Regieren mit Angst – Warum die Kriminalstatistik gerne falsch interpretiert wird

von Oliver Brüchert

Als Ronald Schill vor seinem Amtsantritt als Hamburger Innensenator versprach, „Wir werden die Kriminalität innerhalb der ersten 100 Tage unserer Amtszeit halbieren!“, war das nur das schillerndste Beispiel für den politischen Irrglauben, die Kriminalitätsrate ließe sich mittels verstärkter Polizeipräsenz und harter Strafen senken.

Selbst wenn man unterstellen wollte, mehr Polizei auf den Straßen wirke präventiv: Gemessen wird die Kriminalitätsrate mittels polizeilicher „Kriminalstatistiken“ und dort werden genau jene Straftaten gezählt, die der Polizei bekannt werden. Mit erhöhter Polizeiaktivität steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Straftaten bekannt werden, daher bedeutet mehr Polizei statistisch gesehen im Regelfall mehr Kriminalität. Tatsächlich ist die amtliche Kriminalitätsziffer in Hamburg 2003 leicht gestiegen. Der Schill-Effekt war also vorhersehbar.

Aber der Glaube der Politiker jedweder Couleur, die Kriminalstatistik sage etwas über Kriminalität und über die Leistungsfähigkeit der polizeilichen Verbrechensbekämpfung aus, ist ungebrochen. Im Zuge der „Modernisierung“ öffentlicher Verwaltung schließen die Innenministerien der Bundesländer neuerdings Ziel- und Leistungsvereinbarungen mit der Polizei ab. Vorreiter war Mecklenburg-Vorpommern: Im Jahr 2000 hat das Innenministerium in der Zielvereinbarung mit der Landespolizei konkrete Fallzahlen und eine Erhöhung der „Aufklärungsquote“ festgeschrieben.[1] Andere Zielvereinbarungen (z.B. in Sachsen und Bayern) sind zurückhaltender und beziehen sich eher auf den effektiven Einsatz von „Ressourcen“ und ein detailliertes „Controlling“. Dennoch greifen die Innenminister bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit der Polizei immer wieder auf die Kriminalstatistik zurück, die Opposition nutzt steigende Kriminalitätsraten stets als Indiz für das Versagen der jeweiligen Regierung, und auch die Medien beteiligen sich bereitwillig am alljährlichen Theater um die „Polizeilichen Kriminalstatistik“ (PKS) und die angeblich steigende (selten einmal sinkende) „Kriminalität“.

Die PKS ist eine Anzeigenstatistik

Dem Irrglauben wäre abzuhelfen, indem man die PKS wirklich liest, insbesondere die zahlreichen Hinweise folgender Art:

„Die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik wird besonders dadurch eingeschränkt, dass der Polizei ein Teil der begangenen Straftaten nicht bekannt wird. Der Umfang dieses Dunkelfeldes hängt von der Art des Deliktes ab und kann sich unter dem Einfluss variabler Faktoren (z.B. Anzeigebereitschaft der Bevölkerung, Intensität der Verbrechenskontrolle) auch im Zeitablauf ändern. Es kann daher nicht von einer feststehenden Relation zwischen begangenen und statistisch erfassten Straftaten ausgegangen werden.“[2]

Wer sich auf das Thema einlässt, kann wissen, dass die überwiegende Mehrheit aller Straftaten der Polizei durch private Anzeigen bekannt wird. Abgesehen von wenigen Delikten ist die PKS also eine Anzeigenstatistik. Und die häufig bemühte „Aufklärungsquote“ besagt lediglich, ob die Polizei einen Tatverdächtigen ermittelt hat, was im Regelfall bedeutet, dass der Anzeigeerstatter sagen kann, gegen wen sich die Anzeige richtet. Mit polizeilicher Ermittlungsarbeit hat das nur selten etwas zu tun.

