Polizisten als Geschichtsschreiber – Verschweigen, verharmlosen und vernebeln

von Martin Schauerhammer, Norbert Pütter und Jan Wörlein

Wenn Polizisten sich mit der Geschichte des eigenen Berufes und der eigenen Behörde befassen, leisten sie auch einen Beitrag zum Selbstbild der Profession. Aber wie löst man diese Aufgabe, wenn die jüngste Vergangenheit von Verschleppung, Folter und Massenmord bestimmt ist?

Runde und halbrunde Jubiläen sind auch für Polizeibehörden und ihre RepräsentantInnen willkommene Anlässe des Rückblicks. Hier eine exemplarische Auswahl: 1973 würdigten vier Berliner Polizisten den 125-jährigen Geburtstag der „Berliner Schutzmannschaft“ mit einer 96-sei­tigen Festschrift.[1] In den zehn Textseiten, die der nationalsozialistischen Phase gelten, erwähnen sie zwar, dass mehr als 2.600 der insgesamt 85.000 preußischen Polizisten nach der „Machtergreifung“ die Polizei verlassen mussten. Darüber, was die verbliebenen Schutzpolizisten taten, erfahren die LeserInnen jedoch nur wenig: Die Umorganisation des Apparates, der Wechsel der Uniformfarbe werden benannt, die Probleme des zunehmenden Straßenverkehrs nehmen einen vergleichsweise breiten Raum ein.

Nach Sätzen wie „Einschneidende Veränderungen für die Schutzpolizei brachte der Kriegsbeginn 1939“ (S. 50) folgen Hinweise auf Rekrutierungsprobleme. Die Bildung von Polizeibataillonen wird darauf zurückgeführt, dass der Ordnungspolizei „während des Krieges plötzlich andere und viel weitergehende Aufgaben zu(fielen), als ihr zunächst zugedacht waren“. Den Hinweis darauf, dass diese „weitergehende Aufgaben“ im Mörderhandwerk der „Partisanenbekämpfung“ bestanden, sucht man vergebens. Die Polizeireserven seien während des Krieges gebildet worden, um die „für anderweitige Aufgaben bereits übermäßig in Anspruch genommene Polizei (zu) entlasten“. Statt diese Aufgaben zu erläutern, beenden die vier polizeilichen Geschichtsschreiber das Kapitel mit einer im Wortlaut zitierte „Alarmordnung“ eines Berliner Polizeireviers, die das Verhalten bei „Feindalarm“ regelte.

1984 feierte das Berliner Polizeipräsidium seinen 175-jährigen Geburtstag. Eine erneute Gelegenheit, die zwölf braunen Jahre zu würdigen. Zwischen den begrüßenden Worten des Polizeivizepräsidenten und des Innensenators und dem „Blick voraus“ des Polizeipräsidenten finden sich die „Gedanken zu einem Jubiläum“ des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Prof. Dr. Werner Knopp. Ganze sieben Zeilen seiner 19-seitigen Jubiläumsrede widmet er der Berliner Polizei im Nationalsozialismus. „Von einigen Ausnahmen abgesehen“, sei sie bereits beim „Preußenschlag“ 1932 „von sich aus weder widerstandsfähig noch zum Widerstand willens“ gewesen. Wer 1933 nicht entlassen worden sei, „verstrickte sich bei allem Bemühen um Rechtlichkeit dann doch unweigerlich in das Verhängnis des Dritten Reiches.“[2]

1996 feiert Manfred Teufel in einer von der Gewerkschaft der Polizei herausgegebenen Zeitschrift das 70-jährige Jubiläum der Berliner Mord­inspektion. Den organisatorischen Umgestaltungen hätten ab 1933 „natürlich“ die „präventive(n) Gesichtspunkte zugrunde (gelegen), die dem Polizeibegriff des ‚Maßnahmenstaates’ entsprachen“, fand der Autor. Dennoch sei es „den Machthabern des Dritten Reiches vorbehalten (gewesen), der Mordinspektion eine weiterhin verbesserte Grundlage und organisatorische Ausgestaltung zu geben“.[3]

Die vom Polizeipräsidium 1998 herausgegebene umfangreiche Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum der Schutzmannschaft stellt ebenfalls die organisatorischen Veränderungen in den Vordergrund des historischen Haupttexts (von S. 15-83, ohne Werbung = 29 DinA4-Seiten). Er enthält jedoch zwei bemerkenswerte Passagen zur NS-Zeit: Zwar seien die Zuständigkeiten des Polizeipräsidiums so eingeschränkt worden wie zu keiner anderen Zeit, aber

