„Evaluation“ der Schleierfahndung – Eine Auswertung polizeilicher (Selbst-)Erfahrungsberichte

von Martina Kant

Evaluationen sind spätestens seit der PISA-Studie in aller Munde. Der Bereich der „Inneren Sicherheit“ ist davon nicht mehr ausgenommen. Ob allerdings eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Wirkungen und Nebenwirkungen polizeilicher Arbeit seitens der Exekutive und Legislative gewollt ist, darf angesichts erster „Evaluations“-Versuche bezweifelt werden.

Im Gesetzgebungsverfahren vom Sommer 1998 war es äußerst umstritten, den Bundesgrenzschutz (BGS) ohne Verdacht jede Person in Zügen, auf Bahnhöfen und Flughäfen jenseits des 30-km-Grenzgebietes kontrollieren zu lassen. Bundesrat und Bundestags-Innenausschuss hatten daher durchgesetzt, diese Befugnis zunächst bis zum 31.12.2003 zu befristen, und darum gebeten, dem Bundestag vor Ablauf eine Evaluation vorzulegen. Ein solcher „Erfahrungsbericht“ ist im September vergangenen Jahres übergeben worden.[1] Unter den Bundesländern hat allein Sachsen seine seit dem 1.7.1999 geltende polizeirechtliche Befugnis zu ereignis- und verdachtsunabhängigen Kontrollen verbindlich mit einer jährlichen Berichtspflicht versehen[2] und die Ermächtigung bis 31.5.2004 befristet. Für die Jahre 1999-2003 liegen vier Berichte vor.[3]

In beiden Fällen handelt es sich allerdings weder um wissenschaftliche Evaluierungen nach bestimmten Standards noch um unabhängige Auswertungen. Beide Berichte wurden von den jeweiligen Innenministerien anhand von Daten erstellt, die die einzelnen Polizeidienststellen bzw. BGS-Ämter lieferten. Eine (selbst-)kritische Darstellung und Bewertung sucht man vergeblich. Da Polizei und Regierung mit diesen Berichten handfeste Politik betreiben und polizeiliche Befugnisse legitimieren oder gar ausweiten, lohnt sich ein genauerer Blick auf Zielrichtung und Datenbasis sowie auf die oftmals eigenwilligen Interpretationen.

Zweck und Zweckoptimismus

Welche Zwecke die beiden Evaluation der Schleierfahndung verfolgen, ist in den Berichten selbst nicht genannt. Aus der Amtlichen Begründung zum sächsischen Polizeigesetz geht zumindest hervor, dass der Gesetzgeber mit der Berichtspflicht sicherstellen wollte, „dass die Wirksamkeit der Neuregelung geprüft werden kann.“[4] Der Bundestags-Innenausschuss forderte die Befristung der BGS-Schleierfahndung, „um Erfahrungen darüber zu sammeln, ob sich das Instrument in seiner konkreten Ausgestaltung bewährt.“[5]

Welche greifbaren Kriterien bei einer Evaluierung für einen Erfolg oder Misserfolg angelegt werden sollten, blieb offen. Das sächsische Innenministerium erließ im Juni 1999 für die Polizeidienststellen eine Verwaltungsvorschrift „VwV Verdachtsunabhängige Kontrollen“, in der festgelegt wurde, welche statistischen Daten für die Schleierfahndungsberichte erhoben werden sollen.

Für die BGS-Regelung ist eine solche Anweisung nicht bekannt. Die genaue Zielrichtung bleibt daher insgesamt diffus. Ohne klare Bewertungskriterien vorzugeben, hat sich der Gesetzgeber von vornherein um seine ohnehin beschränkten parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten gebracht. Dass sich die BGS-Schleier­fahndung bewähren würde, davon waren die schwarz-gelben Koalitionäre im Bundestag bereits 1998 überzeugt.[6] Aber auch die rot-grüne Bundesregierung ging im Sommer 2000 – rund drei Jahre vor Abschluss der Evaluation – davon aus, „dass sich die Notwendigkeit zum Erhalt dieser Norm auch nach Ablauf der zeitlichen Befristung ergeben wird.“[7]

Was wird erhoben, was nicht?

