Polizei betreibt City-Pflege – Polizeiliche Aufenthaltsverbote in der Stadt Bern

von Karin Gasser

Die Schweizerische Bundeshauptstadt Bern ist bekannt für ihr mittelalterliches Stadtbild und die grüne Aare, die sich um die Altstadt windet. In dieser scheinbar so friedlichen Stadt nehmen Themen wie Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum seit einigen Jahren eine zentrale Position in der stadtpolitischen Diskussion ein.

Die Polizei hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich dieser Sicherheitsdiskurs unabhängig von realen Bedrohungen verselbständigt und verstärkt hat. Seit fünf Jahren praktiziert sie regelmäßig Wegweisungen aus bestimmten Zonen der Innenstadt und bringt sich damit im ganzen Land in die Schlagzeilen – und verletzt Grundrechte. Wegweisungsverfügung heißt das Zaubermittel, das ihr zur Verfügung steht, seitdem der Kanton Bern 1998 sein neues Polizeigesetz in Kraft setzte. Diese polizeiliche Praxis hat in der Schweiz Pilotcharakter – Nachahmungen anderer Städte sind absehbar, denn die Praxis genießt eine breite politische Unterstützung. Wie ist eine solch neue Strategie in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu verstehen? Worauf zielt sie im Grunde genommen ab und wie ist sie entstanden?

Der Artikel 29 lit. b im Berner Polizeigesetz ermöglicht es der Polizei, Personen, die die „öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder stören“, von einem Ort vorübergehend wegzuweisen. Die Betroffenen erhalten vor Ort eine Verfügung ausgestellt, in welcher der Sachverhalt in knappen Worten begründet wird. In der Verfügung ist auch angegeben, für welchen Perimeter sie gilt, das heißt, an welchem Ort oder in welcher Zone sich die weggewiesene Person nicht mehr aufhalten darf. Die Verfügung gilt in der Regel für drei Monate.

Als das neue Polizeigesetz und mit ihm der Wegweisungsartikel vor sechs Jahren in Kraft traten, wurden die Wegweisungen von den zuständigen Politikern als „ultima ratio“ bezeichnet und zunächst ausschließlich im Rahmen von Repressionsaktionen gegen mutmaßliche ausländische Drogendealer angewandt. Gut ein Jahr später setzte die Polizei das Instrument erstmals gegen die Alkoholikerszene rund um den Bahnhof und somit gegen nicht strafbares Verhalten ein. Seither hat sich die Wegweisung trotz heftiger Proteste von linksgrüner und außerparlamentarischer Seite zu einem polizeilichen Standardinstrument gemausert. In den Jahren 2001 und 2002 wurden jeweils ungefähr 800 Verfügungen ausgesprochen und 950 Anzeigen wegen Verstoßes gegen die Verfügungen eingereicht – für eine Stadt mit 130.000 EinwohnerInnen ist dies eine stattliche Zahl.

Die hohe Zahl der Anzeigen lässt darauf schließen, dass die Maßnahme nicht nur die polizeiliche Arbeit berührt, sondern das gesamte Justizsystem der Stadt belastet. Sobald es zu einer Anzeige kommt, weil sich jemand nicht an die Verfügung gehalten hat, gelangt die Sache vor den Untersuchungsrichter. Er stellt ein Strafmandat aus, zunächst eine Buße, später einige Tage Haft. Da viele der betroffenen Personen ihre Buße nicht zahlen können, häufen sich die Strafmandate in unübersichtlicher Art und Weise.

Gemäß Auskunft der zuständigen Polizeibeamten richtet sich der Großteil der Verfügungen gegen Drogenkonsumenten und Drogendealer. Gegen Alkoholkonsumenten, die ihr Bier statt in der Kneipe auf der Straße trinken, würden nur wenige Verfügungen ausgesprochen. Die öffentliche Diskussion dreht sich aber vorwiegend um diese kleine Gruppe weggewiesener Alkoholkonsumenten, in Presse und Politik „Randständige“ genannt. Dass sich die Diskussion hauptsächlich auf diese Gruppe konzentriert, ist verständlich, denn schließlich ist „Dahocken und Bier trinken ja nicht strafbar“, wie der ehemalige Polizeidirektor, der für die Einführung des Wegweisungsartikels mitverantwortlich war, in einem Interview bemerkte.[1] In Zusammenarbeit mit der kirchlichen Gassenarbeit gelang es dem Berner Anwalt Daniele Jenni, einige dieser Personen davon zu überzeugen, gegen die Verfügung Beschwerde einzulegen. Die meisten der Beschwerden wurden von der ersten Instanz (dem Gemeinderat, d.h. der städtischen Exekutive) oder der zweiten (dem Statthalter der Kantonsregierung) abgelehnt. Sie sind gegenwärtig beim kantonalen Verwaltungsgericht, der dritten Instanz, anhängig. Falls das Verwaltungsgericht ebenfalls zu einem ablehnenden Entscheid gelangen sollte, wollen die Betroffenen die Sache vor das Bundesgericht ziehen. Sie fordern die grundsätzliche Überprüfung der Vereinbarkeit des Wegweisungsartikels mit übergeordnetem Recht.

