Bild: Jason Kirkpatrick, SpiedUpon.com

Das Dickicht der Dienste – Der Einfluss des Verfassungsschutzes in § 129a-Verfahren

von Martin Beck

Zu vermuten ist sie immer. Offensichtlich wurde sie oft. Sie nachzuzeichnen gelang selten: die Steuerung so genannter Terrorismusverfahren durch den Verfassungsschutz. Ein eklatantes Beispiel dafür bietet nun das Ermittlungsverfahren 2 BJs 10/06-2 gegen 17 AktivistInnen der Anti-G8-Bewegung, das die Bundesanwaltschaft (BA) im April 2006 einleitete.

So spektakulär dieses Ermittlungsverfahren in die Öffentlichkeit drang, so spektakulär sein vorläufiger Ausgang: Am 9. Mai 2007 waren mehrere hundert BeamtInnen des Bundeskriminalamtes (BKA), verschiedener Landeskriminalämter und der Bereitschaftspolizei aufgeboten, um in Berlin, Bremen und Hamburg, in Brandenburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein 40 Wohnungen, Büros und Projekte der linken Szene zu durchsuchen.[1] Sie waren auf der Suche nach vermeintlich konspirativen Strukturen einer ominösen „militanten Kampagne zur Verhinderung des G8-Gipfels“, die unter verschiedenen Gruppennamen vor allem im Raum Hamburg und Berlin zwölf Brandanschläge auf Autos und Gebäude durchgeführt haben soll. Festnahmen gab es keine.

Die Razzien fanden knapp einen Monat vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten in Heiligendamm statt. Sie standen im Zusammenhang mit zwei Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 20 Personen wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ nach § 129a Strafgesetzbuch (StGB). Bei drei Personen handelte es sich um Ermittlungen gegen die „militante gruppe“ (mg), auf deren Konto seit 2001 mehrere Brandanschläge gehen. 17 AktivistInnen waren ins Visier der ErmittlerInnen geraten wegen der Gründung einer „terroristischen Vereinigung“ namens „Militante Kampagne zum Weltwirtschaftsgipfel – G8-2007 in Heiligendamm“. Umfangreiches Material, darunter Mailinglisten, Mailpostfächer und Computer, wurde am 9. Mai 2007 beschlagnahmt. Besonders interessierte die ErmittlerInnen das alternative Internetprojekt so36.net, über das ein Großteil der internetgestützten Kommunikation der Anti-G8-Mobilisierung abgewickelt wurde.

Im Dezember 2007 erklärte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) auf Beschwerde eines Beschuldigten, die Durchsuchungen und die Beschlagnahme im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen die 17 AktivistInnen für rechtswidrig.[2] Der BGH erkannte keine „besondere Bedeutung des Falles“ und verneinte die Zuständigkeit der BA – selbst dann, wenn die Beschuldigten als „kriminelle Vereinigung“ eingestuft würden. Der Staatsschutzsenat des BGH meldete allerdings „nachhaltige Zweifel“ an, ob es die von Verfassungsschutz, BKA und BA imaginierte Vereinigung überhaupt gäbe. Inzwischen hat die BA das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Hamburg abgegeben.

Am Anfang war das Wort

Angeregt, bestimmt und am Laufen gehalten wurden die Ermittlungen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Wie BfV und BKA zusammenarbeiten, darüber geben die rund 10.000 Seiten Akten Auskunft, die den Beschuldigten zwei Monate nach den Durchsuchungen vom 9. Mai 2007 zugestellt wurden.[3] Sie enthalten rund 270 Berichte, Vermerke, Gutachten usw.; rund 40 Prozent hat das BfV beigesteuert.

