Alte Charlottenburger – Ein Netzwerk in Westdeutschland

von Stephan Linck

Ein Netzwerk ehemaliger Beamter des Reichskriminalpolizeiamtes dominierte bis in die 60er Jahre die Personalpolitik und Ideologie der westdeutschen Kripo.

Im September 1971 versandte Fritz Kempe das Rundschreiben 6/71 des Stammtischs der „Alten Charlottenburger“. Der Kreis, dem zu diesem Zeitpunkt noch 92 Personen – alle im Alter zwischen 59 und 69 Jahren – angehörten, war vermutlich schon in den 50er Jahren entstanden und traf sich einmal im Monat in einem Düsseldorfer Lokal. Seine Mitglieder verband aber nicht nur die kneipenselige Freizeitgestaltung. Der Name „Alte Charlottenburger” bezog sich vielmehr auf ihre ehemalige Ausbildungsstätte in Berlin-Charlottenburg: Die meisten hatten in der zweiten Hälfte der 30er Jahre Lehrgänge zum Kriminalkommissar am dortigen Polizei-Institut absolviert, das 1937 in Führerschule der Sicherheitspolizei umbenannt wurde. Sie grenzten sich zwar vom Korpsgeist her von ihren ebenfalls dort ausgebildeten Gestapo-Kollegen ab, waren jedoch im Regelfall gleichwohl überzeugte Nationalsozialisten. Die meisten wurden, wenn sie es nicht schon waren, während der Ausbildung SS-Mitglieder.[1]

Ein verhältnismäßig großer Teil der Charlottenburger Kripo-Absol­venten gelangte 1938/39 ins Reichskriminalpolizeiamt (RKPA), das im September 1939 als Amt V mit dem Geheimen Staatspolizeiamt und dem SD-Hauptamt zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA) verschmolzen wurde.[2] Zu den neuen Aufgaben der Kripo und damit vor allem ihrer Zentrale gehörte insbesondere die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, das aktive polizeiliche Vorgehen – bis hin zur „Sicherungsverwahrung“ – gegen alle Gruppen, die potentiell gegen die Normen der „Volksgemeinschaft“ verstoßen konnten oder sich „abweichend“ verhielten. Die Kripo wurde selbst zur strafverhängenden Behörde, und Rechts­mittel konnten nur bei ihr eingelegt werden. In letzter Konsequenz führte dies zur KZ-Einweisung und vielfachen Ermordung von Menschen, die als „Zigeuner“, „Berufsverbrecher“ oder „Asoziale“ stigmatisiert wurden. Wichtige Bestandteile des NS-Terrors lagen somit in der Zuständigkeit der Kriminalpolizei. Mit dem Eroberungskrieg wurde der „auswärtige Einsatz“ der Sicherheitspolizei zum zusätzlichen Arbeitsfeld insbesondere der jüngeren und karrierebewussten RKPA-Beamten, die damit vielfach an den von den Einsatzgruppen begangenen Morden beteiligt waren.

Durch die Besatzungszeit

Das Gros der RKPA-Beamten folgte Heinrich Himmler und dem Großteil der SS- und Polizeiführung, setzte sich im April 1945 in den Flensburger Raum ab und quartierte sich in den regionalen Kripo-Stellen ein. Mit der Kapitulation boten sie der britischen Besatzungsmacht umgehend ihre Mitarbeit an. Ihre weitere Karriere in der Nachkriegsära ist untrennbar verbunden mit den Widersprüchen der britischen Besatzungspolitik. Die Stäbe, die diese ab 1944 im konservativ geführten Foreign Office konzipierten, orientierten sich an der kolonialen Tradition des Empire und suchten auch in Deutschland durch „indirect rule“ bei minimalem Einsatz den größtmöglichen Effekt zu erzielen. Um das absehbare Chaos bei Kriegsende in den Griff zu bekommen, wollte man weite Teile der deutschen Exekutive – auch der Polizei – übernehmen. Zwar sahen die Planer präzise die enge Verzahnung insbesondere der Kripo mit dem Terrorapparat der Nationalsozialisten. Ein Papier bezeichnete Kripo und Gestapo als „besondere Pflegekinder Himmlers“, deren Personal fast ausschließlich aus überzeugten SS-Leuten bestanden habe. Die Analysen durchzog andererseits eine distanzlose Bewunderung insbesondere für die zentrale Kripo-Führung im Amt V des RSHA – ein „extrem effizientes … Produkt deutschen Organisationstalents“, das man gerne zur Verhinderung eines völligen Zusammenbruchs der Polizeiarbeit nutzen wollte.[3] Praktisch wurde dieser Zwiespalt ab Mai 1945 in den Konflikten zwischen der pragmatischen Herangehensweise des Public Safety Branch, der der Wiederaufbau der Polizei oblag, und dem für die Fahndung nach Kriegsverbrechern und daneben auch für die Überprüfung und Entnazifizierung der Polizei zuständigen Nachrichtendienst der Armee, den Field Security Sections (FSS).

