von Heiner Busch
Der Verfassungsvertrag ist vorerst politisch erledigt. Die wirkliche Verfassung der EU ist geblieben.
Was würde passieren, wenn von einem Tag auf den anderen alle Bibliotheken abbrennen und sämtliche Exemplare des Verfassungstextes verschwinden würden? So lautete die zentrale Frage in Ferdinand Lassalles berühmter Rede über das „Verfassungswesen“ aus dem Jahre 1862.[1] Die Antwort: Nichts. Die „wirkliche Verfassung“, nämlich die „tatsächlichen Machtverhältnisse“ im Staat, seine Institutionen, seine Armee, bliebe bestehen. Alles ginge weiter seinen gewohnt herrschaftlichen Gang. „Ein König, dem das Heer gehorcht und die Kanonen – das ist ein Stück Verfassung.“
Der Gründervater der deutschen Sozialdemokratie formulierte seine Frage vor anderthalb Jahrhunderten im Kontext der preußischen Verfassungsdiskussion. Sie ließe sich heute – leicht abgewandelt – auf die Europäische Union übertragen: Was passiert nun, nachdem die BürgerInnen Frankreichs und der Niederlande den „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ in den Volksabstimmungen des letzten Jahres abgelehnt haben? Die Antwort: Der mehrere hundert Seiten dicke Verfassungsvertrag mit seinen Zusatzdokumenten ist von der politischen Agenda der EU verschwunden. Doch obwohl er als Text mausetot ist, erweist sich sein Inhalt als quicklebendig. Und zwar deswegen, weil die abgelehnte EU-Verfassung in weiten Teilen der traurigen Verfassungswirklichkeit der EU und den politischen Planungen ihrer Institutionen entspricht, denen er mehr legitimatorischen Glanz verleihen sollte.
In Lassalles Worten: Der Binnenmarkt, der eigentliche Kern der EU – „das ist ein Stück Verfassung“. Die Freiheiten dieses Marktes – die freie Zirkulation von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen (Arbeit) – sind die eigentlichen Grundrechte der EU. Sie sind unendlich konkreter als die blasse Grundrechte-Charta im zweiten Teil des Verfassungsvertrags und werden von den EU-Institutionen ernst genommen. Die nach ihrem Urheber, dem ehemaligen EU-Kommissar Frits Bolkestein, benannte Dienstleistungsrichtlinie wurde zwar nach heftigen Protesten vorerst etwas abgespeckt, die vollständige Markt-Liberalisierung auch der sozialen Dienstleistungen bleibt jedoch Programm der Kommission.
Ein „Stück Verfassung“ ist auch die militarisierte Außenpolitik der EU, deren Grundlagen bereits ab Ende der 90er Jahre gelegt wurden: Der Aufbau von „Kapazitäten“ für die militärische und zivile (d.h. nicht ganz so militärische, in erster Linie polizeiliche) „Krisenbewältigung“ bis hin zu Kampfeinsätzen von „battle groups“ ist längst beschlossene Sache. In trockenen Tüchern ist auch die Rüstungsagentur, die in der Schlussversion des Verfassungstextes zur „Verteidigungsagentur“ mutiert war. Art. I-43 Abs. 3 hätte den militärisch-industriellen Komplex in den EU-Verfassungsrang erhoben: Die Agentur soll die Bildung von „Kapazitäten“ durch die Förderung neuer Technologien unterstützen und für die notwendige industrielle Basis sorgen. Für ihre Einsetzung bedurfte es letztlich der Aureole des Verfassungsartikels nicht; es reichte eine „Gemeinsame Aktion“, die der Ministerrat im Juli 2004 annahm.[2] Zu diesem Zeitpunkt war der Verfassungsvertrag noch nicht einmal unterzeichnet. Dass er nicht in Kraft treten wird, stört die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur unwesentlich. Die halbjährlichen Berichte der wechselnden EU-Präsidentschaften vermelden ständige Fortschritte – beim Ausbau der „Kapazitäten“, bei den regelmäßigen Übungen und natürlich auch bei den Operationen und Missionen, deren derzeit neueste in der Demokratischen Republik Kongo im Gange ist.[3]
