Stop and Search – Ethnische Unverhältnismäßigkeit in Großbritannien

Interview mit Rebekah Delsol

Immer wieder von der Polizei angehalten und durchsucht zu werden, ist eine erniedrigende Erfahrung, die vor allem Angehörige von Minderheiten machen müssen, sagt Rebekah Delsol. Heiner Busch befragte die Mitarbeiterin von StopWatch über die britische Variante der willkürlichen Kontrolle.

Willkürliche Kontrollen werden umso eher möglich, wenn das Recht der Polizei keine Grenzen setzt. Das ist die Erfahrung, die wir mit den Bestimmungen zur Identitätsfeststellung in den deutschen Polizeigesetzen gemacht haben. Wie sieht die rechtliche Situation in Großbritannien aus?

Im Vereinigten Königreich konnte die Einführung von Identitätskarten bzw. Personalausweisen bisher verhindert werden. Daher gibt es anders als auf dem Kontinent auch keine polizeilichen Befugnisse zur Identitätsfeststellung. Die Polizei darf hier Leute anhalten und befragen: warum sie sich an einem bestimmten Ort aufhalten, was sie da tun, warum sie sich so oder so verhalten etc. Das wird als „Stop-and-account“ bezeichnet (übersetzt etwa: anhalten und nach einer Rechtfertigung fragen, d. Red). Eine eigentliche gesetzliche Grundlage gibt es dafür nicht. Aber die Rechtslage ist reichlich konfus und die Leute, die da angehalten werden, wissen oft nicht, dass sie keine Fragen beantworten müssen und einfach ihres Weges gehen können.

In einer Reihe von Gesetzen gibt es aber ausdrückliche Befugnisse zur Anhaltung und Durchsuchung, Stop-and-Search. Im Normalfall stützt sich die Polizei auf den Police and Criminal Evidence Act (PACE) von 1984 oder auf das Gesetz gegen den Drogenmissbrauch von 1971. Stop-and-Search-Aktionen nach dem PACE erfordern eine bestimmte Verdachtsschwelle, eine objektive und nachvollziehbare Grundlage, und keine bloßen Vorurteile und Verallgemeinerungen. Die PolizistInnen müssen den „begründeten Verdacht“ haben, dass eine Person eine Straftat begangen hat oder im Begriff ist, eine zu verüben. Die Durchsuchung auf der Straße soll den Verdacht entweder bestätigen oder eben entkräften, so dass auf eine Festnahme verzichtet werden kann.

Anders als in Deutschland braucht es bei diesen Anhalte- und Durchsuchungsbefugnisse immerhin konkreter Verdachtsmomente.

Grundsätzlich ist das so, allerdings gibt es auch „außerordentliche“ Stop-and-Search-Befugnisse, die es der Polizei erlauben, Fußgänger und Fahrzeuge ohne jeglichen Verdacht anzuhalten und zu durchsuchen. Und diese Befugnisse werden auch zunehmend genutzt. Der Criminal Justice and Public Order Act von 1994 erlaubt das Anhalten und Durchsuchen nach Waffen, wenn die Polizei es für möglich hält, dass es zu gewaltsamen Ausschreitungen kommt. Auch der Terrorism Act aus dem Jahre 2000 ermöglicht das verdachtsunabhängige Anhalten und Durchsuchen, u.a. in Häfen und Flughäfen. Schon bei der Einführung dieser Befugnisse haben viele Kritikerinnen zu Recht befürchtet, dass die Polizei durch den Wegfall der Verdachtsschwelle und des damit verbundenen Schutzes weite Ermessensspielräume erhält und dass diese neuen Ausnahmevollmachten eben nicht gegen Terrorismus oder schwere Gefahren, sondern gegen Kleinkriminalität und kleine Ordnungsstörungen genutzt werden.

Über StopWatch

StopWatch entstand 2010 als Reaktion auf die wachsende Zahl von Stop-and-Search-Fällen und die Versuche der konservativ-liberalen Regierung in Großbritannien, die Erfassung dieser Fälle und damit die Möglichkeiten der Kontrolle des Ethnic Profiling einzuschränken. Wir sind eine Koalition, der diverse gesellschaftliche Organisationen, AkademikerInnen, AnwältInnen, SozialarbeiterInnen, AktivistInnen und vor allem junge Leute angehören. Von Anfang an haben wir eine breite Kampagne gegen den unverhältnismäßigen Gebrauch dieser Befugnisse gegenüber schwarzen Menschen und Angehörigen anderer Minderheiten und gegen den zunehmenden Rückgriff auf Ausnahmevollmachten der Polizei geführt.

Wir setzen uns ein für eine effiziente, aber gleichzeitig faire und berechenbare Polizeiarbeit. Wir betreiben Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Wir forschen selbst und initiieren Forschungsarbeiten anderer. Und wir geben Betroffenen rechtliche Unterstützung.

Mehr dazu unter www.stop-watch.org.uk


Werden die Stops-and-searches erfasst? Gibt es Statistiken?