Bereits am Rande der Sicherheitskonferenz SECON in Warnemünde im November 2006 hatte der BKA-Chef Jörg Ziercke vor einer „terroristischen“ Gefahr im Inneren gewarnt: „Es gibt eine breite, auch militante Kampagne gegen den Gipfel. Wir müssen uns auf die entsprechende Planung von Straftaten einstellen.“ Die Szene stehe jedoch unter Beobachtung, besonders gefährliche EinzeltäterInnen seien bekannt.[4]

Zu diesem Zeitpunkt ermittelte seine Behörde schon seit neun Monaten in diese Richtung – auf Anregung des BfV: Im Visier waren vier Berliner und ein Hamburger, die seit den 80er Jahren in der autonomen Szene aktiv sind. Die Kölner VerfassungsschützerInnen meinten Ende 2004/­An­fang 2005 aufgrund einer jahrelangen Telefonüberwachung vier Berliner identifiziert zu haben, die eine „militante Kampagne“ zum G8-Gipfel planen würden. Dabei handelte es sich um die tatsächlichen bzw. vermeintlichen Autoren des Buches „Autonome in Bewegung“.[5]

Die geheimdienstliche Einschätzung fußte auf der Telefonüberwachung von zumindest zwei Wohnungen späterer Hauptbeschuldigter. Die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) erfolgte mindestens seit dem Jahr 2000 auf Grundlage der Anordnung 0253, die offenbar von der für die Überprüfung zuständigen G10-Kommission in den folgenden Jahren wenigstens zehn Mal für jeweils sechs Monate verlängert wurde. Aus welchem Grund die Überwachung stattfand, ist nicht bekannt.[6]

Unter Dauerüberwachung

Im Juli 2005 leitete das BfV gegen die vier Berliner Buchautoren wegen des bevorstehenden G8-Gipfels eine neue G10-Maßnahme ein (Anordnung 3003). Hintergrund waren abgehörte Telefonate, die einen allgemeinen Bezug auf den Gipfel hatten. Zusätzlich zur TKÜ wurden nun die Hauseingänge zweier Beschuldigter videoüberwacht. In der Folge wurde bei jedem Brandanschlag überprüft, ob die Beschuldigten zu Hause waren und wo und wann sie in der Zeit telefoniert hatten. Die Daten stellte das BfV später dem BKA zur Verfügung. Die ganze Palette geheimdienstlicher Tätigkeit wie V-Leute-Einsatz, verdeckte Ermittlung, Rasterfahndung, Datenabgleich mit anderen Behörden kam nun zum Einsatz.

Einer der Beschuldigten fasste die dahinterstehende Logik so zusammen: „Gemäß der einfachen Gleichung: Wenn die Betreffenden am Telefon sagen ‚Wir wollen was zum G8 machen‘, meinen sie damit laut Verfassungsschutz, ‚was militantes machen‘, was gleichbedeutend ist mit ‚wir wollen Anschläge machen‘.“[7] Anschaulich wird dieses Interpretationsmuster an der Bewertung, die das BfV von einem Telefonat des späteren Hamburger Beschuldigten S. vornahm: „Angesichts des engen ‚politischen‘ Vertrauensverhältnisses von S. zu B. und M., aber auch zu L., dürfte S. klar gewesen sein, dass es dabei nicht um die Vorbereitung einer friedlichen Großdemonstration ging, sondern um Planungen für eine – militant ,flankierte‘ – längerfristige Kampagne.“

Zwei Wochen, nachdem die neue G10-Maßnahme eingeleitet worden war, kam es im Hamburger Umland zu einem Brandanschlag auf das Auto des Vorstandsvorsitzenden der Norddeutschen Affinerie, Werner Marnette. In der Anschlagserklärung wurde die Aktion als „Vorschlag für eine breite, auch militante Kampagne zum G8-Gipfel 2007“ bezeichnet. Das Amt sah sich nun in seiner Einschätzung bestätigt und wertete diesen Anschlag als Auftakt der von den vier verdächtigten Berlinern geplanten „militanten Kampagne“ gegen das G8-Treffen in Heiligendamm – unter Einbeziehung des Hamburgers S., gegen den ab Januar 2006 ermittelt wurde. Ende August kam auch das BKA zu dem Ergebnis, dass der Hamburger S. mutmaßlicher Autor des Bekennerschreibens zu diesem Anschlag sei.

