diebstahl von zwei Schrippen aus der volkseigenen Bäckerei, für den Mundraub einer Weinrebe oder für die Mitnahme eines Paars Pantoffeln aus der KONSUM-Verkaufsstelle als Mindeststrafe ein Jahr Zuchthaus. Ende April 1953 wurde indes umgesteuert, da in der kurzen Zeit seit dem Oktober des Vorjahres bereits knapp 10.000 Bürger auf Grundlage dieses Gesetzes in den Zuchthäusern gelandet waren. Die interne Statistik wies es aus. Man rechnete damit, bis Ende 1953 allein auf Grundlage des Volkseigentumsschutz-Gesetzes ca. 40.000 Häftlinge mehr in den aus allen Nähten platzenden Zuchthäusern einsitzen zu haben. Zudem waren es überwiegend Arbeiter, die man beim Diebstahl von Volkseigentum erwischt und in Haft genommen hatte. Und schließlich zählten Zuchthäuser zur Kategorie der „Mangelgüter“, nachdem sich als Folge des „Aufbaus des Sozialismus mit dem Staat als Hauptinstrument“, verkündet auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952, die Zahl der Häftlinge von ca. 37.000 im Juli 1952 auf ca. 67.000 im Mai 1953 fast verdoppelt hatte. Auf ein so drastisches Mittel wurde in der Folgezeit nicht mehr zurückgegriffen. Wie in der BRD, machten auch in der DDR bis zu deren Ende Eigentumsdelikte ca. 2/3 aller registrierten Kriminalität aus.

Wurde die Veröffentlichung und Interpretation von Zahlen zur Allgemeinkriminalität bereits zum Problem, da deren Entwicklung als Gradmesser der Entfaltung des sozialistischen Gesellschaftssystems in­terpretiert wurde, so hielt man Daten zur Entwicklung so genannter Staatsverbrechen als Sammelbegriff für die Verfolgung echter und vermeintlicher Feinde des politischen Systems erst recht geheim, so regelmäßig sich der Parteiapparat auch darüber informieren ließ. Während die Zahlenreihen zur Allgemeinkriminalität „on the long run“ ganz im Gegensatz zu denen der Bundesrepublik sanken und daher in den statistischen Jahrbüchern der DDR in den 50er und 60er Jahren genüsslich Zahlenreihen aus der DDR und der Bundesrepublik gegenübergestellt wurden, blieben Angaben zur Zahl verhafteter und verurteilter politischer Straftäter von Anfang bis Ende der DDR ein streng gehütetes Staatsgeheimnis. Dem Klassenfeind in der Bundesrepublik sollte kein Agitationsmaterial gegen die DDR an die Hand gegeben und der eigenen Bevölkerung nicht sichtbar gemacht werden, in welchem Maße sich Widerstand gegen die Politik der SED regte. Dies galt selbst für die 50er Jahre, in denen die SED eine Praxis des „bekennenden Terrors“ mit justiziellen Mitteln betrieb, riesige Schauprozesse auf Theaterbühnen, in Betriebskantinen und in Tanzsälen inszeniert wurden und in den DDR-Medien fast täglich Berichte über die Aburteilung von Saboteuren, Agenten und Spionen zu finden waren. Soweit ein offenes Bekenntnis zur politischen Justiz – doch letztlich nur bei als exemplarisch erachteten Verfahren, über deren öffentliche Inszenierung in vielen Fällen wiederum das Politbüro die Entscheidung bis in die Details traf.

Statistische Daten zur Entwicklung der Allgemeinkriminalität wurden bis zum Ende der DDR auch intern sehr naiv als plattes Abbild realer Kriminalitätstrends gelesen. Jene methodischen Zweifel am Status der polizeilich registrierten Delikte als Indikator für die „reale“ Kriminalitätsentwicklung, die in der Bundesrepublik seit den 70er Jahren zum „state of the art“ zumindest in Fachkreisen gehörten, fanden sich in der DDR nicht. Die interne Sichtweise auf die Entwicklung der Staatsverbrechen bewegte sich hingegen bereits in den 50er Jahren auf der Höhe methodischer Reflexion – wenn man denn den Parteijargon in den methodischen Jargon der westlichen Kriminologie übersetzt.

Dass es sich bei politischen Verbrechen um so genannte Kontrolldelikte handelt, mithin die Aktivitäten und Schwerpunktsetzungen der Untersuchungsorgane über die Zahl der registrierten Fälle entscheidet – dessen war man sich durchaus bewusst. Stieg die Zahl der wegen Hetze, Sabotage oder sonstiger Staatsverbrechen Verurteilter massiv an, so hieß es intern, „dass auch wir den Klassenkampf verschärft“ geführt hätten und dass es gegebenenfalls zu „Überspitzungen“ gekommen sei.[1]

Parteilinie: Von Liberalisierung zu „Überspitzung“

Was das bedeutete, zeigt sich deutlich in den Jahren 1961/62 – einer Phase, in der die Parteiführung kurz hintereinander radikale Kurswechsel bei der Verfolgung von Staatsverbrechen anordnet: Am 4. Oktober 1960 – nach dem Tod von Staatspräsident Wilhelm Pieck und der Bildung eines Staatsrates unter Vorsitz von Walter Ulbricht – hielt letzterer eine programmatische Rede, in der es u.a. hieß: „Zwischen unserem volksdemokratischen Staat und seiner Politik und den Interessen der Bürger gibt es keinen Widerspruch.“ Im Kampf des Neuen mit dem Alten, so der Staatsratsvorsitzende, sei die sozialistische Menschengemeinschaft geboren. Und mahnend fuhr er fort: „Nein, wer Menschen überzeugen will, muss den Weg zu ihnen finden, zu ihrem Verstand und zu ihrem Herzen.“ Die Justizfunktionäre, wie Richter und Staatsanwälte im DDR-Jargon bezeichnet wurden, bekamen Weisung, das politische Strafrecht äußerst milde anzuwenden. Sie hielten sich daran. Ca. 12.000 Strafgefangene wurden vorzeitig aus der Haft entlassen.

Der Mauerbau am 13. August 1961 führte über Nacht zu einer neuen, radikalen Linie bei der Strafverfolgung. Anfang 1962 wurden die Ergebnisse der Justizkampagne des letzten Halbjahres aufgerechnet. Im internen Bericht heißt es:

„Im I. Quartal 1961 gab es in der Strafverfolgung durch einseitige Auslegung des Staatsratsbeschlusses Liberalisierungserscheinungen … So betrug die erfasste Kriminalität im I. Quartal 1961 bei staatsgefährdender Propaganda und Hetze nur 31,0 % und bei Staatsverleumdung nur 42,6 % gegenüber dem I. Quartal 1960 … In den Tagen nach den Maßnahmen unserer Regierung zum Schutze des Friedens verstärkten die feindlichen Elemente besonders ihre konterrevolutionäre Tätigkeit … Es hat im Laufe des 2. Halbjahres 1961 gegenüber dem 1. Halbjahr 1961 ein beachtliches Ansteigen aller übrigen Kriminalität gegeben. Das ist teilweise darauf zurückzuführen, dass in solchen Situationen wie nach dem 13. August die labilen Elemente aktiver werden. Der Hauptteil des Ansteigens beruht jedoch auf der Überwindung der weichen Linie in falscher Auslegung des Staatsratsbeschlusses.“[2]

Die Tabelle zeigt, dass die Justizfunktionäre im 2. Halbjahr 1961 mehr Bürger wegen Staatsverbrechen abgeurteilt hatten als im ganzen Jahr 1960.

Tab. 2: Politische Strafurteile der DDR-Justiz 1960-61

Jahr 1960 1961

gesamt

1961

1.Hj.

1961

2. Hj.

Staatsverbrechen (§§ 15-19, 21-26 StEG) 6.130 8.721 1.521 7.200
Staatsverleumdung (§ 20 StEG) 4.008 5.506 904 4.566
Passgesetz (Republikflucht) 7.554 8.546 2.017 6.531
Gesamt 17.692 22.773 4.442 18.297

Mitte 1962 leitete Walter Ulbricht mit einem Beitrag im DDR-Fachorgan „Neue Justiz“ eine neue Linie ein, indem er nun den Dogmatismus und das Sektierertum der Juristen kritisierte, die zwischen Unmutsäußerungen und politischer Gegnerschaft nicht zu unterscheiden in der Lage seien – eine autoritative Aufforderung zum Liberalismus unter den Bedingungen der kollektiven Internierung der Bevölkerung.