Ja, die Erfassung wurde mit dem PACE 1984 eingeführt. Hintergrund waren die Befürchtungen über den unfairen Gebrauch dieser Befugnisse. Die Erfassung sollte die BeamtInnen dazu bewegen, die Gründe für das Anhalten und Durchsuchen sorgfältig abzuwägen, und sie von willkürlichen Kontrollen abhalten. Die Erfassung machte auch Statistiken und ein Monitoring möglich. Darüber hinaus sind die Erfassungsformulare ein Management-Tool für Vorgesetze: Es erlaubt ihnen festzustellen, wo BeamtInnen ihre Befugnisse möglicherweise falsch anwenden. Die Erfassung ist zudem die essentielle Voraussetzung, um rassische bzw. ethnische Unverhältnismäßigkeiten in der Anwendung identifizieren und die Wirkung von Gegenmaßnahmen abschätzen zu können.

Damit wären wir beim Thema Racial Profiling. Wie deutlich sind denn die Unverhältnismäßigkeiten?

Die aktuellen Zahlen des Innenministeriums für England und Wales insgesamt beziehen sich auf den Zeitraum von Mitte 2011 bis Mitte 2012. Sie zeigen, dass schwarze Menschen siebenmal und AsiatInnen doppelt so oft angehalten und durchsucht werden wie Weiße. Und diese Unterschiede sind nicht neu. In dem Jahrzehnt seit 2001/02 lagen die Anhaltungs- und Durchsuchungsraten bei Schwarzen zwischen fünf- und achtmal höher als bei Weißen. Bei asiatischen Leuten pendelt das im selben Zeitraum zwischen dem 1,5- und dem 2,5fachen.

Die Ungleichheit ist deutlich höher bei Stops-and-Searches, bei denen kein begründeter Verdacht erforderlich ist. Zum Beispiel bei den Maßnahmen nach Section 60 des Criminal Justice and Public Order Act, also der Befugnis, die für den Umgang mit außergewöhnlichen gewaltsamen Situationen geschaffen wurde. 2010-11 wurden nach dieser Regelung Schwarze 37 Mal und AsiatInnen neun Mal häufiger kontrolliert als Weiße. Wo PolizeibeamtInnen den größten Ermessenspielraum haben, zeigen sich Ungleichheit und Diskriminierung am deutlichsten. Wenn die BeamtInnen keinen konkreten Verdacht brauchen, können sie bei der Entscheidung, ob und bei wem sich eine Kontrolle lohnt, auf ihre eigenen Ansichten, auf Generalisierungen und Vorurteile zurückgreifen.

Wie wirkt sich dieses Ungleichgewicht aus? Wie reagieren die Betroffenen?

Die ethnische Unverhältnismäßigkeit hat Folgen für die Individuen, für die betroffenen Communities und für die Gesellschaft als ganze. Über Stops-and-Searches wird seit über dreißig Jahren diskutiert. Viele Menschen in diesem Land, besonders solche aus Minderheiten, haben damit persönliche Erfahrungen gemacht. Und es gibt eine Menge Leute, die das immer wieder über sich ergehen lassen müssen. Das ist eine Furcht einflößende, peinliche und erniedrigende Erfahrung.[1]

Viele junge Männer, gerade aus den schwarzen und asiatischen Gemeinschaften, spüren, dass sie nur deshalb angehalten und durchsucht werden, weil sie in ein allgemeines Sterotyp passen. Das befeuert die Wut und die Entfremdung in einigen dieser Communities. Die ethnische Unverhältnismäßigkeit untergräbt das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fairness und die Legitimität der Polizei und des Strafjustizsystems insgesamt. Um ihre Arbeit machen und Recht durchsetzen zu können, sind PolizistInnen schließlich darauf angewiesen, dass ihre Tätigkeit als legitim angesehen wird und dass die Bevölkerung mit ihnen zusammenarbeitet. Wenn die Polizei in den Augen der „Polizierten“ die Glaubwürdigkeit verliert, dann verliert das Gewaltmonopol, das zu vertreten sie beansprucht, seine Legitimität. Unruhen können entstehen, wie das im August 2011 in den englischen Städten der Fall war.

In der noch jungen deutschen Debatte über Racial Profiling hört und liest man zuweilen, die britische Polizei habe anders als die deutsche dieses Problem erkannt und gehe es an – mit speziellen Fortbildungen aber auch einer Veränderung der Einsätze. Ist das so?

