Neben der Kriminalisierung des Vorfeldes terroristischer Handlungen setzt staatliche Terrorismusprävention zunehmend auf Interventionen zur Verhinderung oder Umkehr von „Radikalisierung“. Obwohl der Begriff umstritten ist, wird die Radikalisierungsprävention zum Experimentierfeld von Zensur, Propaganda und der Kooptierung zivilgesellschaftlichen Engagements für staatliche Zwecke.
In der Debatte um die richtige Antwort auf religiös-fundamentalistischen Terror islamistisch motivierter EinzeltäterInnen und Gruppen erschallt immer wieder der Ruf nach einer Präventionsstrategie. Die Forderung nach mehr Prävention kommt dabei aus unterschiedlichen Ecken. Auf der einen Seite des Spektrums stehen die TrägerInnen von Konzepten des präventiven Sicherheitsstaats, die die polizeilich-geheimdienstliche Bekämpfung des Terrorismus um weitere Elemente ergänzen wollen, die nicht auf den ersten Blick repressiv sind. Auf der anderen Seite stehen die KritikerInnen des Ausbaus von Befugnissen und (technischen) Fähigkeiten der Repressionsbehörden, die frühzeitig die Entwicklung von religiösem Fanatismus und Gewaltbereitschaft verhindern wollen. Dem entsprechend gibt es ein sehr unterschiedliches Verständnis davon, was Prävention eigentlich sein soll, was ihre Ziele und was sinnvolle Ansätze und Methoden sind. Ein zentraler Begriff der Diskussion ist dabei „Radikalisierung“, die es zu verhindern oder durch Maßnahmen der „Deradikalisierung“ sogar rückgängig zu machen gelte.
So prominent die Rede von der „Radikalisierung“ ist, so vage bleibt ihre Bedeutung: Der einflussreiche „Terrorismusexperte“ Peter Neumann definiert den Begriff „als Prozess, durch den Personen oder Gruppen zu Extremisten werden“. Er muss aber einräumen, dass der Verweis auf den umstrittenen „Extremismus“-Begriff die Dinge nicht wirklich klarer macht.[1] Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass „Radikalisierung“ als analytisches Konzept erst in den Jahren nach 2001 prominent wurde, als sich sicherheitspolitische Kreise unter dem Eindruck von Anschlägen durch „home grown terrorists“ den Rat anwendungsorientierter SozialwissenschaftlerInnen suchten und begannen, entsprechende Forschungsmittel zur Verfügung zu stellen.[2] „Radikalisierung, zuvor ein eher randständiges Thema, wurde zu einem Gegenstand ersten Ranges, dessen Erforschung die westlichen und deren Betreiben auch die muslimischen oder muslimisch geprägten Staaten vorantrieben, um Informationen zu sammeln, die es zur Eindämmung dieser von kleinen Gruppen ausgeübten Gewalt braucht“, so der Soziologe Farhad Khosrokhavar.[3]
Im Ergebnis ist ein weltweites Netzwerk von Forschungseinrichtungen, Denkfabriken und „Exzellenzzentren“ entstanden, die zum einen die Ursachen der „Radikalisierung“ aufklären und zum anderen praxisbezogene Projekte entwickeln wollen, um die „Radikalisierung“ von Menschen zu verhindern. Die Zugänge und Ansätze, die dabei gewählt werden, sind sehr unterschiedlich. So wollen die einen etwa durch Aufklärungskampagnen, Bildungsarbeit und Maßnahmen des Jugendschutzes auf größere Personengruppen einwirken, während andere durch gezielte „Interventionen“ Einzelpersonen ansprechen wollen, die bereits als „radikal“ gelten, um deren Hinwendung zur Gewalt zu verhindern. Schließlich gibt es Resozialisierungsangebote für „AussteigerInnen“, die zum Teil bereits Gewalterfahrungen gemacht haben. Ein grundlegendes Problem ergibt sich dabei aus der bis heute umstrittenen und letztlich ungeklärten Frage, wann und unter welchen Umständen Menschen mit Ansichten jenseits des politischen Mainstreams tatsächlich zur Gewalt greifen. Denn fest steht, dass sich allen statistischen Korrelationsanalysen und den diversen Untersuchungen von exemplarischen Biographieverläufen zum Trotz nicht wirklich voraussagen lässt, wer am Ende tatsächlich den Schritt von der unerwünschten, aber legitimen Weltanschauung zum gewaltsamen Handeln vollzieht.
Die Debatte über Prävention verschränkt sich somit zugleich mit ganz anderen Debatten: Wie weit sollen überhaupt Zugriffsbefugnisse von Polizei und Geheimdiensten gehen, wie weit im Vorfeld konkreter Gefahren für Leib, Leben und Freiheit von Menschen sollen sie ansetzen dürfen? Wie ist das Verhältnis von Präventionsstrategien im Feld des (gewaltbereiten) Islamismus zur Integration des Islam in die deutsche Gesellschaft? Wie umfassend ist das Verständnis von „Radikalisierung“, wo werden Gefahren verortet und welche Zielgruppen sollen überhaupt erreicht werden? Und auf der konkreteren Ebene: Wie stark sollen die Sicherheitsorgane an die Tätigkeit von anderen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen und Akteuren angebunden sein, die sich den unterschiedlichen Ansätzen von Prävention widmen?
PREVENT als Säule der EU-Terrorismusbekämpfung
Bereits früh setzte die EU das Thema „Radikalisierungsprävention“ auf ihre politische Agenda. Und obwohl die EU nur begrenzte Gesetzgebungsbefugnisse in diesem Bereich hat, wirken ihre Initiativen als wichtige Schnittstelle für den Transfer von Konzepten, Ideen und praktischen Projekten zwischen den Mitgliedstaaten. Eine der vier Säulen der EU-Terrorismusbekämpfungsstrategie, die der Europäische Rat Ende 2005 verabschiedet hatte, ist PREVENT. Priorität haben die Entwicklung von Konzepten „zur Erkennung und Bewältigung problematischer Verhaltensweisen“, die „Bekämpfung von Aufstachelung und Anwerbung“ auch mit Mitteln des Strafrechts, die Entwicklung einer Strategie für Medienkommunikation zur sogenannten Gegenrede sowie Forschung und Wissenstransfer.[4] Noch im gleichen Jahr folgten eine Präventionsstrategie und ein Aktionsplan des Rates. Mittlerweile hat der Rat die Präventionsstrategie zweimal überarbeitet: Im November 2008,[5] um den anti-muslimischen Duktus zu glätten, und im Mai 2014,[6] um nach dem ursprünglichen Fokus auf Al Qaida und verwandte Gruppen auch das Phänomen der „einsame Wölfe“ genannten EinzeltäterInnen zu adressieren und die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure stärker zu betonen.
Ein zentraler Aktionsraum ihrer „Radikalisierungsprävention“ war und ist für die EU das Internet. Bereits 2007 startete Europol sein „Check the Web“-Projekt zur systematischen Beobachtung dschihadistischer Websites. Inzwischen zielen die Maßnahmen immer stärker auf eine Zensur „radikaler“ Inhalte, etwa durch die Aktivitäten der Internet Referral Unit, die 2015 bei Europol startete, oder durch Absprachen mit Internet-Riesen wie Facebook oder Twitter im Rahmen des EU Internet Forum.[7] Flankiert wird die Zensur durch „Gegenerzählungen“: Mit ihrer bis heute nur in weitgehend geschwärzter Fassung zugänglich gemachten Strategie für Medienkommunikation vom März 2007 will die Union sicherstellen, dass sie nach innen und außen als Wertegemeinschaft wahrgenommen wird. In der überarbeiteten Präventionsstrategie von 2014 heißt es: „Staatliche Kommunikation ist nicht nur ein Mittel zur Beschreibung politischer Entscheidungen, sondern auch ein leistungsfähiges Instrument zur Unterstützung der Durchführung politischer Maßnahmen … Wir müssen die Entwicklung maßgeschneiderter Kommunikationsmethoden fördern.“ Hierzu soll auf „glaubwürdige“, insbesondere Online-Kanäle zurückgegriffen werden. Daneben sollen unter direkter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und von Personen mit lokalem Einfluss „moderate Stimmen“ unterstützt werden, am liebsten im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft.[8]
2015 begann die Kommission eine Reihe von Maßnahmen zur „strategischen Kommunikation“ zu fördern. Mit einer Million Euro finanzierte sie das Syria Strategic Communication Advisory Team (SSCAT), ein etwas undurchsichtiges Projekt, das darauf abzielte, Menschen von der Ausreise nach Syrien oder in den Irak abzuhalten. Im November 2016 ging SSCAT in das European Strategic Communications Network über, an dem sich mittlerweile 19 Mitgliedstaaten beteiligen.[9] Transparenter sind die Aktivitäten dadurch nicht geworden. Ende 2016 initiierte die Kommission unter dem Dach des EU Internet Forums zusätzlich ein „Civil Society Empowerment Programme“, das den Austausch und Trainings von zivilgesellschaftlichen Akteuren unterstützen soll.
Eine zentrale Rolle im Kontext der verschiedenen Aktivitäten spielt das Radicalisation Awareness Network, das im September 2011 als Plattform zum EU-weiten Erfahrungsaustausch zwischen VertreterInnen aus Wissenschaft, Sozialer Arbeit, Erziehung, Nichtregierungsorganisationen, lokalen Behörden und der Polizei ins Leben gerufen wurde. Über 25 Mio. Euro hat die Kommission seitdem in das Netzwerk investiert, das im Oktober zu einem Exzellenzzentrum aufgewertet wurde.
Präventionsstrategie des Bundes
In der Bundesrepublik gibt es Maßnahmen zur Förderung von vor allem zivilgesellschaftlichem Engagement gegen „Extremismus“ schon seit dem von Kanzler Gerhard Schröder 2002 ausgerufenen „Aufstand der Anständigen“. Unter verschiedenen Titeln wie „Vielfalt und Toleranz“, den aktuell noch laufenden Programmen „Toleranz fördern, Kompetenz stärken“ oder „Initiative Demokratie stärken“ wird eine Vielzahl von Modellprojekten, Beratungsstellen und Bildungsansätze gefördert, die in erster Linie der Prävention gegen autoritäre Einstellungen und Ideologien gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit dienen. Neben diesen dem Kampf gegen Rechtsextremismus zuzuordnenden Ansätzen gab es verschiedentlich solche, die auch der Prävention des „Linksextremismus“ dienen sollten, meist aber zu peinlichen Lachnummern verkamen.
Nachdem die Bundesregierung im Sommer 2016 bereits ihre „phänomenübergreifende“ Präventionsstrategie vorgestellt hatte, verabschiedete der Koalitionsausschuss von SPD und CDU/CSU dann im März 2017 ein „Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus“.[10] Hier wird zunächst festgestellt, dass die Bundesregierung in der abgelaufenen Legislaturperiode die Präventionsarbeit gegen Extremismus deutlich verstärkt habe. Die genannten Programme erhielten von 2016 zu 2017 eine deutliche Steigerung ihrer Mittel von 50 Mio. Euro jährlich auf 100 Mio. Euro. Dies war nicht zuletzt Ergebnis der Empfehlungen aus dem NSU-Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode des Bundestages und der erschreckenden Zunahme rassistischer Gewalt gegen Geflüchtete und ihrer UnterstützerInnen ab dem Sommer 2015.
Der Beschluss stellt fest, dass der islamistische Extremismus eine besondere Herausforderung darstelle. Ein allein repressives Vorgehen der Sicherheitsbehörden reiche nicht aus, vielmehr müssten Ansätze gefunden werden, bevor Radikalisierung in Terrorismusgefahr umschlage. Prävention und Repression müssten Hand in Hand gehen, dies sei „Ausdruck unserer wehrhaften Demokratie“. Mit den Ländern, kommunalen Spitzenverbänden, Sicherheitsbehörden, Religionsgemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Trägern soll ein „Pakt für Prävention“ geschlossen werden, die Bundesregierung soll ab 2018 jährlich 100 Mio. Euro für die diversen Maßnahmen zur Verfügung stellen.
Die Unterschiede zur Prävention von Rechtsextremismus liegen dabei nicht nur in den Beträgen, die verausgabt werden sollen – dort waren es zunächst 5 Mio. Euro, die den Programmen zur Verfügung standen. Während bei der Prävention gegen Rechtsextremismus wohl nur wenige auf die Idee kamen, sich selbst als patriotisch verstehende politische Zusammenschlüsse zu einer besonderen Wachsamkeit gegenüber Radikalisierungstendenzen aufzurufen, sie zur Kooperation mit Sicherheitsbehörden aufzufordern und sie zu Objekten spezieller Sensibilisierungskampagnen zu machen, sind hier die muslimischen Gemeinden ganz selbstverständlich im Fokus. Neben „Kommunen“ und „Familie und soziales Umfeld“, „Bildung und ihre Einrichtungen“ werden die „Moscheegemeinden“ als „Ort der Prävention“ angesehen. Moscheegemeinden, die zumeist weiterhin eine prekäre Hinterhofexistenz führen und die Gemeindearbeit vollständig ehrenamtlich organisieren, sollen nun eine Reihe von Aufgaben in der „Radikalisierungsprävention“ erfüllen. Sie sollen, wie aus dem Konzept auch hervorgeht, im Rahmen eines „Risikomanagements“ bei gefährlichen Entwicklungen unverzüglich die Sicherheitsbehörden informieren. Hierin zeigt sich eine deutliche Tendenz in der gesamten Debatte über Prävention im Bereich des „gewaltbereiten Islamismus“: die zentrale Stellung der Sicherheitsbehörden.
Sicherheitsbehörden selbst als Trägerinnen von „Aussteigerprogrammen“ zu etablieren, ist zwar gescheitert. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellte 2015 ein solches Programm mit dem Namen „Hatif“ nach vierjährigem Betrieb wieder ein – dort hatte sich kaum jemand gemeldet, das Telefon soll wochenlang stillgestanden haben. Verfassungsschutzpräsident Maaßen hatte selbst eingeräumt, seine Behörde sei dafür ungeeignet, die Betroffenen und ihre Angehörigen brächten den Nachrichtendiensten zu wenig Vertrauen entgegen. Um dennoch die Anbindung der „Deradikalisierungsarbeit“ im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern halten zu können, wurde beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die „Beratungsstelle Radikalisierung“ (BRAD) eingerichtet, an die sich Familienmitglieder, FreundInnen, LehrerInnen und andere Personen wenden können, wenn sie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen Radikalisierungstendenzen feststellen.
Die BRAD vermittelt an zivilgesellschaftliche Träger und Einrichtungen der „Deradikalisierungsarbeit“ wie dem Violence Prevention Network, selbstverständlich aber auch an zuständige Behörden, sprich Polizei und Verfassungsschutz. Zugleich ist das BAMF, das ohnehin seinerseits mehr und mehr zu einer Sicherheitsbehörde umgebaut werden soll, ständiges Mitglied der Arbeitsgruppe „Radikalisierung“ des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums (GTAZ) in Berlin-Treptow. Hier werden den Behörden bekannt gewordene „Radikalisierungsfälle“ gemeinsam besprochen und Maßnahmen verabredet. Wer sich also bei der „Beratungsstelle“ des BAMF meldet, muss damit rechnen, Objekt der Bearbeitung durch die Sicherheitsorgane zu werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Aktenhaltung der BRAD mittlerweile digitalisiert und zentralisiert wurde und „ausgewählte Falldaten“ für Dienste und Staatsschutz abrufbar sind, um auch den „Gewinn systematischer Erkenntnisse“ zu erleichtern.[11]
Ansätze der Bundesländer
Auch in der auf „Deradikalisierung“ fokussierten Präventionsarbeit auf Ebene der Länder nehmen Innenministerien, Polizei und Verfassungsschutzbehörden eine zentrale Rolle ein. Dabei gibt es sehr wohl auch Unterschiede in den von den Ländern verfolgten Ansätzen. Geradezu prototypisch für eine enge Anbindung der Deradikalisierungsarbeit an die Sicherheitsorgane ist Bayern. Dort wurde am 1. September 2015 ein Kompetenzzentrum für Deradikalisierung im Bayerischen Landeskriminalamt eingerichtet. Es ist auch eingebunden in die Arbeit des ebenfalls 2015 gegründeten „Bayerischen Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus“. Für die Abstimmung zwischen den Ressorts (Innen, Justiz, Kultus, Soziales) sorgt eine Interministerielle Arbeitsgruppe, die durch das Innenministerium geleitet wird. Prävention richtet sich nach eigener Darstellung an alle gesellschaftlichen Gruppen und soll Radikalisierungsprozesse von vornherein verhindern. Diese Aufgabe richtet sich deshalb an alle beteiligten Ressorts, während in der Deradikalisierung als „zweiter Säule“ mit dem LKA und seinem Kompetenzzentrum eine klare Verantwortlichkeit geschaffen wurde. Es arbeitet wie eine Reihe anderer Länder mit dem „Violence Prevention Network“ (VPN) als „zivilgesellschaftlichem Träger“ zusammen. Ziel ist, „Distanzierungsprozesse vom Extremismus“ auszulösen. In Fällen mit Sicherheitsrelevanz nimmt das Kompetenzzentrum eine koordinierende Rolle mit den Sicherheitsorganen und dem VPN ein. Von seiner Gründung im September 2015 bis Mai 2017 hat das Zentrum nach eigenen Angaben 200 „Radikalisierungssachverhalte“ geprüft und in 29 „Sachverhalten Deradikalisierungsmaßnahmen eingeleitet“.[12]
Auch in Hamburg betont man die besondere Rolle von Polizei und Verfassungsschutz innerhalb der Deradikalisierungsarbeit. Die Hansestadt finanziert seit 2015 die Beratungsstelle Legato, die vor allem auf die Stabilisierung des familiären Umfelds radikalisierungsgefährdeter Personen setzt. Ein mit den islamischen Verbänden geschlossener Staatsvertrag, der in erster Linie Fragen des Religionsunterrichts und weitere Fragen behandelt, wie sie auch in Staatsverträgen mit den christlichen Religionsgemeinschaften geregelt sind, ermöglicht eine besondere Einbindung der muslimischen Community. Ein Augenmerk gilt der Arbeit in Justizvollzugsanstalten. Der Leiter von Legato, André Taubert, forderte im November 2015 eine deutliche Aufstockung der Arbeit solcher Beratungsnetzwerke. Es werde viel über Repression gesprochen, bei der Prävention schreite man aber nur zaghaft voran. Es brauche ein engeres Netz, durch das keiner mehr hindurchfallen könne. Angehörige müssten sich flächendeckend Hilfe holen können.[13]
In Bremen, das bereits 2012 mit der Präventionsarbeit begonnen hat, setzt man stärker auf klassische Formen der Jugendsozialarbeit. Dort wird das Beratungsnetzwerk Kitab finanziert, dessen Träger Erfahrungen in der aufsuchenden Sozialarbeit (street work) hat und wohl auch deshalb Anonymität und Freiwilligkeit betont. Ebenfalls zu den Kooperationspartnern in Bremen gehört VPN.
Das Violence Prevention Network ist in fast allen von den Ländern aus eigenen oder Bundesmitteln finanzierten Aussteiger- oder Deradikalisierungsprogrammen mit an Bord, so auch im „Wegweiser“-Programm in Nordrhein-Westfalen, das 2012 gegründet wurde und mittlerweile über 13 regionale Außenstellen verfügt. (Das Programm sah sich massiver Kritik ausgesetzt, als bekannt wurde, dass die beiden jugendlichen Attentäter auf einen Tempel der Sikh in Essen 2015, dort zeitweise betreut worden waren). An diesem Projekt orientiert sich seit 2015 auch Niedersachsen. In Schleswig-Holstein wurde 2015 eine Koordinierungs- und Beratungsstelle beim Innenministerium gegründet, das zunächst Angehörigen von jungen Menschen, die sich radikalisieren, helfen soll. Von dort soll auch ein Netzwerk zur Vorbeugung und Bekämpfung in den Städten aufgebaut werden. Hessen hat die Arbeit in diesem Bereich vollständig dem VPN überantwortet, das dort Träger des „Hessischen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus“ ist, welches ebenfalls Angehörige berät und einen besonderen Schwerpunkt in der Arbeit in Justizvollzugsanstalten hat.