Bezüglich der erhobenen Daten und Informationen zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen dem BGS-Bericht und den Darstellungen der sächsischen Polizei. Sachsen präsentiert gemäß der „VwV Verdachtsunabhängige Kontrollen“ ausschließlich statistische Daten zur Anzahl der Kontrollen, der Folgemaßnahmen und der „Fahndungstreffer“ in Abhängigkeit vom Kontrollort innerhalb und außerhalb des 30-km-Grenzgebietes. Der BGS-Bericht enthält dagegen neben einer 7-seitigen statistischen Übersicht auch Beschreibungen von Einzelerfolgen, knappe Angaben zum Beschwerdeverhalten der Kontrollierten, zu Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, zur Zusammenarbeit mit anderen Behörden und zur Öffentlichkeitsarbeit. Die statistischen Daten liefern für den Zeitraum 1.1.1999 bis 31.12.2002 die Anzahl aller nach § 22 Abs. 1a BGS-Gesetz vorgenommenen Kontrollen. Dabei handelt es sich ausschließlich um Kontrollen, die unabhängig vom 30-km-Grenz­gebiet erfolgen können, d.h. in Zügen, auf Bahnhöfen und internationalen Flughäfen. Schließlich listet der Bericht in einer weiteren Statistik „ausgewählte Erfolge“ aus den Bereichen Personen- und Sachfahndung, Strafanzeigen, Ordnungswidrigkeitenanzeigen, Betäubungsmittel-(BtM-) Sicher­stellungen und unerlaubte Einreisen auf. Anders als im BGS-Bericht sind für Sachsen zu allen Datenkategorien zudem die Anzahl der betroffenen ausländischen Staatsangehörigen angegeben.

Vergleicht man die erhobenen Daten mit dem Zweck der Evaluationen, stellt sich bei den sächsischen Berichten die Frage, wie die Wirksamkeit der Schleierfahndung überhaupt überprüft werden soll. Zur Erinnerung: Alleiniger Zweck der verdachtsunabhängigen Kontrollen ist nach sächsischem Polizeigesetz die „vorbeugende Bekämpfung der grenz­überschreitenden Kriminalität“. Die Berichte erfassen aber weder, welche Straftaten bei den Kontrollen zur Anzeige gebracht werden, noch ob sie in irgendeiner Weise grenzüberschreitend sind. Es wird lediglich die Anzahl der Strafanzeigen gezählt. Auch der Umstand, dass die Berichte ausländische Staatsangehörige gesondert ausweisen, behebt den Mangel nicht. Bei der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) käme letztlich auch niemand auf die Idee, bei allen ausländischen Tatverdächtigen von grenzüberschreitenden Kriminellen zu sprechen. Allein die in der Statistik gezählte „Unerlaubte Einreise“ hat eindeutig Grenzbezug.

Der BGS-Bericht geht über eine reine Wirksamkeitsüberprüfung der Schleierfahndung im Sinne des Gesetzeszwecks – Verhinderung und Unterbindung der unerlaubten Einreise – hinaus. Der Gesetzgeber wollte schließlich wissen, ob sich die Regelung insgesamt „bewährt“ hat. Die Abschnitte über das Beschwerdeaufkommen bei den Kontrollen oder die Resonanz in der (medialen) Öffentlichkeit hätten zumindest vom Ansatz her die Chance geboten, die Eingriffseigenschaft in Bürgerrechte durch die Schleierfahndung zu dokumentieren. An dieser Stelle wird im Bericht jedoch eine übergroße Datenlücke deutlich, und das BMI behilft sich mit Einschätzungen und Mutmaßungen der BGS-Präsidien, wie die Schleierfahndung auf Betroffene wirkt: Das Beschwerdeaufkommen sei „gering“, das Sicherheitsgefühl der Bürger hingegen merklich gestiegen. Wie es gerade passt. Dass über Widerspruchsverfahren, Über­griffe oder Diskriminierungen im Zusammenhang mit der Schleierfahndung gar keine Statistik geführt wird, bestätigte die Bundesregierung schon auf frühere Anfragen im Bundestag.[8] Auch die immer wieder erhobenen Vorwürfe wegen einer selektiven, rassistischen Kontrollpraxis versucht der Bericht nicht einmal zu widerlegen. Zur Staatsangehörigkeit der Kontrollierten, die wenigstens hilfsweise ein Indiz für die Selektivität sein könnte, gibt es ebenfalls keine Statistik.[9] Stattdessen diskreditiert der Bericht Bürgerrechtsgruppen wie „Bürger beobachten den BGS“ oder das „Komitee gegen amtlichen Rassismus“, die mit ihren Aktionen in einigen nordrhein-westfälischen Städten die Kontrollen als rassistisch angeprangert haben.