Als rein militärische Organisation, in der zudem etliche rechtzeitig aus Deutschland geflüchtete Juden arbeiteten, war die Field Security vor der Gefahr fehlender Distanz oder gar Bewunderung für die deutsche Polizei gefeit. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in den ersten Nachkriegstagen waren die in dieser Phase geführten Verhöre durch die FSS jedoch teils sehr flüchtig. Dies zeigt die Vernehmungsmitschrift des Leiters der Gruppe Wi (Wirtschaftsverbrechen) im RKPA, Karl Schulz, der 1941 Adjutant Arthur Nebes in der Einsatzgruppe B gewesen war.[4] Schulz machte durch seine Englischkenntnisse einen Dolmetscher überflüssig. Die Notizen dieser Befragung lassen deutlich erkennen, dass die Rechtfertigungslinie und die spätere Selbstdeutung der NS-Krimina­lis­ten hier bereits feststanden. Schulz erklärte, dass er mit seinen Beamten verbotenerweise am 22. April Berlin verlassen habe. Er sei Kriminalbeamter, seinen SS-Rang als Sturmbannführer habe er nur ehrenhalber. Den größ­ten Teil der Vernehmung beeindruckte er mit Erzählungen von seinen Englandreisen im Gefolge des deutschen Außenministers. Kurz darauf wurde Schulz von der Public Safety Branch (PSB) als Verbindungsoffizier zur britischen Besatzungsmacht in Flensburg eingesetzt.

Anfang Juli 1945 trug die PSB in einem „Report on Reichssicherheitshauptamt“ ihren Informationsstand über den Verbleib der Mitarbeiter insbesondere des RKPA zusammen. Abgesehen von drei untergetauchten Kriminalpolizisten befanden sich alle in dem Report Genannten bereits wieder im Polizeidienst, insbesondere im nördlichen Landesteil Schleswig-Holsteins. Und tatsächlich wurde die Polizeiorganisation schnell wieder aufgebaut. Bereits im Juli erschien das erste „Meldeblatt der Kriminalpolizei Flensburg“ und am 7. August die erste Ausgabe des polizeilichen „Meldeblattes für die Provinz Schleswig-Holstein“. Aber um welchen Preis! Die Kriminalisten machten da weiter, wo sie mit der Kapitulation aufgehört hatten. Im Meldeblatt der Provinz war tatsächlich neben Einbruch, Diebstahl, Mord und Totschlag eine eigene Rubrik für „alle von Zigeunern und Zigeunerinnen begangenen Straftaten“ vorgesehen. Die Flensburger Kripo schrieb in ihrem ersten Meldeblatt einen „Zigeuner“ zur Fahndung aus, der zwei Soldaten eine angebliche KZ-Haft bescheinigt hatte, besondere Kennzeichen des Sinto: „Auf dem linken Unterarm Tätowierung der Zahl 3468“. Wollten die Polizisten bei den befreiten KZ-Häftlingen ihre Tätowierung kontrollieren? Da trug die Polizei ihr Scherflein dazu bei, dass sich im ersten Nachkriegsjahr auf ihr ein unbändiger Hass der einstigen Sklavenarbeiter mit zahlreichen Tötungsdelikten entlud.