Auch auf politischem Weg wird immer wieder versucht, die Wegweisungspraxis zu stoppen. Die verschiedenen Vorstöße waren im städtischen Parlament bisher jedoch erfolglos – trotz rotgrüner Mehrheit im Rat. Es scheint sich die Meinung durchgesetzt zu haben, die Sicherheit im öffentlichen Raum sei ohne Wegweisungen nicht mehr zu gewährleisten. Eine eingehendere Analyse der Wegweisungsstrategie lässt allerdings vermuten, dass das Sicherheitsargument nur der vordergründigen Legitimation dient.

Gegen „Ansammlungen“ und „unziviles Verhalten“

„Die Polizei kann Personen von einem Ort vorübergehend wegweisen oder fernhalten, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder stören.“[2] Von zentraler Bedeutung in der Formulierung des Gesetzesartikels ist der eingeschobene Teilsatz „oder andere, die der gleichen Ansammlung zuzurechnen sind“. Dieser Satz bedeutet, dass die Zugehörigkeit zu einer Ansammlung reicht, um weggewiesen zu werden – unabhängig davon, ob man selber die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet oder gestört hat. Die „Ansammlung“ steht demzufolge im Zentrum des Interesses, und die Formulierung suggeriert, dass nicht von den einzelnen Individuen, sondern von ihrer Kollektivität eine Gefahr ausgeht.

Die offene Formulierung des Gesetzestextes kann unzählige Situationen umfassen und öffnet der Willkür Tür und Tor. Effektiv angewandt wird das Instrument der Wegweisung, wie bereits erwähnt, vorwiegend gegen zwei Personenkreise: Zum einen gegen Drogendealende und Drogenkonsumierende, zum anderen gegen Alkoholkonsumierende. Um gegen Erstere vorzugehen, wären mit dem Betäubungsmittelgesetz jedoch bereits andere rechtliche Grundlagen vorhanden. Es ist deshalb zu vermuten, dass die Wegweisung eher in jenen Situationen zum Zuge kommt, in denen zwar nicht direkt Drogen konsumiert oder verkauft werden, aber innerhalb der Szene Kontakte geschlossen werden – eine Art präventive Maßnahme also. Gemäß Auskunft der Verantwortlichen bei der Stadtpolizei hat die Verfügung zudem den Vorteil, dass sie sofort in Kraft tritt und beispielsweise noch zwei Monate lang gilt, wenn ein Drogenhändler nach einem Monat Haft wieder frei ist. Bei tatsächlich strafbaren Handlungen ist die Wegweisung demzufolge für die Polizei eine praktische Ergänzung zum strafrechtlichen Verfahren.

Bei nicht strafbaren Handlungen hingegen ist die Wegweisungsverfügung nicht bloß eine Ergänzung, sondern das einzige Instrument, das den Ordnungshütern zur Verfügung steht. In einem Merkblatt der Polizei, das die Anwendung der Verfügung näher umschreibt, werden mehrere Sachverhalte aufgelistet, die als solche nicht strafbar sind, von der Wegweisungsmaßnahme aber erfasst werden: „Übermäßiger Alkoholkonsum“, „unanständiges Benehmen“, „Anpöbelung vorübergehender Passanten“, „große Unordnung um sich herum“ usw.[3] In der Kriminologie werden diese Verhaltensweisen unter dem Begriff „incivilities“ zusammengefasst – durchwegs Aspekte, die einer bürgerlichen Vorstellung von Anstand widersprechen. Nebst den Verhaltensweisen selbst sind auch die konkreten Orte, an denen sie anzutreffen sind, von Bedeutung: Das heißt, dass ein „unziviles“ Verhalten nicht an jedem Ort in den Blickpunkt der Polizei gerät, sondern an manchen Orten stärker geahndet wird als an anderen. Diesen räumlichen Bezug weist die Wegweisungsstrategie sehr deutlich auf.