Kriminalität als Relikt

Soweit es die Entwicklung der Allgemeinkriminalität betraf, tröstete sich die Parteiführung bis zum Mauerbau mit der Theorie, nach der die Kriminalität in der DDR ein Relikt der alten, kapitalistischen Gesellschaft sei, fortlebend in den Menschen, die zuvor ihre Prägung durch diese Gesellschaftsformation erhalten hatten. Zudem hätten die offene Grenze und der „Eiterherd“ West-Berlin zu einem ungeheuren Maß an negativer Einflussnahme auf die innere Entwicklung der DDR geführt. Die Ursachen der Kriminalität lagen mithin außerhalb der DDR. Dies galt etwa auch für Hakenkreuzschmierereien und den erheblichen Anstieg anderer Indizien neonazistischer Aktivitäten in der DDR, über die das Politbüro z.B. 1960 informiert wurde.

Mit dem Mauerbau im August 1961 war die DDR „störfrei“ geworden. Nicht nur das Politbüro, sondern auch parteikritische Sozialisten hofften nun darauf, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft fortan ungestörter seine Kraft beweisen könne. Wo aber hätte sich diese stärker zeigen können als bei der nach 1945 geborenen Jugend, deren sozialer Code von Geburt an unter den glücklichen Umständen einer neuen Gesellschaft geprägt wurde?

Umso entsetzter nahmen das Politbüro und sein Apparat 1963, 1965 und 1966[3] die internen Berichte der Strafverfolgungsorgane entgegen, darunter ein Sonderbericht über „das Auftreten von kriminellen und gefährdeten Gruppierungen Jugendlicher“ vom 7.7.1965.[4] Die „Störfreimachung“ hatte keineswegs zu einem einschneidenden Rückgang der Allgemeinkriminalität geführt. Im Gegenteil, für einige Jahre zeigte sich sogar ein Anstieg insbesondere der Jugendkriminalität, obwohl es doch, wie es in dem Bericht heißt, „objektiv keine Bedingungen für grundlegende Widersprüche zwischen der Jugend und der Gesellschaft gibt.“

Die Autoren des Berichts mussten nun die Kritik der Partei über sich ergehen lassen. Sie hätten den Ernst der Lage beschönigt, obwohl doch das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 – das berüchtigte Kulturplenum, das u.a. zum Verbot einer Reihe von DEFA-Filmen führte – „ernste Erscheinungen moralisch-sittlicher Verwahrlosung“ aufgezeigt hätte. Die Justizfunktionäre hätten auch in der Öffentlichkeit das ständige Sinken der Kriminalität propagiert und es damit versäumt, die Bevölkerung auf die Bekämpfung der Kriminalität „zu orientieren“.

Wie verschleiert man einen Kriminalitätsanstieg?

Sollte der Bevölkerung 1966 zum Zwecke der Massenmobilisierung im Kampf gegen die Kriminalität ein etwas ungeschminkteres Bild der Kriminalitätsentwicklung gezeigt werden, was sich allerdings nicht in der kriminalstatistischen Veröffentlichungspraxis niederschlug, so führte der zeitweilige Anstieg der Kriminalitätsziffern ab 1971 dazu, dass kriminalstatistische Daten aus den statistischen Jahrbüchern von 1973 bis 1977 ganz verschwanden. Zwischenzeitlich diskutierte man intern, wie man diese zu auffällige Praxis wieder ändern und doch gleichzeitig den Anstieg der registrierten Kriminalität weiter verschleiern könne. Gewachsen war vor allem die Zahl der Festnahmen wegen „krimineller A­sozialität“ (§ 249 StGB DDR), die 1973 mit 30.500 doppelt so hoch lag wie drei Jahre zuvor. Dieser Anstieg 1973 hatte einen banalen, DDR-ty­pischen Grund: die 1974 in der DDR stattfindenden Weltfestspiele. Um der Jugend der Welt eine saubere DDR zu präsentieren, hatte der nationale Sicherheitsrat im Mai 1973 Planungen zur „Gewährleistung der Si­cherheit der X. Weltjugendfestspiele“ begonnen, in deren Verlauf Volks­polizei und Ministerium für Staatssicherheit knapp 30.000 DDR-Bürger ins Visier nahmen, die als sozial auffällig galten. Viele kamen 1973/74 in psychiatrische Einrichtungen, in Jugendwerkhöfe, Spezialkinderheime und nach einer Verurteilung gemäß § 249 StGB in Arbeitslager.

