Katalysator Wirtschaftskrise? Zum Wandel von Protest Policing in Europa

von Andrea Kretschmann

Seit 2008 entfaltet sich in der EU die größte Krise des Kapitalismus seit den 30er Jahren. Begleitet wird sie von einer für die letzten Dekaden ungewöhnlichen Vehemenz sozialer Kämpfe. KriminologInnen beobachten im gleichen Zeitraum einen qualitativen Wandel des Protest Policing. Der Beitrag fragt nach den Zusammenhängen der Entwicklungen.

Die Krise hat Einzug gehalten in Europa. Politische ÖkonomInnen sehen seit 2008 nicht nur den kapitalistischen Normalbetrieb gestört, sie beobachten außerdem, wie angesichts von mangelndem Wirtschaftswachstum und Massenarbeitslosigkeit auch die neoliberale Ideologie zunehmend brüchig wird.[1] Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich „ökonomische Systemrisiken und kalkulierbare Schadensfälle für die Mehrzahl derjenigen, die in aller Abhängigkeit nichts zu entscheiden haben, in elementare Gefahren verwandelt“ haben.[2]Wo die „Krisenlösungsstrategien“ die Balance zwischen sozialer Sicherheit und Prekarität nicht mehr zu stabilisieren vermögen, dort entbinden sie neue, breite Bevölkerungsgruppen nahezu gänzlich von ökonomischer Teilhabe. Die Rede ist vorrangig von den Mittelschichtsangehörigen einiger südlicher Länder Europas.[3] Hinzu kommt die Konfrontation der Bevölkerungen mit Vorgängen politischer Schließung in Form autoritaristisch durchgesetzter Krisenmaßnahmen.[4]

Dass all dies Unmut erzeugt, zeigen vor allem die monatelang anhaltenden Streiks und Proteste breiter Bevölkerungsschichten in jenen Ländern, welche die EU-Krisenpolitik zu fundamentalen Kürzungen zwingt.[5] Aber auch in den Profiteursländern der Krisenpolitik findet die wachsende Prekarisierung zusehends breiterer sozialer Schichten und die Sensibilisierung für die Zunahme sozialer Ungleichheiten in einer neuen Konjunktur von Protesten ihren Ausdruck.

Staatstheoretisch wird die derzeitige Krise unter Rückgriff auf Gramscis Hegemoniekonzept[6], dem zufolge Herrschaft immer dann gesichert ist, wenn über sie ein politischer und zivilgesellschaftlicher Konsens hergestellt werden kann, als Phänomen des Wegbrechens eben jener Zustimmung beschrieben. Dass die Hegemonie brüchig werde, sei – weiter entlang Gramscis These, dass fehlender Konsens mit Zwang kompensiert werde – am Einsatz autoritärer, undemokratischer Krisenlösungsversuche erkennbar.[7]

Angriff auf die Versammlungsfreiheit

Tatsächlich bedient sich das „Protest Policing“ der letzten Jahre in vielen Ländern Europas neuer rechtlicher Grundlagen, Formen und Techniken, nicht selten unter (temporärer) Suspendierung von Grundrechten und Kriminalisierung derjenigen, die ihre Rechte auf Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit wahrnehmen.[8] Versuche etwa im Zuge von „Blockupy Frankfurt“, die Versammlungsfreiheit für bestimmte Gebiete vollständig aufzuheben, sind dabei nur die eine Seite.[9] In Deutschland greift die Polizei nicht nur auf die Instrumente des Versammlungs-, sondern auch auf die des Polizeirechts zurück. In Hamburg richtete sie beispielsweise Ende 2013 und Anfang 2014 „Gefahrengebiete“ ein, die ihr verdachtsunabhängige Kontrollen in weiten Innenstadtbereichen ermöglichten und mit dem ursprünglichen Anlass, einer Demonstration im Dezember 2013, nichts mehr zu tun hatten. In Österreich ermöglichte ein gesondertes Vermummungsverbot Personenanhaltungen innerhalb der gesamten Wiener Innenstadt.[10]

Parallel zur teilweisen Außerkraftsetzung demokratischer und verfassungsrechtlicher Prinzipien in der Krisenpolitik scheint auch dem polizeilichen Umgang mit Protest eine neue Qualität zuzukommen – selbst in Ländern, in denen die spezifischen Folgen der Krise den Alltag der Menschen bisher weniger stark erreicht hat. Gramscis hegemonietheoretisches Argument weiterführend wäre zu fragen, ob der bröckelnde Konsens durch exekutive Maßnahmen ersetzt wird, und ob Homologien zwischen dem polizeilichem Feld und den ökonomischen Rahmenbedingungen erkennbar werden. Etabliert sich auch auf der Ebene von Protest Policing eine (Rechts-)Politik des „kleinen Ausnahmezustands“?

