In der zweiten Reihe – Proteste gegen den Irak-Krieg und der Nötigungsparagraf

von Martin Singe

Am 20. März 2003 begannen die USA und ihre Verbündeten Bagdad zu bombardieren. Über ein Jahr danach ist ein Ende der Strafverfahren gegen Personen, die mit Sitzblockaden gegen diesen Krieg protestierten, nicht abzusehen. Dabei bemühen die Behörden erneut den Nötigungsparagrafen 240 des Strafgesetzbuchs (StGB).

Die US-Airbase Frankfurt ist in den Gesamtkomplex des Rhein-Main-Flughafens integriert, besitzt aber drei eigene Zufahrten. Diese waren wie bereits bei vorausgegangenen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg auch das Ziel von Aktionen am 15. und 29. März 2003, die die Kampagne „resist – sich dem Irak-Krieg widersetzen“ organisiert hatte. Vor dem Haupttor beteiligten sich an beiden Tagen jeweils etwa 2.000 bis 3.000 Personen an angemeldeten Demonstrationen. Nach dem Ende der offiziellen Kundgebung setzten etwa 2.000 ihren Protest fort und blockierten die Zufahrt zum Haupttor. Jeweils 30-50 Leute taten dasselbe vor den beiden Nebentoren. Die Polizei hat mit ihrer Einsatztaktik wesentlich zur Verfolgung der Teilnehmenden per Bußgeld- oder Strafverfahren beigetragen.

Die Groß-Blockaden am Haupttor wurden von der Polizei geräumt. Einen Teil der Demonstrierenden nahm sie in Gewahrsam, andere fuhr sie zu weiter entfernten Punkten (Verbringungsgewahrsam). Die Teilnahme an den Aktionen wertete die Polizei als Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und damit als Ordnungswidrigkeit. 1.363 Personen erhielten Bußgeldbescheide über jeweils 100 Euro (zuzüglich 18,50 Euro Gebühr). Nachdem fast alle Betroffenen Widerspruch eingelegt hatten, stellte die Kammer für Ordnungswidrigkeiten des Amtsgerichts Frankfurt sämtliche Verfahren ein. Allerdings konnten deshalb auch die Inhalte der Widersprüche nicht in Hauptverhandlungen gerichtlich geklärt werden. Trotz dieser Einstellungen will das Land Hessen jetzt ordentlich kassieren: Für jedes Wegtragen will es 30 Euro, für jeden Transport in den Gewahrsam 30 Euro. Für den Aufenthalt in den überfüllten Kachelzellen des Gewahrsams verlangt das Land Preise, die einer Übernachtung in einem Hotel mittlerer Preisklasse entsprechen: 51 Euro. Widersprüche gegen diese Kostenerhebungen laufen derzeit noch, eine erste Klage ist vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt anhängig.

Die Polizei ist am Haupttor für die Teilnehmenden völlig verwirrend vorgegangen. Die Aufforderungen zum Verlassen des Platzes waren wi­dersprüchlich, die Rechtsauskünfte mangelhaft bis rechtswidrig. Selbst im Gewahrsam konnten sich die BeamtInnen nicht einigen, was der Zweck der Freiheitsentziehung war: Die Angaben schwankten zwischen Gewahrsam aus bloß polizeirechtlichen Gründen, der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und dem strafrechtlichen Vorwurf der Nötigung.

Obwohl das Versammlungsgesetz höchstens Bußgelder von 1.000 Euro zulässt, hatte die Polizei in ihrer Lautsprecherdurchsage bei der Auflösung rechtswidrig mit einem Bußgeld von 15.000 Euro gedroht. Wie beliebig sie mit Rechtsnormen umgeht, wenn es um unerwünschten Protest geht, zeigt sich deutlich an der Antwort des für den Einsatz federführenden Frankfurter Polizeidirektors auf eine diesbezügliche Dienstaufsichtsbeschwerde: „Durch den von Ihnen beanstandeten Sprachgebrauch ‚Ordnungswidrigkeitsgeld bis 15.000 Euro‘ ist Ihnen und auch sonstigen Personen kein Schaden entstanden“, heißt es in dem Brief vom 30. Oktober 2003. „Die inhaltlich exaktere Durchsage an die Blockierer hätte darauf hingewiesen, dass sie sich nach § 240 StGB wegen Nötigung strafbar machen. In Abwägung der Unterschiedlichkeit dieser Durchsagen ist in ihrer Wirkung auf die Betroffenen kein Missverhältnis ersichtlich. Es ist auch trotz intensiver Bemühungen nicht mehr nachvollziehbar, wer in Person diesen Sprachgebrauch dem Beamten am Lautsprecher vorgab.“