Zum „Phänomen Strafanzeige“ gehört, dass es viele Gründe gibt, bestimmte kriminalisierbare Ereignisse nicht zur Anzeige zu bringen und dass andererseits die Strafanzeige mitunter auch zur gezielten Denunziation genutzt wird.[3] Anzeigewellen z.B. gegen „Fremde“ oder „Jugendliche“ sagen jedenfalls mehr über die Motive der Anzeigeerstatter aus als über die Angezeigten. Sie spiegeln bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen wider, soziale Transformationsprozesse, kulturelle Konflikte, Vorurteile und mitunter auch politische Kampagnen. In diesem Kontext habe ich die österreichische und deutsche Kriminalstatistik über einen längeren Zeitraum ausgewertet. Die Idee dazu stammt aus dem „anderen Sicherheitsbericht“ von Gerhard Hanak und Arno Pilgram, in dem sie 1991 die österreichischen Daten der Kriminalstatistik umfassend im Sinne einer Anzeigenstatistik interpretierten. Der Ansatz besteht darin, die verschiedenen Formen von Anzeigen (und die darin zum Ausdruck kommenden Erwartungen an die Strafverfolgung) anhand der „Aufklärungsquote“ zu differenzieren:

„Im Verständnis des vorliegenden Textes sind ‚aufgeklärte Straftaten‘ solche, bei denen es – unter verschiedenen strafrechtlichen Titeln – um die polizeiliche Verfolgung konkreter Personen bzw. Kontrahenten in der Situation geht. Bei den ‚aufgeklärten Straftaten‘ erfolgt nämlich schon die Anzeige im allgemeinen nicht gegen Unbekannt und ihr liegt ein anderer Typus von Interventionsbegehren zugrunde als bei den von Geschädigten (und folglich in der Regel auch von der Polizei) unaufgeklärten Delikten.“ [4]

Auf diese Weise lässt sich aus der Kriminalstatistik etwas über die sozialen Situationen herauslesen, die der Anzeige vorausgehen. Statt pauschal und täterbezogen von „Kriminalität“ zu sprechen, können wir interaktions- und situationsbezogen unterscheiden zwischen „Konflikten“ und „Schadensfällen“: Bei „aufgeklärten“ Straftaten, wenn also die Anzeige erstattende Person den vermeintlichen Schädiger kennt und bei dem Ereignis anwesend war, handelt es sich um eine Konfliktsituation. Es gibt viele mögliche Arten von Konflikten, z.B. um Sachen, um die Ehre oder auch handfeste Übergriffe gegen die Person. Die „Aufklärungsquoten“ bei Delikten gegen die Person sind naturgemäß sehr hoch. Sie erfordern logischerweise, dass sich beide Beteiligten in der Situation direkt begegnen; insofern macht es Sinn, auch jene Fälle als „Konflikt“ zu interpretieren, in denen die Anzeige erstattende Person den Täter nicht identifizieren kann und der Fall polizeilich nicht „aufgeklärt“ wird. Übrig bleiben „unaufgeklärte“ Eigentumsdelikte, also anonyme „Schadensfälle“, bei denen zumeist nur noch der Schaden festgestellt werden kann, während der Verursacher längst verschwunden ist.

Daneben enthält die PKS Straftaten, deren polizeiliche Verfolgung (und Erfassung in der PKS) im Regelfall nicht auf Anzeigen aus der Bevölkerung basiert, sondern auf staatlicher Kontrolltätigkeit. Darunter fallen insbesondere Betäubungsmitteldelikte, strafrelevante Verstöße gegen das Asyl- und Ausländerrecht, „Widerstand gegen die Staatsgewalt und Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ sowie Umwelt- und Wirtschaftskriminalität. Diese Deliktsgruppen habe ich unter dem Kürzel „Staatliche Kontrolldelikte“ zusammengefasst. Die „aufgeklärten Ladendiebstähle“ gehen vor allem auf die Tätigkeit von Kaufhausdetektiven und den Einsatz technischer Warensicherung zurück; es handelt sich also nicht um Konflikte, sondern ebenfalls um Kontrolldelikte, deren Aufdeckung aber eher auf private denn staatliche Initiative zurückzuführen sind und die ich daher den Schadensfällen zugeschlagen habe.