Im Herbst 1945 überprüfte die FSS die eingestellten Polizeioffiziere noch einmal gründlicher. Ihr Bericht an die PSB vom Januar 1946 hielt fest, dass neun führende Polizeioffiziere des Landes auf den Fahndungslisten der Alliierten zur sofortigen Verhaftung ausgeschrieben waren, darunter der Polizeichef der Provinz Oberst Kühn und alle Offiziere seines Stabes. Deren Entlassung erfolgte allerdings erst, nachdem sich im April 1946 ein FSS-Angehöriger unter Umgehung des Dienstwegs direkt an den britischen Deutschlandminister Hynd wandte. Die RKPA-Angehörigen kamen hingegen erst in Bedrängnis, als die PSB nach einer Reihe von Straftaten deutscher Polizisten ihre Personalpolitik korrigieren musste. Im Juli und August 1946 wurden alle ehemaligen SS-Mitglieder und damit alle früheren RKPA-Leute entlassen, eine Entscheidung, die allerdings von Regionalen Public Safety Officers teilweise hintertrieben wurde. So verlor Karl Schulz zwar seinen Posten bei der Polizei, wurde aber umgehend bei einem nahe Schleswig gelegenen Fliegerhorst als Instrukteur der Royal Air Force (RAF)-Police eingestellt.

Die Entlassungen im Sommer 1946 hatten jedoch keineswegs das Ende des RKPA-Personals bei der Polizei gebracht. Bereits Anfang des Jahres war – in deutlichem Gegensatz zu den Dezentralisierungsvorgaben der neuen britischen Labour-Regierung – das Kriminalpolizeiamt für die Britische Besatzungszone in Hamburg eingerichtet worden, wo im Kern nicht weniger versucht wurde als die Weiterführung des RKPA.[5] Hier kamen insgesamt 48 meist untere RKPA-Dienstgrade unter. Die Einstellung von alten Führungskräften war zu diesem Zeitpunkt noch nicht opportun. Sie wurde allerdings möglich, als die Briten Anfang 1947 die Polizeigewalt auf das Land Schleswig-Holstein übertrugen. Bis 1949 wurden hier bei Neubesetzungen von Kripo-Führungspositionen durchgängig ehemalige RKPA-Leitungsbeamte eingestellt. Auch Karl Schulz konnte der RAF-Police den Rücken kehren: Er wurde mit dem Aufbau eines Landeskriminalamtes (LKA) beauftragt.

Angekommen in der Bundesrepublik

Als 1949 mit der Gründung der BRD die Polizeigewalt endgültig den deutschen Ländern übertragen wurde, war ein Personalfluss in andere Bundesländer möglich. Gleichzeitig fielen mit dem endgültigen Abschluss der Entnazifizierung und der Verabschiedung des Gesetzes zur Art. 131 Grundgesetz, das die Wiedereinstellung ehemaliger Nationalsozialisten ermöglichte, jegliche Einstellungsbeschränkungen fort. Nachdem die Jahre der Besatzungsherrschaft nicht genutzt worden waren, um Nachwuchs für die leitenden Kripo-Aufgaben auszubilden, stand der Rückgriff auf das Führungspersonal der NS-Kriminalisten alternativlos da. Gleichzeitig funktionierten die alten Verbindungen der „Charlottenburger“ ausgezeichnet bei der Vermittlung frei werdender Leitungsstellen.[6] Dies zeigte sich beim Aufbau des Bundeskriminalamts (BKA), das 1951 aus dem Kriminalpolizeiamt für die Britische Besatzungszone hervorging. Nach der Ernennung des „Charlottenburgers“ Paul Dickopf zum BKA-Vizepräsidenten im Jahre 1952 erfolgte eine systematische Vergabe der Führungspositionen an „Alte Charlottenburger“. Dieter Schenk ermittelte insgesamt 24 von ihnen in solchen Funktionen, darunter sieben aus Dickopfs Lehrgang. Von den 1959 insgesamt 47 Beamten des leitenden Dienstes im BKA waren nur zwei „unbelastet“; der Rest blickte auf NS-Karrieren und vielfache Verbrechen zurück.[7]