„dafür wurden die Beamten mit nahezu grenzenlosen Vollmachten gegenüber den Parias des Systems ausgestattet. So hatten sie die Vielzahl der als Polizeiverordnungen gültigen antijüdischen Schikanemaßregeln von den Aufenthalts-, Ausgangs- und Einkaufsbeschränkungen über die Einziehung der Personalausweise und Ersatz durch Kennkarten mit dem Zeichen ‚J’ auf den Revieren bis hin zur Kennzeichnungspflicht durch das Anlegen des Sternes im ‚Altreich’ ab 1941 zu überwachen.
Ebenso oblag ihnen die Verbringung der in ‚Schutzhaft’ genommenen Personen von den Sammelstellen der Stadt zu den Deportationsbahnhöfen und die Begleitung der Bahntransporte in die Ghettos des Ostens bzw. sofort in die Vernichtungslager.“[4]

Auch zur Tätigkeit der Polizeibataillone findet der Text klare Worte. Die Einheiten hätten an der Vertreibung der einheimischen Bevölkerung mitgewirkt und die Deportationen abgesichert:

„Hinter dem Euphemismus ‚Befriedungsaktion’, ‚Maßnahmen gegen Partisanen’ und ‚Sonderbehandlung’ verbarg sich die bestialische Ermordung ca. einer Million Juden, Zigeuner, kommunistischer Funktionäre sowie Angehörige der intellektuellen Führungsschichten der besetzten Länder durch Angehörige der Polizeibataillone.“[5]

In der zweiten Hälfte der 90er Jahre war die Sensibilität gegenüber der Rolle der Polizei im Nationalsozialismus aber keineswegs überall gewachsen. 1997 veröffentlichte das Münchener Polizeipräsidium eine von Kriminaloberamtsrat a.D. Kurt Falter verfasste „Chronik“. Angesichts des Umstands, dass München als „Hauptstadt der Bewegung“ galt und Himmler und Heydrich ihre Polizeikarriere im Präsidium an der Ettstraße begannen, hätte man einiges erwarten dürfen. Auf den 25 Seiten zu den „Jahren der NS-Herrschaft“ dominiert die Darstellung der institutionellen Veränderungen, die die Verreichlichung und die Säuberung des Apparates mit sich brachten. In der Pogromnacht am 9. November 1938 habe die Schutzpolizei „auf Bereitschaft“ gestanden, aber die Anweisung gehabt, nicht dagegen einzuschreiten.[6] Die aus der Münchener Polizei zusammengestellten Polizeibataillone seien in verschiedenen Ländern eingesetzt worden; z.B. „zur Sicherung im besetzten polnischen Gebiet“. Statt etwas über diese Sicherungstätigkeit mitzuteilen, erwähnt Falter die ersten Gefallenen der Einheiten oder die Kriegsgefangenschaft.[7] Im Text erfahren wir auch nichts darüber, was die Polizei unterdessen in München tat. Falter zitiert die Botschaft des Polizeipräsidenten vom Jahresende 1942, dass „die Heimatfront unerschütterlich“ stehe. Für den Chronisten ist das nur Anlass auf die Belastungen für die Polizisten hinzuweisen und sodann die Folgen des Luftkriegs zu schildern. Zum Tätigkeitsprofil der Polizei in den letzten Kriegsjahren schreibt Falter: „Neben Ehedramen traten bei den verübten Verbrechen die Ausländer immer mehr in Erscheinung“. Kommentarlos wird dann erläutert, dass es sich u.a. um „Ostarbeiter“ handelte, die einen „Platzmeister“ erschlagen und einen Mordversuch an einem „Lagerwachmann“ verübt hatten. So leicht, wie Falter die Zwangsarbeiter zu „normalen“ Kriminellen machte, schaffte er es gleich im nächsten Satz, die Polizisten zu Opfern des Sys­tems zu stilisieren: „Im Juni 1944 erhielten die Angehörigen der Ordnungspolizei das Soldbuch der Waffen-SS. Es sollte bei Kriegsende vielen Polizeiangehörigen zum Verhängnis werden.“[8]