Die Entscheidung, zeitweilig keine Daten mehr zu veröffentlichen, traf Erich Honecker, der 1971 Ulbricht als Ersten Sekretär des ZK abgelöst hatte, auf Vorschlag des Generalstaatsanwalts der DDR, Josef Streit. Vor einer Herausnahme weiterer Deliktgruppen der Allgemeinkriminalität aus der Statistik schreckte man zurück, da dies, wie es in einem Papier hieß, „keine auf die Zukunft berechenbare Problemlösung darstellt“.[5] Und nur Insgesamt-Zahlen und einen verringerten Datenbestand aus einigen Deliktgruppen zu veröffentlichen, so wurde befürchtet, hätte dem Gegner die Gelegenheit geboten, die Differenz der beiden Angaben als Zahl der aus politischen Gründen Verurteilten zu deuten. Die Furcht, der Gegner im Westen könne Daten über die politische Verfolgung aus der Lücke zwischen Gesamtzahlen und Allgemeinkriminalität herausrechnen, hatte die Praxis der Veröffentlichung kriminalstatistischer Daten seit ihrem Beginn in den 50er Jahren bestimmt. Aus diesem Grund hatte man konsequent darauf verzichtet, detaillierte Angaben für alle „unproblematischen Deliktgruppen“ offen zu legen.

Auch der von Honecker angeordnete gänzliche Verzicht auf kriminalstatistische Daten in den Jahrbüchern brachte jedoch nicht den erwarteten Erfolg: 1976 teilte Josef Streit dem Staatsratsvorsitzenden mit, die „gegnerischen Massenmedien (würden) wüste Gerüchte über einen angeblichen fortwährenden Anstieg der Kriminalität in der DDR“ ver­breiten.[6] Die Nichtveröffentlichungspraxis war angesichts der Bemühungen der DDR um internationale Anerkennung auf Dauer nicht durchzuhalten. Auf internationalen Tagungen wie der V. UNO-Konfe­renz zur Verbrechensbekämpfung 1975 wurden DDR-Delegatio­nen zur Vorlage entsprechender Zahlen aufgefordert.

Intern musste also weiter überlegt werden, wie Veröffentlichung und Verschleierung miteinander zu verbinden seien. Von Erich Honecker stammt die Anweisung: „Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalstatistik.“ Ab 1978 enthielt das Statistische Jahrbuch mit Honeckers Zustimmung wieder Gesamtzahlen und Angaben zu einzelnen Deliktgruppen. Die Gesamtzahl registrierter Straftaten wurde – entgegen vorangegangener Überlegungen – nicht verfälscht.

Um den Kriminalitätsanstieg zwischen 1971 und 1974 zu kaschieren, präsentierte man für diesen Zeitraum nur jährliche Durchschnittswerte. Angaben über politische Straftaten blieben tabu und sollten auch weiterhin nicht aus der Differenz von Gesamtzahl und den einzeln ausgewiesenen Straftatbeständen herausgelesen werden können. Man legte daher fest, dass in der Gruppe „sonstiger Straftaten …. neben den genannten (politischen) Straftaten möglichst viele und unterschiedliche Delikte enthalten sein (müssen), über deren tatsächliche … Größe die Gegenseite keine konkreten Vorstellungen haben kann.“[7] Diese Praxis wurde bis 1989 durchgehalten.

Nach 1990 und der Öffnung der DDR-Archive gehen begründete Schätzungen davon aus, dass in den 40 Jahren DDR ca. 250.000 Personen aus politischen Gründen in Strafhaft kamen.

Falco Werkentin ist seit 1993 stellvertretender Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Berlin. Von 1975 bis 1990 war er in Forschungsprojekten zur Politik Innerer Sicherheit der Bundesrepublik tätig und arbeitete als Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP. In den ersten 17 Jahren lebte er – bis zum Sprung über die Mauer – in der DDR.
[1]      beispielhaft: Bericht der Strafverfolgungsorgane der DDR über die Bewegung der Kriminalität 1958, Bundesarchiv (BArch) DY 30 IV 2/13/414; und: Materialien zur Kriminalitätsentwicklung 1961, BArch DY 30 IV 2/13/424
[2]     Materialien zur Kriminalitätsentwicklung 1961, BArch DY 30 J IV 2/13/424
[3]     vgl. den Kriminalitätsbericht für 1965 v. 2.3.1966 und die von der ZK-Abt. Staats- und Rechtsfragen daran geübte Kritik v. 24.2.1966, beides BArch DY 30 J IV 2/3A/1277
[4]     BArch DY 30 J IV 2/3/1090
[5]     zit. n. Raschka, J.: „Staatsverbrechen werden nicht genannt“. Zur Zahl politischer Häftlinge während der Amtszeit Honeckers, Dresden 1997, S. 17
[6]     ebd.
[7]     aus einem Dokument, zit. n. Raschka a.a.O. (Fn. 5), S. 22