Nordrhein-Westfalen sollte ein zweiter Schwerpunkt der Wiederverwendung von NS-Kriminalisten werden. Dort war bereits im Herbst 1945 Willy Gay zum Leiter der Kölner Kripo ernannt worden. Der 1890 Geborene war schon seit 1920 als Kriminalbeamter tätig und hatte in der Polizei der Weimarer Republik Karriere gemacht. Obwohl er im Mai 1933 der NSDAP beigetreten war und seine Vorstellungen von der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ den NS-Konzeptionen weitgehend entsprachen, stellte die NS-Zeit einen Einbruch in Gays Karriere dar. 1933 praktisch degradiert, war er seit 1934 stellvertretender Leiter der Kölner Kriminalpolizei. Dies empfahl ihn der britischen Besatzungsmacht. Nach einigen Jahren als Kölner Kripo-Chef avancierte er 1952 zum Referenten für die Kriminalpolizei im Landesinnenministerium. Gay wurde wichtiger Impulsgeber der Nachkriegs-Kripo, seit Oktober 1952 auch als Herausgeber der „Kriminalistik“. Obwohl er schon aus Altersgründen nicht zu den „Charlottenburgern“ zählte, verband ihn mit diesen eine Freundschaft auf Gegenseitigkeit. Kurt Zillmann, Lehrer am Charlottenburger Institut und später Chef des LKA Schleswig-Holstein, nannte ihn seinen „Lehrmeister“, und noch 1971 wurde Gay auf der Adressenliste des Düsseldorfer Stammtischs gewissermaßen als „Ehrencharlottenburger“ geführt. Als Votum eines „Unbelasteten“ hatte seine Unterstützung große Bedeutung.

In den 50er Jahren wurde in der Kripo Nordrhein-Westfalens das wohl dichteste Netz von ehemaligen „Charlottenburgern“ gesponnen. Wichtige frei werdende Stellen bis hin zum LKA-Chef wurden durchgängig mit ihnen besetzt. Leiter der Düsseldorfer Kripo war von 1954 bis 1970 Bernd Wehner. Der 1909 Geborene hatte den Kommissarlehrgang in Charlottenburg 1936/37 besucht und war danach SS-Haupt­sturmführer im Amt V.[8] Nach Kriegsende hatte er als Polizeireporter des „Spiegel“ eine für die NS-Kriminalisten herausragende Funktion. In einer 30-teiligen Serie, die dort 1949/50 unter dem Titel „Das Spiel ist aus, Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei“ erschien, stellte er die Kripo des Dritten Reiches als unpolitische Fachorganisation dar, die im Zweifel in Opposition zum Nationalsozialismus gestanden habe. Bevor er 1954 Chef der Düsseldorfer Kripo wurde, hatte ihn Gay zur Kölner Kriminalpolizei geholt. Beide verband auch nach seinem Wechsel nach Düsseldorf eine langjährige Arbeitsbeziehung. Wehner wurde Schriftleiter der von Gay herausgegebenen „Kriminalistik“.

Vorbeugende Verbrechensbekämpfung – Neuauflage

Als ein weiterer Ort zur Kommunikation erwies sich das Polizei-Institut Hiltrup bei Münster. Die dort abgehaltenen Arbeitstagungen der LKA-Chefs bekamen zwangsläufig den Charakter von Zusammenkünften der „Charlottenburger“. Dass dies nicht nur Kameradschaftstreffen waren, sondern die Beteiligten vielmehr gezielt die Kriminalpolitik der neuen Bundesrepublik zu beeinflussen versuchten, lässt sich gut an der Positionierung zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ aufzeigen. Bereits 1947 hatte das niedersächsische Landeskriminalpolizeiamt (LKPA) mit Unterstützung des Kriminalpolizeiamtes der Britischen Zone eine erste Initiative für ein „Gesetz zur Bekämpfung der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ gestartet, die allerdings scheiterte.[9] An diese Zielsetzungen knüpften die Leiter der LKPA auf ihrer 1. Arbeitstagung im August 1949 an: In ihrer auf den Aufbau eines Bundeskriminalpolizeiamtes abzielenden Resolution forderten sie unter anderem eine „Zentrale zur Bekämpfung internationaler und reisender Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ und eine „Zentrale zur Bekämpfung des Landfahrerunwesens“.[10]

Auf der 3. Arbeitstagung im November 1951 war der „Kampf gegen Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ Thema.[11] Zwar akzeptierten die Kriminalisten inzwischen die Einschaltung der Gerichtsbarkeit vor der erwünschten Sicherungsverwahrung. Gay forderte aber in seinem Referat eine sofortige Vollstreckbarkeit von Schnellgerichtsurteilen – ohne Rücksicht auf eingelegte Berufungen.[12] Als Produkt der Tagung erschien 1952 in der „Polizei“ ein Beitrag des „Charlottenburgers“ und ehemaligen SS-Sturm­bann­führers im RSHA Fritz Weber. Nach seiner Interpretation war das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ vom November 1933 noch formal in Kraft. Dennoch forderte er ein neues Gesetz, mit dem die vorbeugende Verwahrung unter richterlicher Kontrolle – ein Zugeständnis an die Gewaltenteilung – wieder eingeführt werden sollte.