Falters Chronik blieb dem schon in den 60er Jahren herrschenden Selbstbild der Münchner Polizei treu. In einem Artikel von 1964 zu „50 Jahre Münchner Polizeipräsidium“ hieß es:

„Zur Ehre der Ettstraße sei gesagt, dass die überwiegende Mehrheit der Beamten in den schwärzesten Jahren der Münchener Polizei ihre Redlichkeit bewahrte. Auch im Dritten Reich gab es Polizisten, die auf Beförderung verzichteten und sich im Krieg nach dem Osten schicken ließen, weil sie nicht in die Partei eintreten wollten.“[9]

Statt auf die „überwiegende Mehrheit“ konzentrierte sich ein anderer Text – wohl vom Anfang der 60er Jahre – auf die Rechtstradition: Da es nicht mehr zur Verabschiedung einer NS-Reichspolizeiverordnung gekommen sei, seien „die Quellen des alten rechtsstaatlichen Polizeirechts nur verschüttet, aber nicht abgegraben“ gewesen – ein Umstand, den die Besatzungsmacht 1945 „leider nicht erkannt“ habe.[10]

Solche Darstellungen sind aber keineswegs spezifisch bayerisch: In den beiden Seiten, auf denen Kriminaloberkommissar Helmut Ebeling 1965 Rückschau auf hundert Jahre Hamburger Kripo hielt, findet sich folgendes Lob der Zentralisierung der Kripo-Arbeit im Nationalsozialismus: „Bald zeigte sich, zu welchen Leistungen eine Kriminalpolizei mit straff organisiertem Erkennungs- und Meldedienst fähig war“. Und an anderer Stelle vermerkt Ebeling: „Der Zweite Weltkrieg brachte, wie überall, neue Aufgaben, …“.[11] Was sich heute als zynische Phrase liest, war im Wirtschaftswunder-Deutschland Konsens. So meinte 1962 auch Wilhelm Bendiek, Ministerialdirigent im niedersächsischen Innenminis­terium, die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus überspringen zu können, weil „den zahlreichen guten geschichtlichen Darstellungen der Polizei von 1919 bis 1945“ keine „wesentlich neuen Gesichtspunkte … hinzugefügt werden könnten.“[12] Die jüngere Geschichte wollte 1959 auch der baden-württembergische Landespolizeidirektor Klaus Stromeyer ignorieren: „Im sog. Dritten Reich wurde die Polizei … in ihrem Wesensgehalt so verfälscht, dass ihre Entwicklung während seiner Dauer im vorliegenden Zusammenhang keine Behandlung verdient.“[13]

Ähnliche Argumentationen finden sich in den Jubiläumsschriften anderer Präsidien. In der „Geschichte der Frankfurter Polizei“[14] aus der ersten Hälfte der 80er Jahre schrieb Kurt Kraus, mit der Eingliederung in die SS habe für die Polizei „der Leidensweg und die Ausweglosigkeit (begonnen), die ihr von einem verbrecherischen System aufgebürdet wurden“. Die Frankfurter Polizeibataillone hätten „sich oft mit Partisanenverbänden herumschlagen“ müssen. Eine Einheit sei an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes, eine andere an der Räumung von Ghettos und an Erschießungen beteiligt gewesen. In einem Prozess gegen sechs Polizeioffiziere habe sich zwar „in erschreckendem Ausmaß die fatale Verstrickung der Polizei mit dem SS-Staat“ gezeigt, aber es sei auch deutlich geworden, „dass sich von Einzelpersonen abgesehen, keine Polizeieinheiten aktiv an Erschießungsaktionen beteiligt“ hätten. Der Autor verweist auf einen geheimen mündlichen Befehl, den der Chef der Ordnungspolizei Daluege gegeben haben soll, „der SS nur bei Absperrmaßnahmen zu helfen“. Das Geschichtsbild des Autors hat sich auch ein Jahrzehnt später, beim 125-jährigen Jubiläum des Frankfurter Polizeipräsidiums, nicht verändert. Vier Elemente bestimmen hier seine kurzen Bemerkungen zum Nationalsozialismus:[15] Erstens der Hinweis auf die Säuberungswelle 1933, zweitens die institutionellen Umgliederungen, drittens die dominierende Rolle von Gestapo und SS und viertens die Tätigkeiten der Polizeibataillone. Für Verhaftungen, Hinrichtungen und die Deportation der 12.000 Frankfurter Juden sei die Gestapo „verantwortlich“ gewesen. Der Krieg habe für die Polizei „unheilvolle Folgen“ gehabt: Die Bataillone hätten in den Partisanenkämpfen „zahlreiche Verluste“ erlitten und wären bei den Ghetto-Räumungen der SS unterstellt gewesen. Darin zeige sich „die fatale Verstrickung der Polizei mit dem SS-Staat“. Dezimiert durch Einberufungen zur Wehrmacht, hätten sich die Aufgaben der Polizei während des Krieges „hauptsächlich auf die Überwachung von Luftschutzvorschriften“ erstreckt.

Bis in die jüngste Gegenwart überwiegt in der offiziösen Polizeihistoriografie der Verweis auf eine stolze Tradition. 2004 gratuliert der Inspekteur der baden-württembergischen Polizei der Kripo, die „in den vergangenen 125 Jahren ihre hohe Professionalität, ihr Engagement und ihre Fachkompetenz bis heute immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt“ habe; sie könne „nicht nur stolz auf ihre Geschichte zurück schauen“, sondern auch in eine erfolgreiche Zukunft blicken.[16] Dieselbe Linie verfolgte Manfred Teufel in seiner Geschichte der Tuttlinger Polizei: Die Kripo sei zwar „sehr stark zur mitwirkenden Beratung von polizeilich-politischen Vorgängen durch die Geheime Staatspolizei herangezogen“ worden. Aber es müsse – mit Verweis auf zwei kriminalistische Quellen von Anfang der 50er und Anfang der 60er Jahre – „nachdrücklich festgestellt werden: ‚Die Methoden der Gestapo waren niemals das Handwerkszeug des Kriminalisten.‘“[17]

Autobiografische Zeugnisse

Am 25. Mai 1989 trat die Deutsche Polizeigesellschaft, die Dachorganisation für polizeigeschichtliche Vereine, zum ersten Mal zusammen. Mit einer Ausnahme waren ihre 15 Gründungsmitglieder sämtlich Polizeibeamte. Deutsche Polizeigeschichte war, wie dieses Detail unterstreicht, noch bis in die 90er Jahre eine Geschichte von Polizisten, die teils als Autobiographen, teils als Zeitzeugen, teils als Hobbyhistoriker über ‚ihre‘ Polizei – auch im Nationalsozialismus – berichteten.

Dass solche autobiographischen Berichte schnell zur Rechtfertigung nicht nur der eigenen Person, sondern der gesamten Polizei werden können, belegen die Arbeiten von Bernd Wehner, dem Leiter der Reichszentrale zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen im Reichskriminalpolizeiamt (RKPA), der es in der BRD zum Chef der Düsseldorfer Kripo brachte. 1983 legte er mit „Den Tätern auf der Spur“ seine Geschichte der deutschen Kripo vor.[18] Zu Beginn des Kapitels über die kriminalpolizeiliche Arbeit von 1933-1945 erzählt er, wie er am Ende des Krieges zusammen mit einem Kollegen sowie mit dem stellvertretenden RKPA-Chef Paul Werner in einem amerikanischen Gefangenenlager einer Befragung unterzogen wurde. Auf die Frage, ob er Mitglied des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA) war, habe er wie sein Kollege mit nein geantwortet, was ihre Entlassung zur Folge hatte. Werner hingegen habe die Frage bejaht und blieb Gefangener. Dass Werners Antwort der Wahrheit entsprach, er selbst hingegen gelogen hatte, unterschlägt Wehner jedoch kommentarlos.

Die 1936 erfolgte Eingliederung der Kriminalpolizei ins RSHA hatte laut Wehner keine Folgen für die Tätigkeit der Kripo, denn „bei der täglichen Arbeit waren … keine Veränderungen zu registrieren. Der Kampf gegen die Kriminalität wurde nach wie vor von mehr oder weniger erfahrenen Beamten mit mehr oder weniger großem Erfolg geführt.“

Wehner weiß zwar, dass es dem „nationalsozialistischen Deutschland … selbstverständlich“ war, dass „der Kampf gegen den politischen Staatsfeind und gegen den asozialen Verbrecher von einer Hand geführt werden muss“. Gleichzeitig erklärt er, dass „sich in der nunmehr geschaffenen Reichskriminalpolizei der Traum weitsichtiger Kriminalisten und Polizeifachleute der Weimarer Zeit in fast ungeahntem Umfang verwirklicht hatte.“ Detailliert schildert er die neuen Reichszentralen als Nachrichtensammel- und Auswertungsstellen, denen sich kein „reisender Täter“ mehr entziehen konnte und folgert, „dass nunmehr eine außerordentlich erfolgreiche Verbrechensbekämpfung in Deutschland begann.“ Wo dies nicht der Fall war, habe es an mangelnden Kapazitäten gelegen. Als Neuheit beschreibt er auch den Ausbau der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP), die ihre Aufgabe in der „vorbeugenden“ Verbrechensbekämpfung gesehen habe und „schon das Kind erfassen und den ‚Anfängen wehren‘ sollte.“

„So fügte sich die WKP-Arbeit fast nahtlos in die Vorbeugetendenz der nationalsozialistischen Kriminalpolitik ein mit der Folge, dass sich Beamtinnnen nach dem Zusammenbruch auch für Entwicklungen und Maßnahmen zu rechtfertigen hatten, die beispielsweise in der Errichtung von ‚Jugendschutzlagern’ endeten, die man nach 1945 den Konzentrationslagern zuordnen wollte.“

Bezeichnenderweise endet dieser Abschnitt mit einem indirekten Zitat aus einer Selbstdarstellung der letzten Leiterin der WKP, der zufolge „sich die Gedanken und Theorien des Nationalsozialismus mit denen der Zeit vor Hitler in fast diabolischer Weise verbinden konnten, ohne dass sich die Beteiligten dessen so recht gewahr geworden wären.“

Den größten Teil von Wehners Bericht über die Polizei im Nationalsozialismus nimmt die Nacherzählung aufgeklärter Kriminalfälle ein – Erfolge, die aus „durchaus kriminalistischen Bemühungen zur Wahrheitsfindung und juristischen Überlegungen wie sie auch heutiger Rechtsauffassung entsprechen würden“ resultierten. Wehners Ermittlungen führten ihn dabei auch nach Buchenwald, wo er Korruptionsvorwürfe überprüfen sollte. Zwar zeigt er sich dort „überrascht und entsetzt“ über die Praxis, Gifte an Häftlingen auszuprobieren, die exekutiert werden sollten. Zu den Exekutionen selbst und zum Lagersystem fehlt hingegen jede kritische Bemerkung. Dass er diese „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ durchaus für richtig hält, zeigt Wehner schließlich in seiner Beurteilung der Nachkriegslage:

„Allein aus den Konzentrationslagern waren … 6.000 sicherungsverwahrte Gewohnheitsverbrecher und Berufsverbrecher ‚befreit’ worden. Viele von ihnen nutzten die Umstände ein ‚neues Leben’ zu beginnen, indem sie die alten Gewohnheiten fortsetzten.“

1989 lieferte auch der 1946 pensionierte Kriminaldirektor Carl Krämer einen „Zeitzeugen“-Bericht, und zwar „zur Lage der Bremer Kriminalpolizei im Dritten Reich ab 1938“.[19] Auch er schildert ausführlich die organisatorische Neuordnung der Kriminalpolizei unter dem RSHA und die Eingliederung in die SS, die aber nur den Charakter einer formalen „Angleichung“ gehabt habe:

„Diese ‚Angleichung‘ hat später bei der Entnazifizierung eine große Rolle gespielt. Die Betroffenen hatten teilweise große Mühe nachzuweisen, dass sie keine ‚richtigen‘ SS-Führer waren, d.h. nie aktiven Dienst bei der SS geleistet hatten, sondern dass ihnen Uniform und Dienstrang nur nominell verliehen waren.“

Dem Gros der Polizisten sei diese Angleichung nicht recht gewesen. Dennoch betont er „dass einige der Angeglichenen erst nach dem Kriegsende Wert auf diesen Unterschied legten. Sie hätten energisch protestiert, wäre vor dem 8. Mai 1945 auch nur angedeutet worden, sie seien keine ‚richtigen‘ SS-Führer.“ Die Kritik bleibt jedoch halbherzig, denn wenig später stellt Krämer fest: „Doch wer will darüber richten? Auch Kriminalisten sind von Eitelkeiten und menschlichen Schwächen nicht frei. Sie sind Menschen mit allen Fehlern.“ Wie wenig er sich von diesen Verfehlungen distanzieren kann, zeigen die Erinnerungen an seine Kameraden: „Charakterlich war Hamann einwandfrei. Er war offen, kameradschaftlich und taktvoll. In seinem Glauben an die Thesen des Nationalsozialismus war er unerschütterlich und kompromisslos.“

Eine andere Perspektive bilden die „Erinnerungen eines Schutzmannes“ des späteren Wiesbadener Polizeipräsidenten Karl Ender.[20] Dass die Zeit des Einzeldienstes ab 1940 in Bremen stattfand, erwähnt der Autor nur beiläufig. Nichts weist auf die Zeit des Nationalsozialismus hin. Der fünfseitige Bericht ergeht sich ausschließlich in Anekdoten. Was dem promovierten Juristen Ender aus der Zeit von 1940-1945 im Gedächtnis blieb, sind lediglich die ‚witzig‘-pubertären Polizeiberichte seiner Kollegen: „Den den Hausunfall aufnehmenden Polizeibeamten wurde von meiner Braut alles gezeigt, was sie sehen wollten.“

Das BKA

Die offizielle Geschichtsschreibung des Bundeskriminalamts (BKA) drückte sich bis vor wenigen Jahren davor, die nicht nur personelle Kontinuität mit dem Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) zur Kenntnis zu nehmen. In den offiziellen Darstellungen erschien das 1951 gegründete BKA einerseits als Produkt eines historischen Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg. Andererseits bemühte man sich, die organisatorische Zentralisierung der Kripo während des Nationalsozialismus als völlig unpolitische Angelegenheit zu präsentieren, als logische Konsequenz der von „Berufs- und Gewohnheitsverbrechern“ geprägten Kriminalitätslage. Ein Anlass, sich von diesen „alten bewährten Formen“[21] zu distanzieren, schien folglich für die BRD und ihre kriminalpolizeiliche Zentralstelle nicht zu bestehen.

Deutlich wird dieses unbekümmerte Verhältnis zur eigenen (Vor-) Geschichte noch an dem Sammelband, den das BKA 1991 zu seinem 40-jährigen Bestehen veröffentlichte.[22] Abgesehen von einer dürren Chronik für „eilige Leser“, verzichtete man hier ganz auf einen historischen Beitrag, sondern druckte kommentarlos Artikel der Amtspräsidenten seit 1951 ab – darunter einen 1956 in der „Kriminalistik“ erschienen Beitrag über die „Not der Kriminalpolizei“ von Hanns Jess, der dem BKA 1952-53 vorstand:

„Über die Polizei in der Zeit von 1933 bis 1945 herrschen die merkwürdigsten … Auffassungen selbst in den Regierungen der Länder und des Bundes. … Auf dem Gebiete der Kriminalpolizei schuf er (der totalitäre Staat, d. Aut) beraten von den alten, erfahrenen und fachkundigen preußischen Kriminalbeamten, eine sehr zweckmäßige, für die Verbrechensbekämpfung brauchbare und übersichtliche Reichskriminalpolizei.“[23]

Eine Verstrickung der deutschen Kriminalpolizei in die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes hatte es mithin gar nicht gegeben. Das RKPA sei vom Rest des Reichssicherheitshauptamtes „völlig abgetrennt“ gewesen und habe vor allem mit den Aktivitäten der Gestapo nichts zu tun gehabt. Die fälschliche Zuschreibung von nationalsozialistischen Verbrechen habe im Nachkriegsdeutschland „zur zumindest zeitweisen Ausschaltung wertvoller Fachkräfte beim Aufbau der Kriminalpolizei nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 geführt …“[24]

Im Vorwort zu dem Band von 1991 verwies der damals amtierende Präsident Hans-Ludwig Zachert für das genauere Studium der Geschichte des BKA auf zwei „detaillierte Darstellungen von Insidern“: Dabei handelte es sich erstens um eine 1971 erschienene Broschüre von Paul Dickopf, BKA-Präsident von 1965-71, und seinem Stellvertreter Rolf Holle. Die beiden Absolventen des Kommissarslehrgangs an der SS-Führerschule in Charlottenburg waren in der Tat „Insider“. Sie hatten den Aufbau der BKA und seine ersten beiden Jahrzehnte dominiert. Sie sorgten nach 1951 sowohl für den Fortbestand der organisatorischen und der von allzu krassem NS-Vokabular bereinigten ideologischen Konzepte des alten RKPA als auch für die Übernahme der zitierten „wertvollen Fachkräfte“.

Der zweite von Zachert empfohlene Band war die von Horst Albrecht verfasste offizielle „Geschichte des BKA“ aus dem Jahre 1988, die schon in der Einleitung den Mythos der unpolitischen Kriminalpolizei während des Nationalsozialismus reproduzierte:

„Sieht man vom Missbrauch der Polizei im 3. Reich ab, so ergibt sich, dass eine funktionierende, zweckmäßige Organisation entstanden war, die bei der Bekämpfung der nichtpolitischen Kriminalität große Erfolge erzielte.“[25]

Albrecht übernimmt nicht nur die Mär von der gegenüber Polizisten „besonders strengen“ Entnazifizierungspolitik, sondern auch die Selbststilisierung Dickopfs als jemandem, der immer eine „ablehnende Haltung“ gegenüber dem Dritten Reich gehabt habe und „nur durch eine Flucht ins Ausland der Festnahme entgehen“ konnte. Blamabel ist diese Darstellung, weil Albrecht selbst darauf verweist, dass ihm zum einen Quellen für Dickopfs Legende einer Flucht in die Schweiz fehlen und dass ihm zum andern der Zugang zu den 68 Bänden des Dickopf-Nachlasses verweigert wurde, den die BKA-Verwaltung 1975 durch eine 25-jährige Sperrfrist im Bundesarchiv versenkt hatte.[26]

Blamabel ist sie umso mehr als Armand Mergen, ein Außenstehender, in seiner „BKA-Story“ 1987 erstmals die Dickopf-Lügen und die Selbstdarstellung seiner Entourage „nur formell, nicht aber in der Sache, SS-Männer gewesen“ zu sein, zerpflückt hatte.[27] Ausgehend von dem nunmehr offenen Dickopf-Nachlass konnte Dieter Schenk 2001 offen legen, dass ein großer Teil des leitenden Dienst der ersten zwei Jahrzehnte des BKA in Nazi-Verbrechen verwickelt war.[28] Auch nach dieser Publikation brauchte es noch einige Jahre, bis sich das Amt unter einem neuen Präsidenten mit drei Kolloquien der eigenen Geschichte stellte.[29] Konkrete politische Folgen wird das heute nicht mehr haben.

Merkmale

Wenn ‚Polizeihistoriker‘ die Geschichte ihres Berufs und ihrer Organisation im Nationalsozialismus darstellen, werden insbesondere folgende Argumentationsstränge sichtbar:

  • Den Nationalsozialismus gab es gar nicht. Jeglicher Hinweis auf die Nationalsozialistische Herrschaft wird einfach ausgelassen.
  • Polizeigeschichte als Organisationsgeschichte. Die zwölf Jahre Nationalsozialismus erscheinen als eine Abfolge von Verwaltungsreformen. Über die Praktiken und die Rolle der Polizei während der Terrorherrschaft wird schlicht keine Auskunft gegeben.
  • Auf einigen Augen blind. Oft wird nur selektiv berichtet. Mal werden die Osteinsätze der Polizei weggelassen, mal ihre alltägliche Unterstützung des Regimes zu Hause.
  • Schwammige Begriffe und das Herunterspielen der Beteiligung der Polizei ziehen sich durch die Texte.
  • Die Polizei – dem Nationalsozialismus wesensfremd. Demokratisch und republikanisch wird die Institution und ihre Mitglieder charakterisiert. Die Polizei erscheint als Ort des Widerstandes.
  • Die Gestapo war’s. Die eigentlichen Greuel seien von der Gestapo verübt worden. Die Polizei konnte sich deren übermächtigen Einfluss leider nicht erwehren.
  • Geheimhaltung und Lüge. Die Arbeit von Historikern wurde durch die Geheimhaltung beweiskräftiger Dokumente behindert. Über die eigene Beteiligung wird gelogen.
  • In der Sache richtig. Die Polizei und ihr Umbau im Nationalsozialismus wird als richtig dargestellt. Mit dem Kampf gegen den Gewohnheitsverbrecher, der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, der massenweisen Internierung sowie der Zentralisierung, Verstaatlichung und Militarisierung der Polizei wird sympathisiert.

Es bleibt zu hoffen, dass die gegenwärtige Beschäftigung mit der eigenen Geschichte zu mehr Ehrlichkeit, aber auch zu mehr Konsequenz für die Gegenwart in der Lage sein wird.

[1] Horst, D.; Dieter, G.; Gollnik, P., Manthey, B.: Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum der Schutzmannschaft Berlin 1848-1973, Berlin 1973
[2] Der Polizeipräsident in Berlin (Hg.): 175 Jahre Polizeipräsidium Berlin, Berlin 1984, S. 40
[3] Teufel, M.: Vor 70 Jahren wurde die Berliner Mordinspektion gegründet, in: Die Kriminalpolizei 1996, H. 3, S. 135-139 (139)
[4] Der Polizeipräsident in Berlin (Hg.): 150 Jahre Schutzmannschaft Berlin, Berlin 1998, S. 67
[5] ebd., S. 79
[6] Falter, J.: Chronik des Polizeipräsidiums München, München 1997, S. 72
[7] ebd., S. 73 u. 75
[8] ebd., S. 80
[9] Freudenreich, J.: 50 Jahre Münchner Polizeipräsidium, in: München und seine Polizei, Polizei-Verkehr-Technik, Sonderausgabe II/1964, S. 7-17 (8)
[10] Mayer, F.: Zur geschichtlichen Entwicklung von Polizei und Polizeirecht in Bayern, in: Bayern und seine Polizei, Polizei-Technik-Verkehr, Sonderausgabe IVa, Wiesbaden o.J., S. 5-9 (9)
[11] Ebeling, H.: 100 Jahre Kripo Hamburg, in: Kriminalistik 1975, H. 11, S. 510-512 (511)
[12] Bendiek, W.: Geschichtliche Entwicklung der Niedersächsischen Polizei, in: Niedersachsen und seine Polizei, Polizei-Verkehr-Technik, Sonderausgabe IV, Wiesbaden 1962, S. 5-8 (5)
[13] Stromeyer, K.: Aus der Geschichte der Polizei in Baden-Württemberg, in: Baden-Württemberg und seine Polizei, Polizei-Technik-Verkehr, Sonderausgabe IV/1959, S. 15-18 (18)
[14] Kraus, K. (Pressestelle Polizeipräsidium Frankfurt): Geschichte der Frankfurter Polizei, Frankfurt am Main o.J. (hier S. 126 f.)
[15] Polizeipräsidium Frankfurt am Main (Hg.): 125 Jahre Polizeipräsidium Frankfurt am Main, Frankfurt/M. 1992 (S. 124-127)
[16] Schneider, D.: 125 Jahre Kriminalpolizei Baden, in: Die Kriminalpolizei 2004, H. 4, S. 123-126 (126)
[17] Teufel, M.: Schutzleute und Landjäger in Stadt und Oberamt Tuttlingen 1807-1952, Tuttlingen 1986, S. 193 u. 196
[18] Wehner, B.: Den Tätern auf der Spur. Die Geschichte der deutschen Kriminalpolizei, Bergisch Gladbach 1983
[19] Krämer, C.: Zur Lage der Bremer Kriminalpolizei im Dritten Reich ab 1938 – Erinnerungen eines Zeitzeugen, in: Archiv für Polizeigeschichte 1991, H. 4, S. 54-60
[20] Ender, K.: Erinnerungen eines Schutzmannes, insbesondere aus der Zeit des Einzeldienstes, in: 75 Jahre Polizeipräsidium Wiesbaden. Polizei Technik Verkehr, Sonderausgabe, Wiesbaden 1979
[21] Harnischmacher, R.: Deutsche Polizeigeschichte, Stuttgart u.a. 1986, S. 193
[22] Zachert, H.-L. (Hg.): 40 Jahre Bundeskriminalamt, Berlin u.a. 1991
[23] Jess, H.: Die Not der Kriminalpolizei, in: Zachert a.a.O. (Fn. 22), S. 23-33 (25)
[24] ebd.
[25] Albrecht, H.: Im Dienst der Inneren Sicherheit, Wiesbaden 1988, S. 14
[26] ebd., S. 212, 213 u. S. 209 (Fn. 1)
[27] Mergen, A.: Die BKA-Story, München, Berlin 1987, S. 108
[28] Schenk, D.: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001
[29] Bundeskriminalamt (Hg.): Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte. Dokumentation einer Kolloquienreihe, Köln 2008