Für Spanien haben Caceres und Oberndorfer aufgezeigt, dass dies tatsächlich der Fall ist.[11] „Wir brauchen ein System, das den Demonstranten Angst macht.“ So zitieren sie den katalanischen Innenminister, der sich im April 2012 für eine Strafrechtsänderung einsetzte, mit der unangemeldete Demonstrationen als „Anschlag auf die Staatsgewalt“ und mediale Aufrufe zur Störung der öffentlichen Ordnung mit Haftstrafen von bis zu zwei Jahren geahndet werden können. Im November 2013 ließ die Regierung einen weiteren Gesetzentwurf „zum Schutz der bürgerlichen Sicherheit“ folgen, mit dem neue Verwaltungsstraftatbestände einführt werden sollen, über die die Polizeibehörden und nicht die Gerichte entscheiden. Leichte Vergehen sollen mit Geldstrafe bis zu 1.000, schwere mit bis zu 30.000 Euro geahndet werden. Ein schweres Vergehen begeht demnach, wer „nicht mit dem Beamten zusammenarbeitet, gewaltfreien Widerstand leistet oder einen Polizisten beleidigt, bedroht oder es am Respekt fehlen lässt.“ Die Höchststrafe von bis zu 600.000 Euro für sehr schwere Vergehen soll künftig Personen drohen, die unangemeldete Demonstrationen vor parlamentarischen Einrichtungen und den Höchstgerichten oder Proteste organisieren, sofern es bei diesen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. In die Kategorie „sehr schwer“ fällt ferner „die Aufnahme und das Verbreiten von Bildern von Polizeibeamt_innen, welche deren Ehre oder Sicherheit gefährden.“[12]

Derartig schwer in die Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit eingreifende Gesetzesentwürfe sind für europäische Verhältnisse bislang noch singulär. In Sachen polizeilicher Härte bei Demonstrationen steht die griechische Exekutive der spanischen jedoch in nichts nach. In beiden Ländern wurde das Demonstrationsrecht bei mehreren Anlässen de facto ausgesetzt; in Griechenland etwa, indem der für die griechische Protestbewegung symbolische Syntagma-Platz während der Demonstrationen gegen die „Sparpakte“ immer wieder „stundenlang mit Reizgas und Blendgranaten beschossen“ wurde, und die Polizei, nachweis­lich mehrmals unterstützt durch bewaffnete faschistische Vigilanten, „Prügelorgien in den Straßen rund um das Regierungsviertel“ durch­führte.[13] In Spanien setze die Polizei zwecks Zerschlagung einer De­monstration Anfang 2014 erstmalig eine schmerzhaft laute Töne abgebende „Soundkanone“ ein – ein Novum für den europäischen Kontext.[14]

Vergleichsweise harmloser, aber nicht weniger bedenklich nehmen sich da die mit der Novelle des österreichischen Sicherheitspolizeigesetzes 2012 erhöhten bzw. eingeführten Bußgelder etwa für die Störung der öffentlichen Ordnung, aggressives Verhalten gegenüber der Polizei (218 Euro), die Beschädigung des Ansehens der Polizei durch grafische Darstellungen und für Besetzungen (beides 500 Euro) aus. Erweitert wurden auch die staatsschützerischen Befugnisse für die Erhebung sensibler Daten.[15] Unübersehbar ist hier wie dort, dass polizeiliche Interventionen zunehmend auf dem Verordnungsweg erfolgen und Strafen als Verwaltungsstrafen konzipiert werden, mit der Folge der richterlich ungeprüften Vergrößerung polizeilicher Ermessensspielräume.