Die Datenbasis beider Berichte weist insgesamt grobe Mängel auf, die eine umfassende Bewertung der Schleierfahndungspraxis letztlich unmöglich machen. Zu welchen Ergebnissen die Innenministerien in ihren Einschätzungen dennoch kommen, wird im Folgenden dargestellt und hinterfragt.

Ergebnisse der Schleierfahndungsberichte

Sowohl der BGS-Bericht als auch die sächsischen Berichte kommen nahezu wortgleich zu der abschließenden Bewertung, dass die Schleierfahndung zu einem unverzichtbaren Instrument geworden sei. Begründet wird dies im Wesentlichen mit den statistisch belegten „Erfolgen“ hinsichtlich Fahndungstreffern und festgestellten Delikten.

Der BGS hat in den Jahren 1999 bis 2002 insgesamt 1.185.460 Personen außerhalb des 30-km-Grenzgebietes kontrolliert und steigerte damit die Kontrollen von 1999 bis 2002 um rund 62 %.[10]

Tab. 1: Festgestellte unerlaubte Einreisen, Straf- und Ordnungswidrigkeitenanzeigen durch BGS-Schleierfahndung

Jahr Kontrollen Unerlaubte

Einreisen

Anteil Straftaten Anteil Ordnungs-

widrigkeiten

Anteil
2002 334.603 852 0,25% 21.078 6,30% 15.752 4,71%
2001 310.463 1.667 0,54% 17.330 5,58% 14.527 4,68%
2000 333.753 1.893 0,57% 11.046 3,31% 8.293 2,48%
1999 206.651 2.377 1,15% 9.589 4,64% 6.505 3,15%
Gesamt 1.185.460 6.789 0,57% 59.043 4,98% 45.077 3,80%

Unerlaubte Einreisen stellte der BGS in den vier Jahren lediglich in 0,57 % der Fälle (gemessen an der Zahl der Kontrollen) fest. Die Quote sank von 1,15 % im Jahr 1999 auf 0,25 % 2002. Das BMI begründet dies mit verbesserten Grenzkontrollen in Tschechien und Polen. Zudem gebe es für Rumänen und Bulgaren seit März 2001 eine EU-Visafreiheit für bis zu 3-monatige Aufenthalte; die bisher unerlaubte Einreise wurde also lediglich legalisiert. Wieso das BMI dieses Ergebnis als Erfolg der Schleierfahndung wertet, ist nicht nachvollziehbar. Um ein Vielfaches höher sind hingegen die Strafanzeigen mit knapp 5 % und die festgestellten Ordnungswidrigkeiten mit 3,8 %. Tatsächliches Ergebnis der Schleierfahndung sind daher Zufallsfunde, die mit dem eigentlichen Zweck der Befugnis – unerlaubte Einreisen zu unterbinden – nichts zu tun haben. Die Schleierfahndung sei somit nicht nur ein „wertvolles Instrument zur Bekämpfung der unerlaubten Einreise sowie der Schleusungskriminalität“, so das BMI im Fazit, sondern es würden auch „eine Vielzahl von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, insbesondere aus dem Bereich des Ausländer- und Asylrechts festgestellt.“[11] Auch hier interpretiert das BMI wieder freihändig, ohne seine eigene Statistik zu berücksichtigen.

Tab. 2: Straf- und OWi-Anzeigen des BGS mit ausländerrechtlichem Bezug

Jahr Straf-

anzeigen

AuslG Anteil OWi-An-

zeigen

AuslG Anteil PassG Anteil
2002 21.078 4.347 20,62% 15.752 3.947 25,06% 42 0,267%
2001 17.330 4.588 26,47% 14.527 3.512 24,18% 55 0,379%
2000 11.046 4.474 40,50% 8.293 3.873 46,70% 126 1,519%
1999 9.598 3.979 41,46% 6.505 1.792 27,55% 10 0,154%
Gesamt 59.052 17.388 29,45% 45.077 13.124 29,11% 233 0,517%

Sowohl bei den Strafanzeigen als auch bei den Ordnungswidrigkeitenanzeigen machen ausländerrechtliche Delikte nicht einmal 30 % aus. Im Berichtszeitraum halbiert sich der Anteil der ausländerrechtlichen Strafanzeigen, während sich die Anzahl aller Anzeigen mehr als verdoppelt. D.h. eine massiv gewachsene Zahl von registrierten Verstößen – im Jahresdurchschnitt rund 70 % – stammt aus ganz anderen Bereichen, die mit den Schleierfahndungsaufgaben des BGS nichts zu tun haben.