Der Nötigungsvorwurf ist für die Haupttor-Aktionen völlig unhaltbar, da die Polizei selbst die Autobahnabfahrt, die zu diesem Tor führt, gesperrt hatte. In ihrem Lagebericht erkennt sie denn auch ausdrücklich an, dass diese Sperrung für eine Strafverfolgung wegen Nötigung „nachteilig“ war, weil „keine unmittelbaren Geschädigten aus der Nötigungshandlung der Versammlungsteilnehmer ermittelt werden konnten, da diese unerkannt an der gesperrten Ausfahrt vorbeifuhren.“[1] Um dennoch den Vorwurf der Nötigung zu konstruieren, hatte die Polizei an einem der beiden Aktionstage zwei US-PKWs im Polizeikonvoi bis an die Polizeikette vor der Blockade herangeführt – eine Aktion, die nur vor dem Hintergrund der „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs (BGH) erklärbar ist (siehe unten). Offensichtlich versprach man sich aber im Nachhinein keinen Verurteilungserfolg durch diesen eher peinlichen Versuch, künstlich „Nötigungs-Opfer“ zu schaffen.

Bundesverfassungsgericht und BGH im Streit

Anders nun an den Nebentoren. Hier kam es durch die Blockaden zu kurzfristigen Staus von Autos. Gegen rund 70 Personen beantragte die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht den Erlass von Strafbefehlen wegen Nötigung gemäß § 240 StGB. Damit wird der Nötigungsparagraf erstmals seit vielen Jahren wieder als Instrument zur Bestrafung von politisch unliebsamen AkteurInnen eingesetzt.

Mit diesem Vorgehen der Behörden hatte niemand von uns gerechnet. In allen Rechtsinfos hatte „resist“ darauf hingewiesen, dass die Ak­tionen nur als Ordnungswidrigkeiten verfolgt werden könnten. Ausgangspunkt für diese Einschätzung war der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 10. Januar 1995.[2] Das Gericht hatte damals entschieden, dass der Gewaltbegriff des § 240 StGB nicht auf gewaltfreie Sitzblockaden, die durch die rein körperliche Anwesenheit von Personen gebildet werden, angewendet werden dürfe. Die bis dahin extensive Aus­legung des Gewaltbegriffes widerspreche dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes.

Nur ein halbes Jahr danach verletzte der BGH diese verfassungsrichterliche Vorgabe. In seinem Urteil vom 20. Juli 1995[3] erfand er die so genannte Zweite-Reihe-Rechtsprechung: Der Sitzblockierer halte nur das erste Auto rein psychisch, also ohne Gewalt, auf. Er instrumentalisiere dieses Auto jedoch zur materiellen Blockade für die nachfolgenden Fahrzeuge, die dann durch die ersten Autos physisch, also mit Gewalt, aufgehalten würden. Dieses Urteil hat in der anschließenden politischen und juristischen Praxis jedoch kaum Anklang gefunden. Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz hat dem BGH 1996 offensiv widersprochen.[4] Noch etliche Jahre nach dem BGH-Urteil rehabilitierten Gerichte Pershing- und Cruise-missiles-BlockiererInnen in Wiederaufnahmeverfahren mit Hinweis auf die BVerfG-Rechtsprechung. Auf gewaltfreie Sitzblockaden z.B. gegen Castor-Transporte fand der § 240 keine Anwendung mehr.

Der BGH fährt allerdings schon seit langem in dieser Frage einen Gegenkurs zum BVerfG, und dies durchaus aus politischen Gründen. Ein Wegbereiter des BGH-Urteils, Prof. Dr. Volker Krey, Richter am OLG Koblenz/Trier, kommentierte 1995: „Der jeweilige Standpunkt zur Frage, ob Sitzblockaden als Nötigung mit Gewalt zu bestrafen seien, ist seit langem zur ‚Erkennungsmelodie für links und rechts‘ geworden. Im übrigen sei der Hinweis erlaubt, dass dem BGH ein weiteres Verdienst gebührt: Er hat gegenüber einem Gericht, ‚das aus dem Ruder läuft‘, deutlich gemacht, wem die Kompetenz für die Auslegung und Anwendung von StGB und StPO zukommt.“[5] Dagegen hatte das BVerfG gehalten, dass dem Gesetzgeber selbst die Kompetenz zukomme, eine Strafbarkeitslücke gegebenenfalls durch ein neues Gesetz zu schließen, falls er meine, eine solche wäre durch eine Verfassungsgerichts­entscheidung aufgetreten. An den Auseinandersetzungen um die Auslegung des § 240 StGB wird deutlich, dass dieser immer vor allem dazu dienen sollte, politisch unliebsamen Protest zu unterdrücken bzw. zu kriminalisieren.