Im Oktober 2005 ereignete sich ein Brandanschlag auf das Gästehaus der Bundesregierung in Berlin-Tegel. Durch Textvergleich mit älteren Bekennerschreiben glaubte das BKA, den Berliner B. als Verfasser identifizieren zu können. Die Analyse des BfV kam zwar zu einem anderen Ergebnis und verortete die Verfasser im militanten Antikriegsspektrum, was aber im weiteren Verlauf der Ermittlungen keine Rolle spielte; wie bei einigen anderen „Erkenntnissen“ wurden Widersprüche im Zuge der Ermittlungen einfach nicht weiter verfolgt.

Ermittlungen in großem Ausmaß

Laut Aktenlage liefen die Ermittlungen des BKA bis ins Frühjahr 2006 parallel zu den Maßnahmen des BfV. Erst Anfang März 2006 übermittelten die VerfassungsschützerInnen ihre wesentlichen Erkenntnisse an das BKA. Nach einem Treffen mit der BA überreichte der Verfassungsschutz Ende März ein 20-seitiges Schreiben mit „Erkenntnissen des BfV zu den mutmaßlichen Initiatoren der militanten Kampagne“, das als geheim eingestuft wurde und somit nicht gerichtsverwertbar ist. Im Wesentlichen basierte das Papier auf abgehörten Telefongesprächen und dem E-Mail­verkehr der Verdächtigen seit dem Jahr 2000.

Laut BfV habe die TKÜ ergeben, dass sich die vier Berliner positiv auf die militanten Ereignisse in Prag, Göteborg und Genua bezögen und darin „Anknüpfungspunkte für (militante) Aktivitäten“ sähen. Der Beschuldigte S. sei telefonisch in ihre Absichten „eingebunden“. Auch sei „zielstrebig am Aufbau von Vernetzungsstrukturen zum Thema G8 in Heiligendamm“ gearbeitet worden, u.a. auf dem BUKO im Mai 2005. Im April 2006 leitete die BA daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen die fünf vom BfV benannten Personen ein und beauftragte das BKA mit den weiteren Ermittlungen.

Da das BKA damit jedoch nicht weiterkam, forderte es im Sommer 2006 vom BfV, weitere Daten aus seinen TKÜ-Maßnahmen über die Beschuldigten und deren persönliches Umfeld zu liefern. Darunter waren die Mobilfunkdaten von bundesweiten Treffen von G8-GegnerInnen im Oktober 2005 und Januar 2006. Doch nicht nur damit konnte das BfV dienen: Das Treffen im Januar 2006 hatte es per Videokamera überwacht und alle TeilnehmerInnen beim Betreten des Berliner Mehringhofs gefilmt. Ins Visier des Staatsschutzes gerieten so während der gesamten Er­mittlungen – ob am Rande oder stärker involviert – mehrere hundert Personen. Insgesamt tauchen in den Akten, die die Beschuldigten nach den Razzien vom 9. Mai 2007 erhielten, rund tausend Namen auf.

Ein Abgleich der Videoaufnahmen der überwachten Wohnungen und die Überprüfung des Mobilfunkverkehrs der Beschuldigten ergab immer dasselbe Ergebnis: Eine direkte Tatbeteiligung der Beschuldigten war nicht festzustellen. Im Februar 2007 übermittelte das BfV dem BKA seine Erkenntnisse zum Aufenthaltsort der Beschuldigten zum Zeitpunkt der jeweiligen Anschläge vom Juli 2005 bis Ende 2006. Weder diese bis dahin als „geheim“ eingestuften Erkenntnisse noch die sechs vergleichenden linguistischen Analysen von Bekennerschreiben, die das BKA bis Februar 2007 in Auftrag gab, brachten neuen Erkenntnisse. Alle Gutachten hatten das Ergebnis „non liquet“ (keine Klarheit); eine Autorenidentität war weder festzustellen noch auszuschließen.

Kurz vor Weihnachten 2006 weitete das BKA nun den Kreis um sechs aus dem Umfeld der bislang fünf Beschuldigten aus, sechs weitere kommen im Lauf des Frühjahrs 2007 dazu. Das BKA geht nun davon aus, dass die ursprünglichen fünf die Anschläge nur initiierten, planten und die Bekennerschreiben formulierten, zur Tatausführung aber andere Personen „eingebunden“ hatten.