Bei den „Konflikten“ liegt es nahe, jene, die das Eigentum betreffen (Vermögensdelikte, „aufgeklärter“ Einbruch, Diebstahl etc.), von denen zu unterscheiden, die unmittelbar auf die Person zielen (Körperverletzung, Beleidigung, Sexualdelikte etc.).

Tab.: Entwicklung der Anzeigeformen in der BRD 1972–2002 (Häufigkeitszahlen bezogen auf 100.000 Einwohner)

  1972 1977 1982 1987 1992 1997 2002
Staatliche Kontrolle 335 415 560 654 811 971 955
Konflikte 394 482 624 643 743 894 1.070
Eigentumskonflikte 1.076 1.299 1.657 1.661 1.579 1.865 2.015
Schadensfälle 2.413 3.106 4.081 4.327 4.760 4.303 3.896

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der PKS

Entwicklung der Anzeigen von Schadensfällen

Bei über der Hälfte der in der PKS erfassten Anzeigen handelt es sich um Schadensfälle. Gleichzeitig ist das auch der Bereich mit der (in absoluten Zahlen) größten Dynamik, der entscheidenden Einfluss auf das von der PKS gezeichnete Gesamtbild hat. Von 1972 bis 1982 ist ein kontinuierlich steiler Anstieg erkennbar, der sich bis 1992 fortsetzt, allerdings mit deutlich flacherem Kurvenverlauf. Ab 1996, dem ersten Jahr der Berechnung, in dem Zahlen für die neuen Bundesländer vorlagen, ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen; 2002 liegen die Zahlen bereits unter dem Niveau von 1982. Offensichtlich hat die Entwicklung der Schadensanzeigen etwas mit der „Vereinigung“ zu tun oder genauer: mit der Entwicklung des allgemeinen Wohlstands, die nach Jahrzehnten der Prosperität in den 90er Jahren deutlich an Schwung verlor. Doch ein gebremstes Wirtschaftswachstum alleine kann den Rückgang der Schadensanzeigen nicht erklären, und auch die Aufschlüsselung der Zahlen nach Ost und West ergibt kein klares Gefälle.

Ein wichtiger Faktor für die Erklärung der Anzeigebereitschaft von Schadensfällen sind alle Arten von Versicherungen gegen Beschädigung und Diebstahl, denn nur wenn man versichert ist, lohnt sich eine Anzeige. Die Chance, das gestohlene Gut wirklich wieder zu bekommen, ist bekanntlich sehr gering. Nach einem vereinigungsbedingten starken Anstieg (in absoluten Zahlen) in den Jahren 1991-1993 ist das Wachstum der Hausrat-, Einbruch- und Diebstahls- sowie Kfz-Teilkasko­versicherungen seit 1995 zum Stillstand gekommen, teilweise sogar rückläufig. Zudem haben die Versicherungen bereits seit den 80er Jahren auf steigende Kosten durch Diebstahlsanzeigen reagiert und versuchen, Bagatellschäden auszuschließen. Im Bereich der Kfz-Kasko-Versicherungen werden zunehmend Selbstbeteiligungen eingeführt, die in der Regel zwischen 150 und 500 Euro liegen, also einem Bereich, der bei vielen Diebstählen nicht überschritten wird. Liegt der Wert der gestohlenen Sache unter dem Selbstbehalt, lohnt sich eine Anzeige bei der Polizei nicht mehr. Seit 1984 sind bei Hausratversicherungen der Diebstahl von im Freien abgestellten Fahrrädern und der Diebstahl aus Kfz nicht mehr automatisch mitversichert. Solche scheinbar kleinen Veränderungen im Versicherungswesen können kriminalstatistisch große Auswirkungen haben und erklären den Rückgang der Schadensanzeigen möglicherweise besser als die allgemeine Wirtschaftskrise – obschon beides wiederum in mehrfacher Weise zusammenhängt: Während die Versicherungen versuchen, ihre Bilanzen aufzubessern, indem sie bestimmte Risiken nicht mehr abdecken, reagieren die Kunden darauf – und auf die allgemeine Krisenstimmung –, indem sie weniger Versicherungen abschließen.

Entwicklung der Anzeigen von Konflikten

Die Zahl der Konfliktanzeigen hat über den gesamten Beobachtungszeitraum beständig zugenommen. Setzt man die Häufigkeitszahlen von 1972 und 2002 in Bezug, sind die Konflikte in diesem Zeitraum mit 272 % sogar stärker angestiegen als die Schadensfälle mit 161 %. Wird unsere Gesellschaft also immer konfliktgeladener, gar gewalttätiger? Vieles spricht dafür, dass das Gegenteil der Fall ist, dass die Erfahrung körperlicher Gewaltanwendung für immer mehr Menschen zur Ausnahme wird, dass die handfeste Austragung von Konflikten zunehmend tabuisiert wird und die Sensibilisierung gegenüber „Gewalt“ insbesondere im sozialen Nahraum, in der Familie und unter Bekannten weiter wächst. Das elterliche „Züchtigungsrecht“ und Vergewaltigungen in der Ehe werden vom Strafrecht nicht mehr gerechtfertigt, und die Kämpfe der Frauenbewegungen haben dazu beigetragen, dass geschlechtsspezifische Gewalt nicht mehr durchgängig als Kavaliersdelikt betrachtet wird – obschon patriarchale Strukturen hier immer noch Wirkung entfalten. In einer Studie zur „Jugendgewalt“ kommen Steinert und Karazman-Morawetz zu dem Schluss: „Die Klagen über die ‚Zunahme der Gewalt‘ müssen sich auf andere Erfahrungen beziehen als auf die unmittelbaren Gewalterfahrungen, die heute von und an Jugendlichen im Vergleich zu ihrer Elterngeneration gemacht werden können.“ [5]

In absoluten Zahlen sind für die Zunahme von Konfliktanzeigen fast ausschließlich Anzeigen wegen Körperverletzung, Raub und Beleidigung verantwortlich. Alleine die Zahl der Anzeigen wegen „vorsätzlicher leichter Körperverletzung, § 223 StGB“ liegt im Jahr 2002 mit 275.669 höher als die Gesamtzahl aller Konfliktanzeigen (240.059) im Jahr 1972. Der Anteil von Anzeigen gegen Verwandte (14 %) und Bekannte (28 %) ist hier zwar geringer als bei Tötungs- und Sexualdelikten, nimmt in den letzten Jahren aber zu. Deutlich überrepräsentiert unter den Tatverdächtigen sind männliche Jugendliche und junge Erwachsene. Die Mehrheit der Anzeigen richtet sich also nach wie vor gegen „fremde“ junge Männer. Besonders gravierend gilt das für Raubdelikte, bei denen 2002 über die Hälfte der Angezeigten unter 21 Jahre waren (zu 7,3 % sogar Kinder unter 14 Jahren). Gleichzeitig liegen viele der ermittelten materiellen Schäden im Bagatellbereich, in jedem fünften Fall sogar unter 15 Euro.[6] Das vieldiskutierte „Jacken abziehen“ stellt also schon eine schärfere Version der Handlungen dar, die als Raub zur Anzeige gebracht werden. Was in diesen Konfliktanzeigen zum Ausdruck kommt, ist einerseits eine bestimmte Spielart des Generationenkonflikts, nämlich die zunehmende Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen, die Dramatisierung von „Gewalt an den Schulen“, „Monsterkids“ und einer insgesamt bedrohlichen Jugend. Dabei wird, was vor einigen Jahren noch als jugendspezifische Delinquenz, als „Dummejungenstreiche“, tolerierbar oder zumindest verkraftbar erschien, zunehmend als gefährliche „Kriminalität“ wahrgenommen, die nur mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft werden kann.[7] Leider erfasst die PKS nicht, wer die Konflikte zur Anzeige bringt. Bei den „Opfern“ sind Jugendliche sogar noch stärker überrepräsentiert als auf der Täterseite, und man kann vermuten, dass nicht selten die Eltern oder Lehrer Strafanzeige erstatten. Doch auch viele Jugendliche zeigen sich heute weniger tolerant gegenüber auf körperlicher Durchsetzungskraft beruhender „Männlichkeit“ – das gilt insbesondere für die höher gebildeten und schließt an die etablierte Kultur einer Verachtung für die Unterschichten an.