Elemente einer politischen Ökonomie des Protest Policing

Es würde zu weit führen, an dieser Stelle einen grundlegenden Überblick über das Verhältnis von Krise, Protest und Polizei geben zu wollen. Denn dieses Thema bildet innerhalb der Forschung derzeit noch eine Leerstelle[16], wie überhaupt das „Knäuel Ökonomie/Kriminologie“ bisher nur unzureichend entwirrt wurde.[17] Für eine Annäherung ist jedoch der Hinweis hilfreich, dass Kriminalpolitiken nie isolierte Erscheinungen darstellen. Sie sind an kulturell tief verwurzelte Paradigmen gebunden, die vielfach auch den Umgang mit anderen sozialen Problemen wie Armut oder Arbeitslosigkeit bestimmen.[18] In diesem Sinne bilden insbesondere Sozial- und Kriminalpolitiken ein gemeinsames policy regime der Regulierung sozialer Marginalität. In Kriminaljustizsystemen ist jedoch nicht von in sich kohärenten Tendenzen auszugehen, vielmehr müssen sie als in langfristigen Prozessen etablierte Gefüge beschrieben werden. Diese lassen sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen, sondern sie sind darauf ausgerichtet, unterschiedliche Interessen, Kontroll- und Strafphilosophien zu koordinieren.

Eine politische Ökonomie des Protest Policing griffe zu kurz, berücksichtigte sie nicht auch kulturell-normative und strukturell-institutio­nalisierte Zusammenhänge, ebenso wie dem Kriminaljustizsystem eigene Zeitrechnungen angesichts prägender, herausragender Ereignisse wie beispielsweise dem 11. September 2001. In diesem Zuge erhielt die Polizei vor allem in informationeller Hinsicht wesentliche Befugniserweiterungen, welche in den Folgejahren langsam auf politisch aktive Spektren abseits des Islamismus ausgeweitet wurden.[19] Das Muster der Erweiterung bekannter Interventionsformen auf neue soziale Gruppen zeigt sich auch im Fall der anfangs erwähnten Gefahrengebiete, die ursprünglich insbesondere die Kontrolle offener Drogenszenen ermöglichen sollten.

Bei allen direkten Verbindungen, die sich im Falle von Spanien oder Griechenland zwischen der Krise und den Polizeipraktiken generieren lassen, ist jedoch festzuhalten, dass viele Einschränkungen von Freiheitsrechten bereits vor der derzeitigen ökonomischen Krise datieren.[20]

Zwar existierte ab den 60er Jahren „ein zunehmendes Maß an Toleranz gegenüber Protestierenden sowie eine Abnahme des Einsatzes eskalierender Strategien“.[21] Mit Ende der Ära des inklusionsbemühten wohlfahrtstaatlichen Strafens jedoch setzen grundlegende Veränderungen ein. Parallel zur Verbreiterung des Sicherheitsgedankens in der Kriminalpolitik, für den präventive Maßnahmen und die Repression „eingliederungsunwilliger“ Menschen charakteristisch ist, weichen die noch in den 80er und 90er Jahren maßgeblich deeskalativen Maßnahmen zunehmend räumlichen Strategien der Verdrängung des Protests (etwa an entfernte Orte oder durch großräumige Sperrzonen) sowie dem massiven Einsatz von Intelligence-Maßnahmen und rechtlicher Repression.[22] Bereits für die späten 2000er Jahre beobachten KriminologInnen zudem Tendenzen der Militarisierung polizeilicher Strategien hin zu Methoden der Aufstandsbekämpfung.[23] Im Kontext der Abkehr von der tendenziell unterstützenden, nachsorgenden Strafrechtsorientierung der wohlfahrtsstaatlichen Ära hin zu einer präventiven Sicherheitsorientierung haben Abweichungen immer auch das Potenzial, Bedrohungen der politischen Autorität darzustellen.

Im Zuge der Krise jedoch scheint die Erosion der Bürger- und Freiheitsrechte, durch die das sicherheitsorientierte Vorgehen der Kriminalpolitik des Neoliberalismus kennzeichnet war, eine nochmalige Erweiterung zu erfahren. Bereits dem Policing der 90er Jahre sprachen KriminologInnen die Funktion einer „Ersatzpolitik“[24] für die Regulierung der zunehmenden sozialen und ökonomischen Desintegration zu. In der Krise, so hat es den Anschein, erfährt diese Funktion eine weitere Manifestation. Anzeichen ergeben sich dort, wo die Polizei regelmäßig eher besatzungs- als bürgerpolizeiliche Aufgaben wahrnimmt oder auf dem Verordnungswege agiert. Sie ist dann kein Mittel zum Zweck mehr, sie wird selbst zum Zweck. Von einem Bruch mit Elementen formaler Demokratie ist auch dort auszugehen, wo die Einschränkung der Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit Ausnahmecharakter annimmt. Der Krise kann insofern, so die hier explorativ vorgestellte These, eine relative Katalysatorfunktion für bisherige Tendenzen im Protest Policing zugesprochen werden. Zu betonen bleibt, dass aufgrund der tiefen Verwurzelung kriminalpolitischer Praxen in gesellschaftlich-kulturelle Kontexte trotz der skizzierten Verschiebungen stets von einer Vermischung ,alter‘ und ,neuer‘ Politikstile und Praktiken sowie von deren Heterogenität und Widersprüchlichkeit auszugehen bleibt.