Verfassungsvertrag hin oder her – Kontinuität herrscht auch in der Justiz- und Innenpolitik. Die zentralen Stichworte aus dem einschlägigen Kapitel des Verfassungstextes (Teil III Kapitel IV) haben sich keineswegs dadurch erledigt, dass dieser Text auf Eis gelegt ist. Kommission und Ministerrat arbeiten munter weiter an der „schrittweisen Einführung“ eines „integrierten Grenzschutzsystems an den Außengrenzen“, das die restriktive Asyl- und Einwanderungspolitik mit Zähnen und Klauen versieht: Die Europäische Grenzschutzagentur (Frontex) hat ihre Arbeit aufgenommen, gemeinsame Einsatzteams helfen vor den Kanarischen Inseln und vor Lampedusa den nationalen Grenzpolizeien, die „illegale Einwanderung“ afrikanischer Flüchtlinge abzuwehren.[4] Die umstrittene Asylverfahrensrichtlinie mit ihrer doppelten Drittstaatenklausel ist verabschiedet, eine Liste „sicherer“ Drittstaaten in Vorbereitung. Neue elektronische Instrumente der Abschottung – insbesondere das Visa-Informationssystem (VIS) – sind im Aufbau.[5]
„Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen“, hieß es in Art. III-270 des Verfassungstextes. Dieser Grundsatz stand schon hinter dem Rahmenbeschluss über den EU-Haftbefehl aus dem Jahre 2002. Nahezu fertig gestellt hat der Rat nun einen weiteren Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung, der strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen in einem Mitgliedstaat auf Anordnung der Justizbehörden eines anderen ermöglicht. Die Rechte der Beschuldigten bleiben bei dieser gegenseitigen Anerkennung weitgehend auf der Strecke. Die dünne Vorlage, die die Kommission hierzu vorgelegt hat, ist in den Beratungen des Ministerrates weiter abgemagert.[6]
Gleiches gilt für einen Rahmenbeschluss-Entwurf über den Datenschutz, der die Einführung des „Grundsatzes der Verfügbarkeit“ beim Austausch polizeilicher Daten etwas abfedern sollte.[7] Der Datenschutz kann warten, so sagen einige mächtige Mitgliedstaaten. Hauptsache der „freie Markt“ für Polizeidaten, ihre „Verfügbarkeit“ über die Grenzen hinweg, wird schnell verwirklicht.
Die Parole der EU-Innen- und JustizpolitikerInnen lautet: „Weiter im Text.“ Und maßgebend ist für sie dabei der Text des auf dem EU-Gipfel im November 2004 verabschiedeten Haager Programms, das die Aufgaben für die Innen- und Justizpolitik der folgenden fünf Jahre detailliert benannte und mit Fristen versah.[8] Der Verfassungsvertrag habe dabei „als Leitlinie für das anzustrebende Ziel gedient“, heißt es in diesem Fünfjahresplan der ansonsten so marktbesessenen EU. Die Leitlinie wird nun nicht wie vorgesehen Ende 2006 in Kraft treten. Das macht aber nichts: Die zu diesem an sich unbedeutenden „Wechsel der Rechtsgrundlage“ vorgesehene „Überprüfung“, ob der Plan denn bis dahin erfüllt wäre, fällt dann eben aus. Die wirkliche Verfassung der EU stand ohnehin nicht zur Disposition.
Die falsche Frage nach der Souveränität
Die EU wächst zusammen, und sie tut das nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet durch den expansiven Binnenmarkt, sondern auch und gerade in den traditionellen Kernbereichen staatlicher Souveränität: beim Militär, bei der Inneren Sicherheit und bei der Sicherung der Grenzen nach außen.