Was also in der steigenden Zahl von Konfliktanzeigen vorwiegend zum Ausdruck kommt, ist, dass wir in verhältnismäßig gewaltarmen Verhältnissen leben und immer mehr Menschen körperliche Gewalt verachten. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass jene Subkulturen, in denen Körperlichkeit und Wehrhaftigkeit noch immer das Männlichkeitsbild dominieren, zunehmend stigmatisiert und kriminalisiert werden. Ein besonders plastisches Beispiel dafür sind die Fußballhooligans, deren ritualisierte Kämpfe darauf ausgerichtet sind, sich unter Gleichgesinnten zu schlagen, die aber als allgemeines Sicherheitsproblem unter massivem Polizeieinsatz daran gehindert werden.

Die von 26.740 Anzeigen 1972 auf 162.884 Anzeigen im Jahr 2002 ebenfalls drastisch gestiegene Zahl von Anzeigen wegen Beleidigung – wenn also Wortgefechte in einer Strafanzeige enden – spricht nicht gerade dafür, dass alternative Strategien der Konfliktaustragung gesellschaftlich gut verbreitet sind. Wenn insgesamt immer häufiger die Polizei und das Strafrecht mobilisiert werden, bedeutet das ja, dass die zivilen und informellen Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Konfliktregulierung nicht ausreichen. Obschon die Entwicklung der Strafanzeigen keinen Anlass für Sicherheitspaniken liefert, sagt sie wenig Gutes über den gesellschaftlichen Umgang mit Konflikten.

Entwicklung der Anzeigen von Eigentumskonflikten

Auch im Bereich der Eigentumskonflikte stieg die Zahl der Strafanzeigen in den letzten 30 Jahren insgesamt deutlich an, obwohl sie in den 80er Jahren vorübergehend stagnierte. Dabei handelt es sich zum größten Teil um Anzeigen von „Vermögens- und Fälschungsdelikten“, die zwischen 1972 und 2002 von 229.707 auf 1.008.243 zunahmen, also um Konflikte zwischen Personen und Institutionen, deren Beziehung zueinander meist rein geschäftlicher Natur ist. Im Unterschied zu den persönlichen Konflikten betreffen diese Anzeigen überwiegend erwachsene Tatverdächtige. Die „Aufklärungsquoten“ sind hoch (meist über 80 %), es handelt sich um klassische „Kontrolldelikte“, d.h. die Wahrscheinlichkeit einer Anzeige hängt ganz wesentlich davon ab, dass ein Betrug überhaupt entdeckt wird. Für viele Formen von Wirtschaftskriminalität haben sich im Zuge des technischen Fortschritts – elektronische Datenverarbeitung, grenzüberschreitender Handel, computergestützte Zahlungs- und Transaktionssysteme etc. – die Gelegenheitsstrukturen wie auch die Möglichkeiten der Aufdeckung rasant weiterentwickelt, sind teilweise in den letzten Jahrzehnten überhaupt erst entstanden (z.B. „Computerkriminalität“). Die geschäftlichen Risiken werden nun insofern vergesellschaftet, als Wirtschaftskriminalität zu einem vorrangigen Ziel der Verbrechensbekämpfung und der internationalen Zusammenarbeit zwischen Polizei- und Justizbehörden erklärt wurde. Der so begründete Ausbau von Ermittlungskompetenzen, Überwachungstechnologien und Datenbanken bedroht elementare Grundrechte – nicht nur der Handeltreibenden. Das Strafrecht soll die durch neoliberale Deregulierung erzeugten Probleme lösen, doch die wachsende Zahl der Anzeigen belegt, dass die Zähmung des Kapitalismus durch das Strafrecht nicht gelingen will.