Diese eindeutig positive Bezugnahme auf die Praxis der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ im NS-Staat griff das BKA 1955 in einer neuen Initiative auf, für die man den Autor der entsprechenden Erlasse im Amt V, Eduard Richrath, persönlich hinzuzog. Im Ergebnis erschien in der Schriftenreihe des BKA ein Band über „Probleme der Polizeiaufsicht“, in dem die KZ-Einweisungspraxis als Erfolgsgeschichte dargestellt wurde. Autor war neben dem „Charlottenburger“ Rudolf Leitweiß der Leiter des Ausbildungsreferates im Kriminalistischen Institut des BKA, Eberhard Eschenbach, der 1945 direkt in die schleswig-holsteinische Kripo übernommen worden war. Hinzu kamen Veröffentlichungen von „Charlottenburgern“ in Hiltrup und der „Polizei“. Die BKA-Vorlagen brachten es bis zur Behandlung in der Strafrechtskommission im Bundesjustizministerium. Die Initiative scheiterte zwar wiederum, zeigte aber anschaulich das abgestimmte kriminalpolitische Vorgehen der Seilschaft.

In der Defensive

Während der Kreis bis dahin offensiv Personalpolitik in eigener Sache betrieben hatte und Einfluss auf die Kriminalpolitik zu nehmen suchte, sollte er in den folgenden Jahren zunehmend in die Defensive geraten. Auslöser war Bernhard Fischer-Schweder, der ebenfalls Teilnehmer eines Kommissarlehrgangs im Polizei-Institut Charlottenburg gewesen war. Fischer-Schweder war aber kein Kriminalist, sondern hatte eine Partei- und SA-Karriere hinter sich, bevor er zur Gestapo kam und schließlich Polizeichef von Memel wurde. Als solcher hatte er sich 1941 an Massenerschießungen von Juden in Litauen beteiligt. Nach dem Krieg lebte er zunächst unter falschem Namen und verschwieg seine Vergangenheit. Mitte der 50er Jahre deutete er das gesellschaftliche Klima falsch und bewarb sich unter Verweis auf seine einstige Laufbahn zur Wiederverwendung im Kripo-Dienst. Weil in diesem Kontext Kenntnisse über seine Verbrechen an die Öffentlichkeit gelangten, trat er mit seiner Bewerbung Ermittlungen los, die zum Ulmer Einsatzgruppen-Prozess führten, an dessen Ende 1958 seine Verurteilung zu zehn Jahren Haft stand.[13]

Bedeutsamer als das Urteil selbst war die dem Prozess folgende Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg und die damit beginnenden systematischen Ermittlungen zu NS-Verbrechen. Auch wenn die mörderischen Konsequenzen der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ und der Verfolgung und Deportation der Roma und Sinti niemals zu Strafverfahren führten, waren die Ermittlungstätigkeiten für die „Alten Charlottenburger“ ausgesprochen be­drohlich, da etliche von ihnen an den Einsatzgruppen-Morden beteiligt waren. Von den 92 Personen, die 1971 im Verteiler der „Alten Charlottenburger“ standen – also damals noch lebten –, waren lediglich acht nicht von den umfangreichen Ermittlungen zu NS-Verbrechen betroffen. Diejenigen, bei denen die Verfahren zur Suspendierung führten, überbrückten diese Zeit vielfach durch Arbeitsverhältnisse in der Wirtschaft und kehrten anschließend in den Polizeidienst zurück. Insgesamt fühlten sich die Kriminalisten jedoch – trotz ihrer Beteiligung an den NS-Verbrechen – vor Strafverfolgung geschützt. Wie selbstsicher die „Alten Charlottenburger“ auftraten, zeigt eine Episode, die der frühere Leiter der Sonderkommission für NS-Gewaltverbrechen in Schleswig-Holstein, Karl-Georg Schulz, dem Autor schilderte: Als er den ehemaligen Mitarbeiter im Amt V, Waldemar Krause, gegen den als Chef des Sonderkommandos 4b der Einsatzgruppe C ermittelt wurde, in Untersuchungshaft nahm, habe dieser ihn nur gefragt, warum Schulz das tue. Er wisse doch genau, dass er in spätestens 24 Stunden wieder frei sei.[14]