Nähe von Trägern zu Verfassungsschutzbehörden
Was das Violence Prevention Network so attraktiv für die Innenministerien macht, sind wohl nicht allein seine Erfahrungen mit der Aussteigerarbeit mit Neonazis unter dem Label „Exit“. „Exit“ ist unter den Trägern der Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus nicht gerade unumstritten.[14] Dem VPN wird auch eine große Nähe zu den Sicherheitsorganen und dem „vernetzten Ansatz“ bzw. „ganzheitlichen Bekämpfungsansatz“ in der Auseinandersetzung mit gewaltbereitem Islamismus nachgesagt. Nach Ansicht von Gerhard Walentowitz, der für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft unter anderem Fortbildungen zum Thema „Muslimische Jugendliche und Islamismus“ organisiert, hat dieser Ansatz mit Pädagogik wenig zu tun.[15] So habe der Geschäftsführer des VPN in Hessen ein „Meldeverfahren … für die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen“ gefordert, damit in sicherheitsrelevanten Fällen schnell gehandelt werden könne.
Eine derart offen propagierte Nähe einer eigentlich sozialarbeiterischen Einrichtung zu staatlichen Sicherheitsorganen ist nicht nur aus pragmatischer Sicht höchst problematisch, weil hier Hemmschwellen für das soziale Umfeld geschaffen werden, sich dort zu melden. Sie zeigt auch die Problematik des derzeit vorherrschenden Ansatzes in der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit generell. Schon, dass es in erster Linie Polizei und Verfassungsschutzbehörden selbst sind, die die Politik zu mehr Ressourcen für eine frühzeitig ansetzende Präventionsarbeit auffordern, deutet dieses Problem an. Die Entstehung religiös-fundamentalistischer Einstellungen wird letztlich auf ein Sicherheitsproblem reduziert. Im „ganzheitlichen Bekämpfungsansatz“ sind den zivilgesellschaftlichen TrägerInnen von Präventions- und Deradikalisierungsarbeit nur noch zwei Aufgaben zugedacht: Sie sollen einerseits zu einem Zeitpunkt aktiv werden, zu dem Sicherheitsorgane dies schon rein rechtlich nicht können, indem sie Jugendliche vor einem „Abdriften“ in islamistische Strömungen bewahren. Und andererseits sollen sie Zugänge zu Personen und ihrem sozialen Umfeld eröffnen, von denen möglicherweise eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, die aber noch nicht auf dem Schirm der Sicherheitsorgane sind, denen noch dazu die fachlichen Kompetenzen fehlen, sie erfolgreich zu „deradikalisieren“.
Zivilgesellschaftliche Träger erfüllen also – die einen in großer Selbstverständlichkeit, viele andere sicherlich auch gegen ihre eigene Überzeugung – eine Funktion in der präventiv-sicherheitsstaatlichen Bearbeitung des Islamismus als reinem Sicherheitsproblem. Dies unterscheidet sie von TrägerInnen in der Rechtsextremismusprävention, die weiterhin bei Sicherheitsbehörden darauf dringen müssen, dass Gefahren für die Sicherheit von Minderheitenangehörigen oder „politischen Feinden“ überhaupt erkannt und angemessen bekämpft werden.
Eine Leerstelle in der staatlich orchestrierten Präventionspolitik bleibt die Auseinandersetzung mit anti-muslimischer Ausgrenzung als wesentlichem Anknüpfungspunkt religiös-fanatischer Agitation u.a. aus dem salafistischen Spektrum. Hierzu müssten das Agieren der Sicherheitsbehörden selbst, der fortwährende Generalverdacht gegen alles Muslimische im Sicherheitsdiskurs, die auf Anpassung und Ausgrenzung setzende „Integrationspolitik“ der LeitkulturbefürworterInnen, der „freiheitlich-demokratische“ Bekenntniszwang im Aufenthaltsrecht und generell das repressive Ausweisungsrecht gegen Nicht-Deutsche Teil der Debatte über Prävention werden. Solange aber die Sicherheitsbehörden als wesentlicher Teil der Lösung, nicht aber auch als Teil des Problems gesehen werden, wird das wohl nicht geschehen.