Welche Delikte das sind, ist in dem Bericht nur zum Teil angegeben. Bei den Strafanzeigen schlagen die angegebenen Urkunds-, BtM- und Waffendelikte zusammen mit nur knapp 6,8 % zu Buche. Unter den Ordnungswidrigkeiten fallen die Anzeigen nach der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung auf, die im Jahresdurchschnitt mehr als 25 % ausmachen. Darunter zählen z.B. Verstöße wie Türöffnen vor Halt des Zuges, Überschreiten der Gleise ohne Genehmigung oder Beschmutzung von Bahnhöfen und Zügen. Allesamt Bagatellen, die höchstens zeigen, dass der BGS einen Großteil seiner Kontrollen in Zügen und Bahnhöfen vornimmt.

Geradezu abwegig werden die Erfolgsmeldungen, wenn es um die Bekämpfung der „Schleu­sungs­kriminalität“ geht. Der Bericht listet für die Jahre 1999-2002 724 Strafanzeigen wegen Einschleusens von Ausländern (§ 92a AuslG) und 34 wegen der gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusung auf (§ 92b AuslG). Bezogen auf die Summe der Kontrollen bedeutet dies eine Quote von 0,06 % bzw. 0,003 %. Der Anteil an allen Strafanzeigen liegt bei 1,23 bzw. 0,06 %. Setzt man dazu die in der PKS erfassten Schleusungen in Beziehung, zeigt sich, dass ca. 97-98 % der Schleusungen durch andere Umstände oder Maßnahmen als die BGS-Schleierfahndung entdeckt werden.

Tab. 3: Strafanzeigen wegen unerlaubter Einreise und Schleusungen – PKS und BGS-Schleierfahndung im Vergleich

  2001 2002
Anzeigen wegen PKS BGS Anteil PKS BGS Anteil
unerl. Einreisen 53.981 1.667 3,09% 44.211 852 1,93%
§ 92a AuslG 8.210 271 3,30% 7.004 249 3,56%
§ 92b AuslG 1.058 15 1,42% 1.295 0 0,00%
Gesamt 63.249 1.953 3,09% 52.510 1.101 2,10%

Für das Aufdecken von Schleusungen und unerlaubten Einreisen ist die Schleierfahndung durch den BGS daher ohne nennenswerte Bedeutung.

Die Auswertung der sächsischen Schleierfahndungsberichte fällt im Ergebnis ähnlich bescheiden aus. In den Jahren 2000 bis 2003 hat die sächsische Polizei insgesamt 520.439 Personen kontrolliert.[12] Auch hier sind die entdeckten unerlaubten Einreisen mit einer „Treffer“-Quote von 0,3 % marginal. Wie bei den BGS-Kontrollen sank die Zahl über den Berichtszeitraum stark: von 0,5 % auf 0,12 %; d.h. im Jahr 2003 musste die Polizei über 800 Personen kontrollieren, bis sie einen mutmaßlich unerlaubt Eingereisten ergriffen hat. Bezogen auf die im Jahr 2002 in Sachsen insgesamt gezählten 9.533 unerlaubten Einreisen, wurden gerade einmal 2,5 % durch die Schleierfahndung aufgespürt. Der Anteil der eingeleiteten Strafermittlungen beträgt im Jahresdurchschnitt lediglich 0,9 %. Auf 111 Kontrollierte kommt eine Strafanzeige. Auch in Sachsen ist die Schleierfahndung eher ein Stochern im Nebel. Für das Sächsische Innenministerium zeigten diese Zahlen jedoch, „dass die verdachtsun­abhängigen Kontrollen … bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität ihre Wirkung entfalten. Insbesondere die Zahl der eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren unterstreicht dies.“[13] „Insbesondere“ hätten sich die Kontrollen „als wirksames Einsatzmittel bei der Bekämpfung von ‚Schleusungen‘ bewährt.“[14] Wie bereits erläutert, lassen die Zahlen – wegen der fehlenden Erfassung – überhaupt keinen Rückschluss darauf zu, inwiefern es sich um grenzüberschreitende Kriminalität oder Schleusungen handelt.

Tab. 4: Festgestellte unerlaubte Einreisen und Strafanzeigen bei der Schleierfahndung durch die sächsische Polizei

 

Jahr
kontrollierte Personen unerlaubte

Einreisen

 

Anteil
 

Strafanzeigen
 

Anteil
2003 133.529 165 0,12% 1.186 0,89%
2002 127.087 234 0,18% 1.142 0,90%
2001 139.684 640 0,46% 1.290 0,92%
2000 120.139 596 0,50% 1.052 0,88%
Summe 520.439 1.635 0,31% 4.670 0,90%

Sinkende Zahlen z.B. bei den festgestellten unerlaubten Einreisen begründet das Innenministerium mit einem „Abschreckungseffekt“. Steigende Zahlen belegten hingegen die Effizienz der Kontrollen. Die Schleierfahndung ist damit aus sächsischer Sicht immer ein Erfolg. Einen Verdrängungseffekt nimmt das Ministerium dabei bewusst in Kauf, da er „zumindest zu keiner Belastung der sächsischen Bevölkerung durch Folgekriminalität führt!“[15] (Ausrufungszeichen im Original)

Die Aussagekraft der Statistiken für eine Wirksamkeitsprüfung ist im Ergebnis denkbar gering; die wenigen greifbaren Resultate deuten eher auf die Nutzlosigkeit der Schleierfahndung hin. Wegen der Erfassung der ausländischen Staatsangehörigen bieten die sächsischen Berichte jedoch noch weitere Interpretationsmöglichkeiten. Es lässt sich zumindest ablesen, in welchem Maße Nicht-Deutsche von der Schleierfahndung und insbesondere von den Folgemaßnahmen betroffen sind.[16]

Unter den 520.439 kontrollierten Personen wurden 115.217 ausländische Staatsangehörige gezählt; von den 353.864 überprüften Kfz waren 78.164 im Ausland zugelassen. Beide Anteile liegen damit bei rund 22 %. Betrachtet man vergleichend dazu den Ausländeranteil an den „Folgemaßnahmen“ wie Freiheitsentziehungen, Durchsuchungen, Sicherstellungen, Strafanzeigen etc., zeigt sich, dass AusländerInnen überproportional häufig betroffen sind: Knapp ein Drittel der Personen, „die zu Folgemaßnahmen Anlass gaben“, waren AusländerInnen. Am deutlichsten wird dies bei den Festnahmen bzw. Gewahrsamnahmen: Von den insgesamt 3.693 Freiheitsentziehungen richteten sich 2.406 gegen Nicht-Deutsche; das sind fast zwei Drittel. Eine Erklärung dafür ist allein anhand der Daten nicht möglich. Hier gilt ebenso wie für die PKS, dass die Zahlen eine Arbeitsstatistik der Polizei darstellen und nicht etwa die Wirklichkeit im Hinblick auf Kriminalität oder andere Gefahrenlagen abbilden. Zu überprüfen wäre daher z.B., inwiefern hier ethnische Vorurteile zu einer Selektivität bei der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr führen.

Kaum Hoffnung auf Besserung

Die Auswertung der vorliegenden Evaluationsberichte zur Schleierfahndung zeigt deutlich: Bereits vom Ansatz her gelingt es den Evaluationen nicht, den „Erfolg“ der Befugnis nachvollziehbar darzustellen. Entweder wurden die dafür notwendigen Daten gar nicht erhoben, oder vorhandene werden losgelöst von ihrer Aussage als „Erfolg“ für die Schleierfahndung uminterpretiert. Das Eigeninteresse der Polizeien und Innenministerien ist dabei unverkennbar: Einmal erlangte Befugnisse sollen nicht zurückgenommen werden. Die „Schein-Evaluationen“ dienen damit ausschließlich der Legitimierung der polizeilichen Praxis.

Um tatsächlich etwas über die Praxis verdachtsunabhängiger Kontrollen, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen zu erfahren, taugen die Berichte jedenfalls nicht. Offenbar ist dies auch nicht gewollt, könnte doch anderenfalls der Nutzen derartiger Kontrollmöglichkeiten massiv in Frage gestellt werden. Genau dies haben Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) und Polizeipräsident Dieter Glietsch jetzt getan: In Berlin sei bei lageabhängigen Kontrollen kein einziger einschlägiger Erfolg erzielt worden. „Auf die Schleierfahndung kann daher verzichtet werden“, lautet ihr Fazit.[17] Verzichten will der sächsische Gesetzgeber künftig nicht auf die Schleierfahndung, sondern auf die Berichtspflicht. Im Gesetzentwurf der CDU-Fraktion zur Änderung des sächsischen Polizeigesetzes sind sowohl die Befristung als auch die Berichtspflicht gestrichen.[18] Letztere könne entfallen, da der Verfassungsgerichtshof sie in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Schleierfahndung „nicht als unabdingbar herausgestellt“ habe.[19] Die dort geforderten vorab zu dokumentierenden Lageerkenntnisse und polizeibehördlichen Konzepte für Kontrollen außerhalb des 30-km-Bereichs genügten zum Schutz der Grundrechte, so die CDU. Der öffentlichen Kontrolle wird die Schleierfahndung damit künftig komplett entzogen sein. Denn: „Es ist aus rechtlichen Gründen nicht geboten und aus polizeitaktischen Gründen nicht sachdienlich, polizeibehördliche Konzepte und Lageerkenntnisse öffentlich zu machen,“[20] teilte Innenminister Horst Rasch bereits mit.

Der Bundestag hat im Dezember vergangenen Jahres die BGS-Schleierfahndung ebenfalls verlängert. Vor dem Hintergrund der EU-Ost-Erweiterung hat er sie mit einer neuen Frist bis zum 30.6.2007 versehen. Eine Evaluierung ist nun auch gesetzlich vorgeschrieben. Sie soll – nach den Vorstellungen des grünen Koalitionspartners – aufschlüsseln, wie viele Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, für die der BGS zuständig ist, wie viele „Zufallstreffer“ es gab und inwiefern die Kontrollen auf konkreten Lagebildern beruhten. Daneben sollen die Anzahl der Beschwerden, die negativen Auswirkungen auf Reisende (z.B. Reiseunterbrechungen, weil der/die Kontrollierte keine Ausweisdokumente bei sich hatte) sowie Zeit- und Personaleinsatz erfasst werden.[21]

Von einer unabhängigen, wissenschaftlichen Evaluation ist hier wieder nicht die Rede. Auch die Selektivität der Kontrollen lässt sich so nicht untersuchen. Dafür müsste man sozialwissenschaftliche Methoden anwenden, deren Ergebnisse höchst unbequem ausfallen könnten. Es ist zu befürchten, dass auch der nächste Bericht ein polizeilicher Selbsterfahrungsbericht zum Zwecke der Befugnissicherung sein wird.

Martina Kant ist Politologin und Redakteurin von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1]      Bundesministerium des Innern: Erfahrungsbericht zu § 22 Abs. 1a BGSG v. 3.9.2003
[2]     § 19 Abs. 1a des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen
[3]     Sachsen, LT-Drs. 3/3264 v. 4.1.2001, 3/5330 v. 22.11.2001, 3/8946 v. 5.8.2003, 3/10031 v. 13.1.2004. Die Berichte umfassen den Zeitraum 1.7.1999 bis 30.6.2003.
[4]     Sachsen, LT-Drs. 2/7794 v. 15.1.1998, S. 17
[5]     BT-Drs. 13/11159 v. 23.6.1998, S. 6
[6]     BT-PlProt. 13/245 v. 25.6.1998, S. 22828 (Redebeitrag Stadler, FDP)
[7]     BT-Drs. 14/3990 v. 14.8.2000, S. 5
[8]     BT-Drs. 14/3990 v. 14.8.2000, S. 4
[9]     ebd., S. 3
[10]   Alle im Folgendenden genannten Zahlen für den BGS entstammen dem Erfahrungsbericht des BMI a.a.O. (Fn. 1).
[11]    BMI a.a.O. (Fn. 1), S. 10
[12]   Soweit nicht anders angegeben entstammen die Zahlen zu Sachsen aus den Berichten des Sächsischen StMI a.a.O. (Fn. 3).
[13]   Sachsen, LT-Drs. 3/3264 v. 4.1.2001, S. 3
[14]   Sachsen, LT-Drs. 3/8946 v. 5.8.2003, S. 4
[15]   Sachsen, LT-Drs. 3/3264 v. 4.1.2001, S. 4
[16]   s. hierzu ausführlicher: Kant, M.: Verdachtsunabhängige Kontrollen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 65 (1/2000), S. 29-35 (30 f.)
[17]   zit. n. die tageszeitung v. 11.3.2004
[18]   Sachsen, LT-Drs. 3/9231 v. 18.9.2003
[19]   Sachsen, Verfassungsgerichtshof: Urteil v. 10.7.2003, Az.: Vf. 43-II-00, www.justiz. sachsen.de/gerichte/homepages/verfg/docs/43-II-00A.rtf; Der VGH sieht die Berichtspflicht sehr wohl als Verfahrensvorkehrung, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren, sie reiche allein jedoch nicht aus.
[20]  Sachsen, LT-Drs. 3/9264 v. 24.10.2003, S. 3
[21]   Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Pressemitteilung v. 10.12.2003