Veränderungen sind in der Tat möglich. In diesem Jahr hat die Equality and Human Rights Commission, ein von der Regierung eingesetzter unabhängiger Ausschuss, einen Bericht über Veränderungen in fünf regionalen Polizeien vorgelegt, darunter die beiden größten: die Metropolitan Police of London und die West Midlands Police, die u.a. für Birmingham zuständig ist. Ausgangspunkt dafür war eine 2010 durchgeführte umfassende Untersuchung über den Gebrauch der Stop-and-Search-Befugnisse, die alle Polizeien einbezog. Mit den fünf Polizeien, die hinsichtlich der ethnischen Verhältnismäßigkeit am schlechtesten abgeschnitten hatten, startete die Kommission dann ein Programm. Der jetzt veröffentlichte Bericht zeigt bei diesen Polizeien zum einen, dass die Anhaltungen und Durchsuchungen insgesamt zurückgegangen sind, teils um fünfzig Prozent. Reduziert wurde zum anderen der unverhältnismäßige Gebrauch dieser Befugnisse gegen ethnische Minderheiten. Gleichzeitig sind die Kriminalitätsraten weiter gesunken. Insgesamt lässt sich sagen: Die Polizeien sind fairer und zugleich effizienter in ihrem Gebrauch von Stop-and-Search-Befugnissen geworden.

Wie wurden diese Veränderungen denn erreicht? Welche Maßnahmen wurden ergriffen?

Es gab eine ganze Reihe von Aktivitäten: Man setzte auf Erkenntnis basierte Kontrollen, statt die Stop-and-Search-Befugnisse auf „Intuitionen“ oder Generalisierungen über bestimmte Bevölkerungsgruppen abzustützen. Es gab Fortbildungen, die den BeamtInnen klarmachen sollten, was denn ein „begründeter Verdacht“ ist und wie der verhältnismäßige Gebrauch dieser Befugnisse aussehen kann. Zielvorgaben hinsichtlich der Menge der Anhaltungen und Durchsuchungen wurden beseitigt. Es gab ein Monitoring bis hinunter auf die lokale Ebene und die einzelnen BeamtInnen. Schließlich hat man auch die Strategien der regionalen Polizeien und die Vorgaben der Polizeiführungen wieder daran ausgerichtet, was national als „best practice“ gilt.

Der Kommissionsbericht übertreibt das Ausmaß der Veränderungen, dennoch spiegelt er die national rückläufige Zahl der Anhaltungen und Durchsuchungen und den geringeren, aber deutlichen Rückgang der ethnischen Unverhältnismäßigkeit beim Gebrauch dieses Mittels. Das sind wichtige Veränderungen. Sie zeigen, wie wichtig der Druck von außen ist – durch Untersuchungen offizieller Kommissionen wie der Equality and Human Rights Commission, aber auch durch Kampagnen von Gruppen wie StopWatch.

Was sind nun die Perspektiven im Kampf gegen Racial Profiling und willkürliche Stops-and-Searches in Großbritannien?

Das Thema Stop-and-Search ist wieder auf der politischen Agenda. Im Juli dieses Jahres hat das nationale Polizeiinspektorat (Her Majesty’s Inspectorate of Constabulary, HMIC) einen Bericht vorgelegt.[2] Innenministerin Theresa May hatte die Untersuchung im Dezember 2011 angeordnet, nachdem die polizeiliche Stop-and-Search-Praxis im Gefolge der August-Unruhen erneut Anlass zu Diskussionen gab. Das Inspektorat besuchte alle 43 regionalen Polizeien und wertete über 8.000 Erfassungsformulare aus. In mehr als einem Viertel der Fälle hatten die PolizistInnen entweder gar keinen Grund für die Anhaltung angegeben oder die Eintragung zeigte, dass die Schwelle des begründeten Verdachts nicht erreicht war. Hinzu kommt, dass Stops-and-Searches sich als ineffizient erweisen: Nur neun Prozent der jährlich über eine Million Anhaltungen führen zu Festnahmen. Der Bericht hält außerdem fest, dass sowohl die Ausbildung als auch die Kontrolle durch die leitenden BeamtInnen mangelhaft sind. Und er verweist auf die Folgen für die AdressatInnen und die tief verwurzelte Wahrnehmung dieser Praxis als unfair und diskriminierend. Im September kündigte die Innenministerin nun eine öffentliche Konsultation an. Stop-and-Search-Befugnisse könnten für die Kriminalitätsbekämpfung zentral sein, ihr derzeitiger Gebrauch sei jedoch diskriminierend und ineffizient.

In den letzten dreißig Jahren hat es – meist nach Krisen oder Skandalen – eine Reihe von Reformvorschlägen gegeben. Man denke nur an den Bericht von Lord Scarman nach den Unruhen in Brixton 1981 oder an die Macpherson-Kommission 1998/99, die die polizeilichen Ermittlungen des rassistischen Mordes an Stephen Lawrence unter die Lupe nahm. Immer wurden zwar die Probleme benannt, aber die Veränderungen blieben Flickwerk. Wir müssen aus der Vergangenheit lernen. Eine grundsätzliche Reform sowohl des Rechts als auch der Praxis des Stop-and-Search ist notwendig. Und die kann es nur unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und vor allem der Communities geben, die die Praxis des Stop-and-Search mit voller Wucht zu spüren bekommen.

[1] StopWatch hat jüngst einen Film über die menschlichen Kosten der Stop-and-Search-Praxis produziert: www.stop-watch.org/experiences.
[2] www.hmic.gov.uk/media/stop-and-search-powers-20130709.pdf