Die Dimension der Begünstigung und gegenseitigen Unterstützung ehemaliger „Charlottenburger“ bei solchen Ermittlungen ist bislang noch nicht ausgelotet worden und stellt ein anhaltendes Desiderat dar. Fakt ist, dass die britische Besatzungsplanung und -praxis es den „Charlottenburgern“ ermöglichte, ihre kriminalpolizeiliche Tätigkeit direkt nach Kriegsende fortzusetzen. Den „Alten Charlottenburgern“ gelang es, jahrzehntelang nicht nur die Personalpolitik und die kriminalpolitischen Diskurse der westdeutschen Kripo, sondern auch die Deutung kriminalpolizeilicher Tätigkeit im NS-Staat zu bestimmen.[15] So wurde noch 1986 in einem Polizeilehrbuch die Begründung von Walter Zirpins für die hohe Kriminalität nach Kriegsende übernommen: Sie sei verursacht worden durch die „Freilassung des größten Teils der strafgefangenen und sicherungsverwahrten Berufsverbrecher, Asozialen und kriminellen Landfahrer“.[16]

Dies ist die stark gekürzte Version eines Aufsatzes, der gerade mit ausführlichen Nachweisen in einem von Klaus-Michael Mallmann und Andrej Angrick herausgegebenen Sammelband erschienen ist: Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen. Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 14, Darmstadt 2009. Die Redaktion dankt für die Abdruck-Genehmigung.

[1] Banach, J.: Heydrichs Elite. Die Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936-1945, Paderborn u.a. 1998, S. 106 ff. u. 264-276
[2] Wagner, P.: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, Hamburg 1996, S. 235-243
[3] genaueres bei Linck, S.: Der Ordnung verpflichtet. Deutsche Polizei 1933–1949. Der Fall Flensburg, Paderborn u.a. 2000, S. 186–193; ders.: Zur Personalpolitik der britischen Besatzungsmacht gegenüber der deutschen Kriminalpolizei nach 1945, in: Fürmetz, G.; Reinke, H.; Weinhauer, K. (Hg.): Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945-1969, Hamburg 2001, S. 105-127
[4] Wildt, M.: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 790-796
[5] Schenk, D.: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001, S. 133 ff.
[6] Linck: Der Ordnung verpflichtet a.a.O. (Fn. 3), S. 340 f.
[7] Schenk a.a.O. (Fn. 5), S. 67 f. u. 282 f.
[8] ebd., S. 177
[9] Wagner, P.: Kriminalpolizei und „innere Sicherheit“ in Bremen und Nordwestdeutschland zwischen 1942 und 1949, in: Frank Bajohr (Hg.): Norddeutschland im Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 259
[10] abgedruckt in: Die Polizei 1949, H. 2, S. 282
[11] Linck: Personalpolitik a.a.O. (Fn. 3), S. 125 f.
[12] Bericht über die 3. Arbeitstagung der Leiter der LKPA v. 13.–15.11.1951, in: Mitteilungen aus dem Polizei-Institut Hiltrup 1952, H. 1, S. 12 ff.; Referat von Gay auf S. 16 ff.
[13] vgl. Klemp, S.: „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz – Ein Handbuch, Essen 2005, S. 355
[14] vgl. Peters, O.H.: Schleswig-Holstein hat sich als Versteck für NS-Verbrecher bewährt: Für Erich Waldemar Krause wurde sogar gelogen, in: ISHZ 23, November 1992, S. 61 f.; zur Unterstützung Krauses: Klemp a.a.O. (Fn. 13), S. 397
[15] vgl. die apologetische Darstellung von Wehner, B.: Dem Täter auf der Spur. Die Geschichte der deutschen Kriminalpolizei, Bergisch Gladbach 1983
[16] Zirpins, W.: Die Entwicklung der polizeilichen Verbrechensbekämpfung in Deutschland, in: Taschenbuch für Kriminalisten, Bd. 5, Hamburg 1955, S. 292; die gleiche Formulierung findet sich bei Harnischmacher, R.; Semerak, A.: Deutsche Polizeigeschichte. Eine allgemeine Einführung in die Grundlagen, Stuttgart 1986, S. 31

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