Förmliche eigene Zuständigkeiten besitzt die EU bisher nur beim letzten Punkt. Sie verfügt zwar (noch) nicht über eine eigene Grenzpolizei, aber die Grenzpolizeien der Mitgliedstaaten überwachen die Außengrenze „im gemeinsamen Interesse“, mit gemeinsamen Instrumenten (dem Schengener Informationssystem und demnächst dem VIS) und – siehe oben – einer gemeinsamen „Agentur“ zur Koordination. Für diejenigen, die als Flüchtlinge oder ImmigrantInnen ohne das nötige Kleingeld nach Europa wollen, ist die EU längst ein zusammenhängendes Territorium, das nicht erst auf der teilweise mit Mauern und Stacheldraht bewehrten Grenzlinie beginnt. Die EU-Außengrenzen sind dynamisch: Sie erstrecken sich von den Pufferstaaten, deren Polizei und Militär im Interesse der EU gegen „illegale ImmigrantInnen“ vorgehen, bis hinein ins Inland der Mitgliedstaaten, wo „DrittausländerInnen“ einer verschärften Kontrolle unterliegen.
Formell sind Militär und Außenpolitik sowie Polizei und Strafrecht nur Gegenstand intergouvernementaler Zusammenarbeit. Einen Außenminister hat die EU nicht. Der Verfassungsvertrag hätte diesen Posten förmlich geschaffen. Vorerst amtiert der Generalsekretär des Rates als Schattenaußenminister, dem schon heute die Entwicklung der militärischen Kooperation und deren Koordination obliegt.
Es gibt auch keinen EU-Innenminister. Der im Verfassungsvertrag vorgesehene Ausschuss für die operative Zusammenarbeit (COSI), der alle polizeilichen Einrichtungen der EU samt dem geheimdienstlichen Lagezentrum (SitCen) zusammenführen soll, entsteht auch ohne diese Rechtsgrundlage. Für die Polizeibehörden stellen die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten immer weniger eine echte Begrenzung dar. Ein zusammenhängendes Polizeirecht gibt es zwar auf EU-Ebene nicht. Aber erstens hat schon das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) erste Grundlagen für (binnen-)grenzüberschreitende polizeiliche Methoden gelegt. Zweitens hat die EU in den vergangenen Jahren mit der (vorgeschobenen) Begründung, den Terrorismus bekämpfen zu wollen, eine Masse von neuen Beschlüssen und Rahmenbeschlüssen hervorgebracht, die für die Mitgliedstaaten verbindlich sind. Drittens belegen beispielsweise die großenteils aus Empfehlungen und „Leitfäden“ bestehenden Regeln der EU in Bezug auf Demonstrationen und Sportereignisse, wie wirksam „soft law“ sein kann. Viertens geht das Netz aus bi- und multilateralen Abkommen und Absprachen, die auf dem SDÜ aufbauen, mittlerweile erstaunlich weit. Teilweise räumen die Mitgliedstaaten ihren PolizeibeamtInnen gegenseitig selbst exekutive Befugnisse ein. Mit dem „Prinzip der Verfügbarkeit“ werden fünftens auf mittlere Sicht auch die Binnengrenzen zwischen den polizeilichen Datenbanken fallen.
Das Polizeirecht der EU mag ein Flickenteppich mit einigen Löchern sein, dennoch ist die EU auch in Sachen Polizei (und ähnlich hinsichtlich der Militärpolitik) erheblich mehr als eine supranationale Organisation, in der souveräne Staaten in ausgewählten Einzelfragen zusammenarbeiten. Die EU ist vielmehr ein – noch – unvollständiger Staat. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Zweite und Dritte Säule der EU nicht „vergemeinschaftet“ sind und die Kommission als „europäische Exekutive“ hier zwar eine wachsende, aber keine bestimmende Rolle spielt. Eine „EU-Regierung“ gibt es nicht; es sind die nationalen Regierungen, die im (Minister-)Rat den Ton angeben. Sie handeln dabei aber nicht mehr einzeln, sondern als Verbund. Sie betreiben eine EU-Gesetzgebung, die stark in den nationalen Rahmen eingreift, deren Umsetzung auf nationaler Ebene verbindlich ist und von Rat und Kommission eingefordert und überprüft wird.