Entwicklung der staatlichen Kontrollanzeigen

Entsprechend den Ausführungen im vorangehenden Abschnitt hat sich die Zahl der Strafanzeigen wegen „Wirtschaftskriminalität“, die nicht auf private Anzeigen, sondern auf staatliche Kontrolltätigkeit zurückgehen, ebenfalls erhöht. Eine weit größere Zahl von Anzeigen durch die staatlichen Kontrollorgane betreffen strafrechtliche Nebengesetze im Drogen-, Asyl- und Ausländerbereich. Der steile Anstieg in den letzten 30 Jahren – relativ betrachtet der größte Anstieg aller Anzeigearten – dokumentiert den enormen Aufwand, den staatliche Sicherheitsorgane zur Kontrolle und Überwachung, zur Kriminalisierung und Stigmatisierung von Drogenabhängigen und Flüchtlingen betreiben. Trotz eines langsam einsetzenden Umdenkens im Umgang mit dem Drogenelend (Substitutionsprogramme, Fixerstuben, Entkriminalisierung von Cannabis) geht der „Krieg gegen die Drogen“ – der einen Großteil der Probleme selbst erzeugt, den er zu bekämpfen vorgibt – unvermindert weiter. Bei den Anzeigen aufgrund der Asyl- und Ausländergesetze hat seit 1998 ein leichter Rückgang eingesetzt, was sich nur damit erklären lässt, dass immer weniger Flüchtlinge überhaupt noch ins Land gelangen.

Regieren mit Unsicherheit

Dieser kurze Gang durch die Kriminalstatistik sollte deutlich gemacht haben, dass die PKS-Daten interessante Forschungsansätze liefern können, wenn man den Umstand ernst nimmt, dass es sich um eine Anzeigenstatistik handelt. Doch damit lassen sich keine öffentlichen Moralpaniken über immer neue Kriminalitätswellen und Bedrohungsszenarien begründen. Vielmehr müsste man sich damit beschäftigen, was die tatsächlichen gesellschaftlichen Ursachen von Kriminalitätsfurcht und Anzeigebereitschaft sind. Man müsste sich mit Sozialpolitik, Generationenkonflikten und Intoleranz beschäftigen. Und man müsste zur Kenntnis nehmen, dass steigende Anzeigeziffern nicht unbedingt ein Grund zur Besorgnis sind. Offenbar ist die Einsicht, dass wir in relativ sicheren Verhältnissen leben, politisch unbequem. Das Thema Kriminalität bietet nach wie vor willkommene Anlässe, von Problemen in anderen Politikfeldern abzulenken, indem man die Angst schürt und Sündenböcke präsentiert. Selbst wenn niemand mehr den andauernden Versprechungen glaubt, der nächste „starke Mann“ als Innenminister würde endlich „die Kriminalität senken“, lassen sich mit Angst immer wieder Wahlen gewinnen, lässt sich mit Unsicherheit gut regieren.

Oliver Brüchert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsschwerpunkt Devianz und Soziale Ausschließung, Fachbereich Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.
[1]      vgl. Jasch, M.: Zielvereinbarungen der Polizei. Untauglicher Versuch mit Nebenwirkungen, in: Neue Kriminalpolitik 2000, H. 4, S. 6–8
[2]     Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2002, Wiesbaden 2003, S. 7
[3]     Zu diesem Thema ist gerade erschienen: Hanak, G.; Pilgram, A. (Hg.): Phänomen Strafanzeige. Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie 2003, Baden-Baden 2004
[4]     Hanak, G.; Pilgram, A.: Der andere Sicherheitsbericht (Kriminalsoziologische Bibliographie) Wien 1991, S. 12
[5]     Steinert, H.; Karazman-Morawetz, I.: Gewalterfahrungen Jugendlicher, in: Otto, H.-U.; Merten, R. (Hg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1993, S. 147-156 (156)
[6]     BKA a.a.O. (Fn. 2), S. 143 und 145
[7]     s. Brüchert, O.: Die Drohung mit der Jugend, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 63 (1/1999), S. 15-23