Die Staatsanwaltschaft kennt kein Völkerrecht

Wie die konkreten Verfahren in Frankfurt ausgehen werden, ist ungewiss. Gegen 20 Personen wurden Prozesse bereits geführt, gegen rund 40 Personen stehen diese noch aus. Das jeweilige Ergebnis hängt dabei in starkem Maße von der politischen Position des Richters ab.

Der Frankfurter Amtsrichter Rupp hatte die von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafbefehle erst gar nicht unterzeichnet. Das Landgericht zwang ihn jedoch zu einer Hauptverhandlung: Wenn er schon nicht verurteile, so hatte die Staatsanwaltschaft moniert, dann müsse er die zur Debatte stehenden Fälle wenigstens ins Ordnungswidrigkeitenrecht überleiten, mit andern Worten: ein Bußgeld verhängen. Am 14. Juni 2004 ließ Rupp also gegen vier Angeklagte verhandeln. Dabei erteilte er der Staatsanwaltschaft eine schwere Rüge: Sie benutze das Ordnungswidrigkeitenrecht, um eine Hauptverhandlung zu erzwingen. Den Vorwurf der Nötigung, an dem die Anklage unverdrossen festhielt, nahm Rupp unter Hinweis auf das BVerfG-Urteil von 1995 auseinander. Er verurteilte die Angeklagten schließlich zu einem Bußgeld von 5 Euro pro Person wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.

Auch Richter Biernath hatte in einer Verhandlung gegen drei Angeklagte anfänglich einen Freispruch angedeutet, kam am Ende jedoch bloß zu einer Einstellung des Verfahrens gegen Geldbuße. Er entsprach damit dem Wunsch der Angeklagten, die aus persönlichen Gründen an einem Ende des Verfahrens interessiert waren.

Die Staatsanwaltschaft hält nämlich strikt an der Zweiten-Reihe-Rechtsprechung des BGH fest und will gegen jeden Freispruch in Berufung gehen. Insgesamt fährt die Richterschaft nicht diesen scharfen Kurs. Die Urteile bewegen sich zwischen Einstellungen gegen Bußgeld, Verwarnungen mit Strafvorbehalt und Verurteilungen wegen Nötigung, meistens zu 15-20 Tagessätzen. Im letzteren Falle unterstellen die RichterInnen ohne irgendwelche argumentative Abwägungen, dass die Kriterien Gewalt und Verwerflichkeit des Nötigungsparagrafen erfüllt seien.

Rupp und Biernath waren bislang die einzigen, die auf den völkerrechtswidrigen Charakter des Irak-Krieges, den die USA auch von ihrer Frankfurter Basis führten, Bezug nahmen. Ansonsten spielte diese Frage höchstens für das Strafmaß eine Rolle. „Auf dieses Glatteis führen Sie mich nicht“, lautete der Kommentar eines Richters. Rechtfertigungsgründe werden nicht diskutiert. Insgesamt liefert die Frankfurter Justiz in den Verfahren wegen der „resist“-Blockaden ein überwiegend klägliches Selbstzeugnis.

Immerhin sind etliche der verurteilten „resistenten“ bereit, den Instanzenweg zu beschreiten, notfalls erneut bis zum Bundesverfassungsgericht. Das erste Verfahren vor dem Landgericht findet am 15. September statt. Bis Ende des Jahres sind etliche weitere Verfahren terminiert.

PS: Nach Redaktionsschluss wurde bekannt, dass das Amtsgericht am 22. Juli vier Personen vom Vorwurf der Nötigung freigesprochen hat.

Martin Singe arbeitet im Sekretariat des Komitees für Grundrechte und Demokratie in Köln. Aktuelle Gerichts-Termine können jederzeit beim Komitee erfragt werden (Tel.: 0221-9726920).
[1] Bericht von Polizeihauptkommissar W.S. v. 2.4.2003 (enthalten in einer Verfahrensakte)
[2] abgedr. in: Strafverteidiger 1995, H. 5, S. 242-245, Az.: 1 BvR 718/89, 719/89 u.a.
[3] abgedr. in: Neue Juristische Wochenschrift 1995, H. 40, S. 2643-2645, Az.: 1 StR 126/95
[4] Urteil v. 24.6.1996, in: Neue Juristische Wochenschrift 1996, H. 50, S. 3351-3353
[5] Krey, V.: Nötigung durch Straßenblockade, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1995, H. 11, S. 541-544 (542 f.)

Bild: Indymedia