Wie gering der Spielraum der nationalen Instanzen ist, wurde am Beispiel des EU-Haftbefehls deutlich sichtbar. Sowohl die damalige rot-grüne Bundesregierung als auch die konservativ-liberale Opposition haben den Rahmenbeschluss bei seiner Verabschiedung im Juni 2002 als „Anti-Terror-Maßnahme“ beklatscht. Als es dann im Rechtsausschuss des Bundestages an die Umsetzung in deutsches Recht ging, mussten die VertreterInnen der Parteien allesamt feststellen, dass dieser Rahmenbeschluss an den Grundfesten des deutschen Strafverfahrensrechts rüttelte. Das Ergebnis war ein Umsetzungsgesetz, welches das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig kassierte. Das Gericht wagte es allerdings nicht, den Rahmenbeschluss selbst anzutasten, weil es eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof befürchtete.[9]
Die EU-Gesetzgebung hebelt nationale Begrenzungen aus. Und sie wird von den nationalen Regierungen auch systematisch dazu benutzt. Der verflossene Bundesinnenminister Otto Schily konnte sich auf diese Weise eine nochmalige öffentliche Diskussion um die Einführung biometrischer Pässe sparen. Eine mit maßgeblicher deutscher Beteiligung zu Stande gekommene EU-Verordnung reichte aus.
Für eine neue und andere Verfassungsdebatte
Der unvollständige Staat EU hat nicht nur ein „Demokratiedefizit“, das sich mit leichten Retuschen ausgleichen ließe. Seine Gesetzgebung ist exekutiv-lastig, und sie wird es auch bleiben, wenn der Rat demnächst beschließen sollte, seine Entscheidungen in der Dritten Säule mit qualifizierter Mehrheit zu fassen und das Europäische Parlament (EP) daran zu beteiligen. Dafür sorgen nicht nur die festgezurrten Acquis, die rechtlichen „Besitzstände“ der Union, hinter die das EP nicht zurückfallen und die es faktisch nicht in Frage stellen darf. Dafür sorgt auch das Parlament selbst, das von den konservativen und sozialdemokratischen Staatsparteien der Mitgliedstaaten dominiert wird, deren Abgeordnete im „Ernstfall“ – siehe die Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten[10] – so abstimmen, wie man es ihnen zu Hause vorgibt. Unter dieser Voraussetzung dürfte eine stärkere Parlamentarisierung nur eine Beschleunigung der EU-Politik bewirken, nicht aber ihre grundsätzliche Neuorientierung und Demokratisierung. Was der EU fehlt, ist eine kritische Öffentlichkeit. Die aber ist bereits auf nationaler Ebene kaum vorhanden.
Der Marktliberalismus, die Militarisierung und repressive Ausrichtung der EU nach innen und an ihren äußeren Grenzen – das waren die wesentlichen Einwände der GegnerInnen des Verfassungsvertrags. Zumindest in Frankreich und den Niederlanden konnten sie die Bevölkerung überzeugen. Jetzt braucht Europa eine neue Verfassungsdiskussion, eine die die „wirkliche Verfassung“ der EU aufs Korn nimmt.
Heiner Busch ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Lassalle, F.: Über Verfassungswesen, in: ders.: Reden und Schriften, München 1970, S. 81-86
[2] Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. EU) L 245 v. 17.7.2004
[3] Bericht der Präsidentschaft im 1. Halbjahr 2006: Ratsdok. 10418/06 v. 12.7.2006
[4] siehe den Beitrag von Mark Holzberger in diesem Heft, S. 56-63
[5] siehe S. 29-43 in diesem Heft
[6] siehe Bürgerrechte & Polizei/CILIP 83 (1/2006), S. 86 f.
[7] siehe den Beitrag von Tony Bunyan in diesem Heft, S. 21-28
[8] Ratsdok. 16054 v. 13.12.2004, s. den Beitrag von Norbert Pütter in diesem Heft, S. 9-20
[9] s. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 81 (2/2005), S. 87-89
[10] Holzberger, M.: Aktenberge bis zum Mond, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 82 (3/2005), S. 59-67
Bibliographische Angaben: Busch, Heiner: Europäischer Staat (im Aufbau). Die EU in schlechter Verfassung, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 84 (2/2006), S. 3-8