Schauplatz Innenstadt

Der Gesetzesartikel ist so offen formuliert, dass im Grunde genommen von jedem beliebigen Ort weggewiesen werden könnte. Zwei Jahre nach der Einführung des Artikels hieß aber der Regierungsstatthalter einige Beschwerden gut und verlangte gewisse Präzisierungen bei der Anwendung des Artikels. So erhielt die Polizei beispielsweise die Auflage, dass immer nur fünf Zonen, so genannte Perimeter, gleichzeitig definiert sein dürfen. Nur aus diesen fünf Zonen darf weggewiesen werden. Die Perimeter werden anlässlich eines Polizeirapports festgelegt und können demzufolge von der Polizei auch jederzeit neu bestimmt werden. In den letzten vier Jahren hat sie jedoch nur geringfügige Änderungen vorgenommen – vier der fünf ursprünglich festgelegten Perimeter blieben unverändert. Sie umfassen allesamt Zonen der Innenstadt: den Bahnhof und seine Umgebung, die wichtigsten Einkaufsstraßen, zentrale Parkanlagen.

Dass der Fokus auf Innenstadt-Räumen liegt, hat verschiedene Gründe. Einerseits sind diese Räume häufig bevorzugte Aufenthaltsorte von sozialen Randgruppen, denn sie bieten eine zentrale Lage und ermöglichen dennoch eine gewisse Anonymität. Andererseits kommt diesen Räumen aber auch ein hoher symbolischer und repräsentativer Wert zu. In der Dienstleistungsgesellschaft, die die Städte dazu zwingt, durch das Zur-Schau-Stellen einer bestimmten Symbolik neue Unternehmen und Kunden anzuziehen, sind solche nicht materiellen Werte von hoher Bedeutung. Das Stadtzentrum spielt als zentraler Schauplatz natürlich eine maßgebende Rolle. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die Konkurrenz mit den an den Stadträndern sprießenden Dienstleistungszentren, die „edge-cities“, die den wirtschaftlichen Druck auf das Stadtzentrum zusätzlich erhöhen.

Die offenen Drogenszenen zu Beginn der 90er Jahre haben dem Image vieler Städte stark zugesetzt – auch in Bern kämpften die PolitikerInnen mit solchen offenen Szenen, durch die soziales Elend plötzlich für alle sichtbar mitten in die Stadt gebracht wurde. Eine erneute Szenenbildung im öffentlichen Raum versucht man nun mit allen möglichen Mitteln zu verhindern und nimmt dabei sogar massive Einschränkungen der persönlichen Freiheit mancher Personen in Kauf. Im Vordergrund steht aber nicht die Bekämpfung der sozialen Probleme, sondern die Aufrechterhaltung eines makellosen Stadtbildes.

Attraktive Problemverschiebung

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Wegweisungsmaßnahme rechtsstaatlich bedenklich ist, denn sie ermöglicht eine Sanktion ohne Tatbestand und lässt der Polizei sehr viel Entscheidungsfreiheit: Die Polizei kann darüber entscheiden, ob eine Gruppe von Menschen die öffentliche Sicherheit und Ordnung stört oder gefährdet, und ihr obliegt die Definition der Zonen, in denen sie Wegweisungen vornimmt.

Die Wegweisungen werden auf politischer Ebene mit einer Erhöhung der Sicherheit im öffentlichen Raum begründet. Einige Aspekte weisen aber klar daraufhin, dass es sich hier keineswegs um eine kriminalpolitische Maßnahme handelt: Erstens wird sie nicht flächendeckend angewandt, wie dies zur Bekämpfung von Kriminalität im Sinne von „zero tolerance“ zu erwarten wäre. Die Folge ist eine räumliche Problemverschiebung ohne absehbares Ende. Zweitens beabsichtigt sie keine (strafrechtliche) Disziplinierung der betroffenen Menschen, sondern zielt lediglich darauf ab, sie im Stadtbild unsichtbar zu machen. Die City-Pflege, nicht der einzelne Mensch, steht im Zentrum.

Trotz des schlechten Zeugnisses von wissenschaftlicher Seite, der kritischen Medienberichterstattung und den politischen und juristischen Widerständen bleibt die Attraktivität der Maßnahme intakt. Die Polizeikommandanten anderer Städte blicken bereits neidisch in die Bundesstadt und warten auf die nächste Gesetzesrevision, im Zuge derer sie einen Wegweisungsartikel nach Berner Vorbild implementieren können. In Bern nehmen die Konflikte um zentrale öffentliche Räume derweil noch lange kein Ende: Bahnhofs- und Parkordnungen werden verschärft, Videoüberwachungen schleichend eingeführt und Sitzbänke abmontiert. Der öffentliche Raum verliert zunehmend an Öffentlichkeit und hat seinen Namen wohl bald nicht mehr verdient.

Karin Gasser ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Interfakultären Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie (IKAÖ) der Universität Bern.
[1] Der Bund v. 26.3.1999
[2] Artikel 29 lit. b im Polizeigesetz des Kantons Bern vom 8. Juni 1997
[3] Stadtpolizei Bern: Merkblatt Amtliche Verfügung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert