„Begrenztes Risiko“? Polizeilicher Einsatz von Pfefferspray bei Fußballspielen

von Thomas Feltes

Beim Einsatz des im Fachjargon als „polizeilicher Reizstoff“ be­zeichneten Sprays als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt kommt es immer wieder zu starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Verletzungen. Das nordrhein-westfälische Innenministerium verharmlost die Gefahr.

Nach dem Spiel des 1. FC Kaiserslautern (FCK) in Düsseldorf am 19. März 2016 betraten Fans in einem Regionalexpress ein unverschlossenes Dienstabteil und spielten über das Mikrofon Musik ab. Nach kurzer Zeit schloss der Zugbegleiter die Tür ab. Beim Eintreffen des Zuges im Kölner Hauptbahnhof versuchten sich PolizeibeamtInnen Zutritt zu dem Abteil zu verschaffen. Sie wollten zum Dienstabteil, um sich davon zu überzeugen, dass dieses wirklich abgeschlossen war. Die Situation eskalierte und die BeamtInnen begannen, Pfefferspray in das vollbesetzte Abteil zu sprühen. Fans verließen panikartig den Zug und wurden auf dem Bahnsteig erneut mit Pfefferspray und Schlagstöcken traktiert. Ein FCK-Fan fiel dabei zwischen Bahnsteig und Zug auf die Gleise.[1] Der Vorfall ist keinesfalls einmalig, denn oft werden Beteiligte wie Unbeteiligte Opfer von Pfefferspray-Einsätzen der Polizei und müssen sich ärztlich behandeln lassen. Das Beispiel beleuchtet die Gefahren, die mit diesem polizeilichen Einsatzmittel verbunden sind, und zeigt zudem, dass die Polizei bereit ist, Pfefferspray selbst in gefährlichen Situationen oder gar in geschlossenen Räumen einzusetzen.

In Verbindung mit Einsätzen bei Fußballspielen wandte sich die PIRATEN-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalens (NRW) Anfang 2015 in einer Kleinen Anfrage an die Landesregierung. Die Frage, wie viele polizeiliche Einsätze von Pfefferspray und anderen Reizstoffen es von 2010 bis 2014 in NRW gab, ließ das Innenministerium unbeantwortet. Eine Datenauswertung sei in der zur Bearbeitung der Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich gewesen. Aus dem gleichen Grund wurden auch keine Angaben zu den durch Pfefferspray verletzten Personen und PolizistInnen selbst gemacht,[2] was verwundert, da solche Zahlen im Jahresbericht der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) enthalten sind und von dort hätten übernommen werden können – es sei denn, man traut den dort genannten Zahlen nicht.

Umfang des Einsatzes von Pfefferspray

Dem ZIS-Bericht zufolge wurden in der Saison 2014/15 bei Spielen der ersten und zweiten Fußballbundesliga sowie der dritten Liga bundesweit insgesamt 167 Menschen durch den Einsatz von polizeilichem Reizstoff verletzt, darunter 39 PolizeibeamtInnen.[3] Die tatsächlichen Zahlen dürften weitaus höher liegen, denn einerseits werden sich PolizeibeamtInnen nur in Ausnahmefällen als „verletzt“ melden, wenn KollegInnen die Verletzung verursacht haben. Noch größer dürfte das Dunkelfeld bei den „StörerInnen“ sein, die am häufigsten Opfer solcher Einsätze werden. Hier listet die ZIS-Statistik 105 Personen auf. Dies dürften vor allem Personen gewesen sein, die anschließend vorläufig festgenommen wurden, denn andere Fans, die durch den Einsatz von Pfefferspray verletzt wurden, werden sich in aller Regel nicht bei der Polizei als „verletzt“ melden, da sie so Gefahr laufen, dass gegen sie polizeilich ermittelt und möglicherweise ein Stadionverbot verhängt wird. Auch die meisten Unbeteiligten und OrdnerInnen werden sich – aus unterschiedlichen Gründen – nicht registrieren lassen.[4] Man wird auch aufgrund der von MitarbeiterInnen und DoktorandInnen des Bochumer Lehrstuhls seit 2010 regelmäßig durchgeführten Spielbeobachtungen von einem erheblichen Dunkelfeld ausgehen müssen, vor allem, wenn man die Mengen an Pfefferspray berücksichtigt, die von der Polizei beschafft wurden: 13.500 Spraydosen mit je 45 Millilitern wurden alleine für Hessen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland für drei Jahre geordert. Hierbei handelt es sich aber offensichtlich um die „Am-Mann-Ausstattung“ und nicht um die größeren Kartuschen, die bei Fußballspielen und Demonstrationen eingesetzt werden. Hierüber liegen keine Beschaffungsangaben vor.[5]

Risiken und Gefahren

Zu den Risiken, Gefahren und der Wirkungsweise von Pfefferspray macht das Innenministerium NRW in seiner Antwort auf die Kleine Anfrage nur sehr dünne Angaben: „Grundsätzlich bewertet die Landesregierung das Risiko der Beeinträchtigung der Polizeibeamten oder von Unbeteiligten als begrenzt. … Bei bestimmungsgemäßer Exposition sind in der Regel keine bleibenden gesundheitlichen Schäden zu erwarten.“[6] Demgegenüber stellte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bereits 2010 fest, dass „beim Einsatz mittels Pfefferspray … Capsaicin bleibende Schädigungen der Hornhaut jedenfalls dann verursachen (kann), wenn der Abschuss aus kurzer Distanz und mit einer hohen Austreibungswucht vorgenommen wird.“[7] Capsaicin ist Hauptbestandteil des in Pfefferspray herkömmlich verwendeten Reizstoffs Oleoresin Capsicum (OC). Auch die in NRW genutzten Reizstoffsprühgeräte enthalten OC.[8] Hinzu kommt, dass zusätzlich das Risiko eines „lagebedingten Erstickungstodes“ durch die extreme Reizung der Atemwege erhöht wird, wenn die Person anschließend am Boden liegend fixiert wird.

War dieser Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages dem Innenministerium nicht bekannt oder wollte man ihn nicht zur Kenntnis nehmen? Denn immerhin ist der Einsatz von Pfefferspray durch das Abkommen über biologische Waffen von 1972 als Kampfmittel gegen SoldatInnen und ZivilistInnen in einem Krieg verboten, darf aber offensichtlich in „Friedenszeiten“ eingesetzt werden. Allerdings setzt die indische Polizei inzwischen Pfefferspray-Drohnen ein, die in einem Umkreis von 1.000 Metern DemonstrantInnen aus der Luft mit Pfefferspray „duschen“ können.[9]

Große Gefahren bestehen bei dem Einsatz von Pfefferspray insbesondere für Personen, die gesundheitlich vorbelastet sind (z.B. AsthmatikerInnen, AllergikerInnen etc.), die unter Drogeneinfluss stehen oder die Psychopharmaka eingenommen haben.[10] Schlichtweg falsch ist daher auch die Annahme des Innenministeriums NRW, es sei „kein polizeilicher Einsatz des Reizstoffsprühgerätes bekannt, der in Kausalität zu einem Todesfall geführt hätte“.[11] Selbst wenn man die Aussage auf NRW beschränken wollte, trifft sie nicht zu. Am 23. Juli 2010 kam ein 32-jähriger Mann in Dortmund durch Pfefferspray zu Tode.[12] Die Obduktion konnte die Todesursache nicht klären. Der Mann sei, so die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, „einem Multiorganversagen infolge eines schweren Kreislaufschocks erle­gen“. Als Auslöser für seinen Tod nannte die Staatsanwaltschaft damals verschiedene Umstände, wie eine Vergiftung durch Betäubungsmittel, eine Infektion der oberen Atemwege oder einen Atemstillstand nach „mas­si­ver, auch psychisch ausgelöster Agitation“. Letztere kann als Hinweis auf einen „lagebedingten Erstickungstod“[13] gedeutet werden, der ebenfalls innerhalb der Polizei schon lange bekannt ist und dennoch immer wieder das Ergebnis fehlerhafter Interventionen ist,[14] aber in Verbindung mit Pfefferspray-Einsatz noch nicht thematisiert wurde.

Schon 1995 hatte die American Civil Liberties Union (ACLU) festgestellt, dass 26 Menschen in den USA nach Pfefferspray-Einsätzen gestorben sind.[15] Die Betroffenen standen alle unter Drogeneinfluss bzw. wurden wegen psychischer Erkrankungen mit Medikamenten behandelt. Auch der „Spiegel“ berichtete 2009 davon, dass innerhalb eines halben Jahres drei Menschen gestorben seien, nachdem die Polizei Pfefferspray mit dem Reizstoff OC gegen sie eingesetzt habe.[16] Alle hätten unter Drogen oder Psychopharmaka gestanden.

Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die Landesregierung die bestehenden Risiken des Einsatzes von Pfefferspray verkennt. Polizei­be­amt­­Innen sind nicht in der Lage, vor dem Einsatz des Reizstoffes die gesundheitlichen Vorbelastungen der betroffenen Personen oder Drogeneinfluss bzw. die Verwendung von Psychopharmaka festzustellen. Gerade im Rahmen von Großveranstaltungen wie Fußballspielen und der damit einhergehenden unübersichtlichen Anzahl möglicherweise verletzbarer Personen, erweist sich der Einsatz von Pfefferspray als gefährlich. Dies gilt umso mehr, wenn Pfefferspray in (teilweise) geschlossenen Räumen (wie z.B. im Umlaufbereich von Stadien) eingesetzt wird.

Strafbarkeit des Einsatzes von Pfefferspray

Die Polizei NRW weist auf ihrer Website selbst darauf hin, dass man sich „erst einmal“ strafbar macht, wenn man Pfefferspray einsetzt. Wenn jedoch ein Rechtfertigungsgrund vorliege, entfalle die Strafbarkeit. Klassisch sei hier die Abwehr eines Angriffs auf einen selbst oder das Schützen eines anderen.[17] „Kurzum, mit dem richtigen Spray in einer Notsituation ist Pfefferspray ein legales Mittel.“ Ja, aber eben auch nur dann.

Um eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 Strafgesetzbuch (StGB) handelt es sich, wenn (1) die Körperverletzung durch Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen, (2) mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs, (3) mittels eines hinterlistigen Überfalls, (4) mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich oder (5) mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen wird. Während die Varianten 1 (Pfefferspray ist nachweislich ein gesundheitsschädlicher Stoff) und 4 (gemeinschaftlich) in der Regel bei einem Pfefferspray-Einsatz erfüllt sein dürften (und zwar objektiv wie subjektiv), ist fraglich, ob es sich auch um eine „das Leben gefährdende Behandlung“ gemäß Nr. 5 handelt. Björn Jesse sieht den Tatbestand des § 224 I Nr. 5 StGB in diesen Fällen erfüllt:

„Eine das Leben gefährdende Behandlung liegt dann vor, wenn die Begehungsweise nach den Umständen des konkreten Einzelfalles wie Art, Dauer oder Stärke der Einwirkung objektiv-generell geeignet ist, das Opfer in Lebensgefahr zu bringen, wobei eine konkrete Lebensgefahr nicht eintreten muss. Da das hochwirksame Pfefferspray typischerweise in die empfindliche Gesichtsregion gesprüht wird, ist es möglich – wenngleich nicht wahrscheinlich –, dass ganz erhebliche Wirkungen – beispielsweise deutliche Atemnot bzw. Erstickungsanfälle – eintreten.“[18]

Und bekanntermaßen genügt es für die Annahme eines (bedingten) Vorsatzes, dass die Folge für möglich gehalten wird.

Der Einsatz von Pfefferspray gegen einen Menschen erfüllt demnach den objektiven Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung. Der subjektive Tatbestand (Vorsatz) könnte dann entfallen, wenn der oder die das Mittel einsetzende PolizeibeamtIn nicht um die gefährlichen Folgen des Pfeffersprays weiß. Dies trifft möglicherweise dann zu, wenn es der Dienstherr (das Innenministerium) versäumt hat, auf die möglichen Folgen des Einsatzes hinzuweisen oder keine entsprechenden Anwendungsrichtlinien erlassen hat. Beides scheint zumindest in NRW der Fall zu sein. Die Strafbarkeit entfällt zudem dann, wenn ein Rechtfertigungsgrund wie Notwehr oder Nothilfe vorliegt. Daher ist fraglich, ob der Einsatz als Mittel des unmittelbaren Zwangs zumindest dann nicht gerechtfertigt und damit rechtswidrig ist, wenn Pfefferspray dazu benutzt wird, eine Ansammlung von Menschen (Fußballfans, DemonstrantInnen) zu zerstreuen. Pfefferspray wird dann nicht als Mittel der Selbstverteidigung oder des unmittelbaren Zwangs gegen konkrete einzelne Personen eingesetzt, sondern als „taktisches Einsatzmittel“.[19]

Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob und wann sich die Gerichte in Deutschland intensiver mit der Frage der „billigenden Inkaufnahme“ schwerer Verletzungen durch PolizistInnen, die Pfefferspray in Verbindung mit Fußballspielen oder auch Demonstrationen eingesetzt haben, beschäftigen. Ein erstes Strafverfahren gegen einen Polizisten in Berlin, der grundlos dieses Mittel bei der Mai-Demo 2014 am Kottbusser Tor in Berlin eingesetzt hatte,[20] endete mit einer neunmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung (Bewährungszeit: drei Jahre) für den Polizisten wegen Körperverletzung im Amt sowie mit einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen à 70 Euro wegen Strafvereitelung im Amt für einen seiner Kollegen, der mit einer Falschaussage versucht hatte, die Sache zu vertuschen. Überführt hatte beide ein Youtube-Video.[21] Zudem gab es (soweit ersichtlich) zwei weitere Urteile in Deutschland, die sich mit dem Einsatz von Pfefferspray beschäftigten, sowie eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Fall 1: Zwei Polizisten brachten einen Mann, der im Verdacht stand, häusliche Gewalt angewendet zu haben, nicht nach Hause, sondern in ein ländliches Areal außerhalb der Stadt. Dort wurde der Mann, der Handschellen trug, von einem der Polizisten mit Pfefferspray übersprüht. Sodann trat der Polizist auf den Mann ein. Die Polizisten trugen ihn ins Auto und taten über Funk gegenüber der Wache so, als hätten sie ihn soeben erfolgreich nach Hause gebracht. Der polizeiliche Haupttäter kassierte wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt eine Freiheitsstrafe von neun Monaten mit Bewährung.[22] Gegen sei­ne anschließende Entfernung aus dem Dienst wehrte er sich erfolglos vor dem Disziplinargericht des Verwaltungsgerichts (VG) Düsseldorf, dem Oberverwaltungsgericht Münster und dem Bundesverwaltungsgericht.[23]

Fall 2: Ein Polizist hatte einen in Gewahrsam befindlichen Mann ohne Grund zwei Mal mit Pfefferspray besprüht. Das VG Wiesbaden schreibt im Urteil:

„Ob ein Einsatz mit Pfefferspray gegen einen in einer Gewahrsamszelle befindlichen Insassen durch die geöffnete Zellenluke überhaupt geeignet ist, diesen ruhig zu stellen, mag letztlich dahinstehen. Immerhin hat die Kammer aber erhebliche Zweifel an der Geeignetheit dieser Maßnahme. Die Erfahrungen mit Pfefferspray zeigen vielmehr, dass die Wirkung sehr unterschiedlich sein kann und neben einem sofortigen außer Gefecht setzen auch die gegenteilige Reaktion, wie unkontrolliertes Um-Sich-Schlagen und unkontrolliertes Weglaufen, nach sich ziehen kann … Schon aus diesem Grund erweist es sich als fraglich, ob ein Einsatz von Pfefferspray, der zuvörderst der Abwehr von Angriffen auf die eigene Person dient, auch für die Ruhigstellung von Gewahrsamsinsassen überhaupt in Betracht kommt.“ [24]

Ein weiteres Zitat macht die Einstellung des Polizeibeamten deutlich. Der Beklagte, so das VG, lege „ein gewisses Sheriff-Gehabe“ an den Tag.

„Nach den glaubhaften Aussagen der Zeugin POK‘in L. hat der Zelleninsasse vor diesem Einsatz nicht randaliert, sondern geklopft und nach einem Glas Wasser verlangt. Der Beklagte öffnete daraufhin die Sichtklappe und erwiderte: ‚Ein Glas Wasser? Wir sind hier nicht im Grand Hotel! Jetzt ist Ruhe, sonst gibt es noch eine Ladung! Warum eigentlich nur androhen? Hier hast du eine!‘ Dass diese Ansprache und der folgende Sprayeinsatz nicht als Androhung unmittelbaren Zwanges zur Durchsetzung einer polizeilichen Grundverfügung, sondern schlicht als Willkürmaßnahme zu bezeichnen ist, erweist sich als offensichtlich und bedarf keiner Vertiefung.“

Fall 3: Hier geht es um einen Pfefferspray-Einsatz der türkischen Polizei. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) soll dennoch hier angeführt werden, weil es allgemeine Bedeutung hat. In den Urteilsgründen heißt es:

„[39] Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) hat seine Besorgnis über den Einsatz solcher Mittel durch die Vollzugsbehörden zum Ausdruck gebracht: ‚Pfefferspray ist eine potenziell gefährliche Substanz und sollte nicht in geschlossenen Räumen eingesetzt werden. Selbst gegen seinen Einsatz draußen hat das CPT ernste Vorbehalte. Muss es ausnahmsweise angewendet werden, sollten klar bezeichnete Sicherungen vorhanden sein. So sollte Personen, die Pfefferspray ausgesetzt waren, sofort Zugang zu einem Arzt ermöglicht und ein Gegenmittel angeboten werden. Pfefferspray sollte nie gegen einen Gefangenen eingesetzt werden, der bereits unter Kontrolle gebracht wurde‘ (CPT/Inf [2009]25). [40] In seinen Berichten über Besuche in zahlreichen Mitgliedstaaten des Europarats hat das CPT folgende Empfehlungen ausgesprochen: … klare Richtlinien über den Einsatz von Pfefferspray aufzustellen, einschließlich wenigstens klarer Regeln, wann Pfefferspray eingesetzt werden darf, und dem ausdrücklichen Verbot, Pfefferspray in einem geschlossenen Raum einzusetzen; das Recht Gefangener, die Pfefferspray ausgesetzt waren, auf sofortigen Zugang zu einem Arzt und das Angebot von Hilfsmaßnahmen; Informationen über die Qualifizierung, die Ausbildung und die Fachkenntnisse der Personen, die Pfefferspray einsetzen dürfen, und angemessene Berichts- und Untersuchungspflichten über den Einsatz von Pfefferspray (…)‘ (s. u.a. CPT/Inf [2009]8).“[25]

Ganz offensichtlich wurde es bislang in Deutschland versäumt, solche Richtlinien zu erlassen.

Fazit

Der Einsatz von Pfefferspray durch die deutsche Polizei ist vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Verwendung auch größerer Mengen und nicht nur zur direkten Selbstverteidigung, sondern vor allem für taktische Zwecke (Auflösen einer Menschenmenge; Freimachen eines Zugangs) von der Polizei intensiver empirisch zu untersuchen. Dazu sind entsprechende Meldungen von Pfefferspray-Einsätzen bei den Innenministerien zu sammeln. Die Innenminister des Bundes und der Länder sollten Richtlinien erlassen und bekannt geben, in denen die Anwendung von Pfefferspray eindeutig geregelt wird und sich dabei an den Empfehlungen des CPT (s.o.) orientieren. In der Polizeiausbildung muss darauf geachtet werden, nicht nur auf die einsatztaktischen Risiken und Nebenwirkungen des Einsatzes von Pfefferspray hinzuweisen (dazu gehören Panikreaktionen, unvorhergesehene Aggressionen, Fluchtverhalten), sondern vor allem auch die gesundheitlichen Folgen stärker in den Fokus zu nehmen. Die oftmals verharmlosende Darstellung muss aufgegeben werden, um PolizeibeamtInnen (ähnlich wie bei dem „lagebedingten Erstickungstod“, der ebenfalls jahrelang unterschätzt wurde) für mögliche Folgen zu sensibilisieren. Die möglicherweise vorhandene Zurückhaltung, um den PolizeibeamtInnen kein „schlechtes Gewissen“ zu machen oder gegebenenfalls ein vorsätzliches Handeln (s.o.) auszuschließen, ist aufzugeben. Rechtlich ist der Einsatz von Pfefferspray als gefährliche Körperverletzung zu werten, die nur in absoluten Ausnahmefällen (Selbstverteidigung, kein anderes geeignetes Mittel verfügbar) gerechtfertigt sein kann.

[1]      vgl. http://rot-weisse-hilfe.de/?p=169
[2]     vgl. LT NRW-Drs. 16/8851 v. 5.6.2015, S. 3f.
[3]     Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze: Jahresbericht Fußball Saison 2014/15, Düsseldorf 2015, S. 17. Die genaue Aufteilung sieht wie folgt aus: Verletzt wurden durch Pfeffersprayeinsatz der Landespolizeien 30 PolizeibeamtInnen, 47 StörerInnen, 12 Unbeteiligte und 20 OrdnerInnen; bei Einsätzen der Bundespolizei wurden 9 PolizeibeamtInnen, 58 StörerInnen und keine Unbeteiligte verletzt. Angaben zu verletzten Ordnern gibt es hier nicht. (www.polizei.nrw.de/media/Dokumente/ZIS_Jahresbericht_2014_15.pdf)
[4]     vgl. dazu auch ntv v. 31.10.2014, www.n-tv.de/sport/fussball/Was-hinter-dem-Randale-Report-steckt-article13834476.html
[5]     s. Newsletter Polizeiwissenschaft Nr. 184, April 2015, Bericht Nr. 11 (www.polizei-newsletter.de)
[6]     LT NRW-Drs. 16/8851 v. 5.6.2015, S. 2
[7]     BT, Wissenschaftliche Dienste: Aktueller Begriff: „Pfefferspray“ – Wirkung und gesundheitliche Gefahren, Nr. 83/10 v. 24.10.2010, S. 2 (www.bundestag.de/blob/191580/ 825a5997105f8aede09106fe71b92bce/pfefferspray-data.pdf)
[8]     vgl. LT NRW-Drs. 16/8851 v. 5.6.2015, S. 3
[9]     vgl. http://motherboard.vice.com/de/read/indien-laesst-erstmals-drohnen-das-reizgas-auf-demos-verspruehen#
[10]   BT-Wissenschaftliche Dienste a.a.O. (Fn. 8)
[11]    LT NRW-Drs. 16/8851 v. 5.6.2015, S. 2
[12]   www.derwesten.de/staedte/dortmund/pfefferspray-kommt-in-verruf-id3152508.html; s. dazu auch die LT-NRW Drs. 15/83 v. 17.8.2010
[13]   s. Bericht des Menschenrechtsbeirats des Österreichischen Innenministeriums von 2004, www.bmi.gv.at/cms/BMI_MRB/mrb/berichte/files/2004_fixierungsmethoden.pdf
[14]   vgl. zwei Fälle von 2014: aus Bayern, Süddeutsche Zeitung online v. 15.10.2014, bzw. aus Hessen, Hinterländer Zeitung v. 23.4.2014 (www.mittelhessen.de/lokales/region-marburg-biedenkopf_artikel,-Ist-Fixierung-schuld-am-Tod-_arid,268505.html)
[15]   http://de.scribd.com/doc/98447918/Pepper-Spray-Update-More-Fatalities-More-Questions
[16]   Der Spiegel Nr. 53 v. 28.12.2009; www.spiegel.de/spiegel/print/d-68425662.html
[17]   www.polizei.nrw.de/essen/artikel__7828.html
[18]   Jesse, B.: Das Pfefferspray als alltägliches gefährliches Werkzeug. in: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2009, H. 7, S. 364-371
[19]   Interessanterweise erwähnt der Erlass des Innenministeriums NRW von 2012 (Ministerialblatt NRW 2012, S. 127 ff.), der sich mit dem Einsatztraining der Polizei beschäftigt, den Pfeffersprayeinsatz nicht, ganz im Gegensatz zu „Eingriffstechniken/Ein­satz­mehr­zweckstock-Ausziehbar (EMS-A)“ und „Schießen/Nichtschießen“.
[20] Spiegel-online v. 5.5.2014
[21]   taz v.25.3.2015 (www.taz.de/Prozess-gegen-Polizisten/!5015145)
[22]   Dieses Urteil wurde nicht veröffentlicht. Der Entscheidung des VG Düsseldorf (Urteil v. 25.8.2011 – 35 K 7288/09.O) lässt sich folgendes entnehmen: „Durch Urteil des Amtsgerichts H vom 14. August 2007 wurde der Beklagte wegen gemeinschaftlich versuchter Freiheitsberaubung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung im Amt zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Die Berufungen des Beklagten und der Staatsanwaltschaft wurden mit Urteil des Landgerichts B vom 28. Februar 2008 verworfen. Die dagegen eingelegte Revision nahm der Beklagte am 26. Mai 2008 zurück.“
[23]   Beschluss v. 7.11.2014, Az. 2 B 45/14
[24]   VG Wiesbaden: Urteil v. 27.9.2012 – 28 K 389/11.WI.D
[25]   EGMR (II. Sektion): Urt. v. 10. 4. 2012 – 9829/07: Ali Günes/Türkei (https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Text=9829/07)

Bild: Polizeiprotest für den Einsatz von Pfefferspray 2013 in Berlin (Christian Ditsch).

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