Auch gegen die neuen Beschuldigten wurde nun das gesamte Arsenal strafprozessualer Überwachungsmaßnahmen, das dem BKA bei einem § 129a-Verfahren an die Hand gegeben ist, in Anschlag gebracht: von der Überwachung der Festnetz- und Mobiltelefonanschlüsse, der E-Mail-Kommunikation und des Onlineverhaltens über Observationen bis hin zum Einsatz von GPS-Ortungssendern.[8] Hauseingänge wurden videoüberwacht, Gespräche in Autos abgehört, Wanzen in Wohnungen gelegt. Es wurden Geruchsproben genommen (Ergebnis: negativ) und in Briefzentren systematisch Postsendungen kontrolliert. Hinweise auf eine Tatbeteiligung der Beschuldigten wurden nicht gefunden.

Zielgerichtete Steuerung

„Linksterroristische Strukturen, die mit der früheren RAF oder den Revolutionären Zellen vergleichbar wären, sind in Deutschland nicht vorhanden.“ Diese Aussage aus dem März 2007 stammt von BfV-Präsidenten Heinz Fromm.[9] Zwei Monate später und zwei Jahre nachdem seine Behörde umfangreiche Ermittlungen gegen die linke Anti-G8-Bewegung angestoßen hatte, sollte offensichtlich im Hinblick auf den bevorstehenden G8-Gipfel mit der Großrazzia genau der gegenteilige Eindruck erweckt werden.

Festzuhalten bleibt: Das BfV hatte sich zielgerichtet, noch bevor der erste Anschlag zu verzeichnen war, auf einen Täterkreis festgelegt. Mit geheimdienstlichen Mitteln gewonnene banale Erkenntnisse wurden brachial in die gewünschte Richtung interpretiert. BKA und Bundesanwaltschaft ließen sich füttern. Sie griffen willfährig auf die „Erkenntnisse“ des Verfassungsschutzes zurück und hielten trotz gegenteiliger Ermittlungsergebnisse an der von ihm gelegten Fährte fest. Dass selbst der Ermittlungsrichter am BGH auf dieser Grundlage immer wieder weitreichende Ermittlungsmaßnahmen absegnete, zeigt, dass es mit einer Eindämmung des geheimdienstlichen Einflusses auf Ermittlungsverfahren nicht getan wäre. Aber davon kann momentan angesichts der Pläne von Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), das BKA bei schweren Straftaten wie einen Geheimdienst operieren zu lassen, ohnehin nicht die Rede sein.

[1] Bundesanwaltschaft: Pressemitteilung 10/2007 v. 9.5.2007
[2] StB 12/07, 13/07 und 47/07 v. 20.12.2007
[3] Eine 65-seitige Auswertung der Akten unter der Überschrift „Was nicht passt, wird passend gemacht! Auswertung der Akten ‚militante Kampagne gegen G8‘“ liegt seit November 2007 im Internet vor: http://autox.nadir.org/buch/auswertung_11_07.pdf
[4] Ostsee-Zeitung v. 23.11.2006
[5] A.G. Grauwacke: Aus den ersten 23 Jahren. Autonome in Bewegung, Berlin (3. Auflage) 2007 (Verlag Assoziation A)
[6] siehe „Was nicht passt …“, Aktenauswertung a.a.O. (Fn. 3), S. 13
[7] „Als Möglichkeit anzusehen … Wie der VS die Ermittlungen in einem §129a-Verfahren steuert“, in: ak – analyse & kritik, Nr. 523 v. 14.12.2007
[8] So entdeckte einer der Beschuldigten am 12.5.2007 – drei Tage nach der Razzia – an seinem Auto ein GPS-Peilgerät unbekannter Herkunft.
[9] „Ordnung in hohem Maße bedroht“, in: Hessisch/Niedersächsische Allgemeine v. 31.3.2007