[1] z.B. Gill, S. (ed.): Global Crises and the Crisis of Global Leadership, Cambridge, 2011
[2] Vogl, J.: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, S. 177
[3] Birke, P.: Unerwartete Proteste und ihr etwas weniger überraschendes Ausbleiben, in: Billmann, L.; Held, J. (Hg.): Solidarität in der Krise, Tübingen 2013, S. 355-372 (362)
[4] Oberndorfer, L.: Hegemoniekrise in Europa, in: Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hg.): Die EU in der Krise, Münster 2012, S. 50-72
[5] Birke a.a.O. (Fn. 3) S. 362 ff.
[6] Gramsci, A.: Gefängnishefte, hg. v. Bochmann, K. u.a., Hamburg; Berlin, 1991-2002
[7] Oberndorfer, L.: Vom neuen über den autoritären zum progressiven Konstitutionalismus?, in: juridikum 2013, H. 1, S. 76-86
[8] Starr, A.; Fernandez, L.; Scholl, C.: Shutting down the Streets. Political Violence and Social Control in the Global Era, New York, London 2011
[9] Pichl, M.: Normalisierung des Ausnahmezustands. Eine Rückschau auf die Blockupy-Aktionstage im Frankfurt am Main, in: juridikum 2012, H. 3, S. 344-354
[10] Dopplinger, L.; Kretschmann, A.: Die Produktion gefährlicher Räume. Der Polizeieinsatz anlässlich des rechtsextremen „Akademikerballs” in der Wiener Hofburg 2014, in: juridikum 2014, H. 1, S. 19-28
[11] Caceres, I.; Oberndorfer, L.: Verlangt das Gesetz der bürgerlichen Sicherheit die Einschränkung der politischen Freiheiten?, in: juridikum 2013, H. 4, S. 453-463 (453 ff.)
[12] ebd, S. 454
[13] Kritidis, G.: Die Demokratie in Griechenland zwischen Ende und Wiedergeburt, in: Sozial.Geschichte Online 2011, H. 6, S. 135-155 (145 ff.)
[14] http://disopress.com/media.details.php?mediaID=NzAyNTEzMWU2ZjI5Nzc=(2014-26-01). Die aus der militärischen Nutzung stammenden „Long Range Acoustic Devices“ werden seit 2007 im Kontext politischen Protests verwendet, so vor allem in den USA, aber auch in Honduras, Georgien oder Kanada.
[15] Kretschmann, A.: Das Wuchern der Gefahr. Einige gesellschaftstheoretische Anmerkungen zur Novelle des Sicherheitspolizeigesetzes 2012, in: juridikum 2012, H. 3, S. 320-333
[16] Ullrich, P.: Das repressive Moment der Krise. Erleben wir eine Rückkehr autoritärer Konfliktlösungen?, in: WZB-Mitteilungen 2012, H. 137, S. 35-37 (37): www.wzb.eu/de/ publikationen/wzb-mitteilungen/wzb-mitteilung/137
[17] Narr, W.-D.: Thesenartige Stichworte zu einer (kriminologischen) Kritik der (politischen) Ökonomie, in: Klimke, D.; Legnaro, A. (Hg.): Politische Ökonomie und Sicherheit, Weinheim 2013, S. 319-325 (320)
[18] Dollinger, B.; Kretschmann, A.: Social Work and Criminal Justice, in: Kessl, F. et al. (eds.): European Social Work. A Compendium, Opladen; Farmington Hills 2014
[19] vgl. della Porta, D.; Peterson, A.; Reiter, H.: Policing Transnational Protest, in: Dies. (eds.): The Policing of Transnational Protest, Aldershot 2006, S. 1-12 (5)
[20] ebd., S. 4
[21] Ullrich a.a.O. (Fn. 16), S. 36
[22] vgl. della Porta et al. , a.a.O (Fn. 19), S. 5 f.
[23] Starr et al., a.a.O. (Fn. 8)
[24] Ziegler, H.: Prävention. Vom Formen der Guten zum Lenken der Freien, in: Widersprüche 2001, H. 79, S. 7-24 (16)