Interview mit Prof. Esther Lehnert
„Im Mittelpunkt der Aussteigerprogramme für Neonazis steht eine männliche Zielgruppe, die vor allem anhand ihrer Defizite gesehen wird: gewalttätig, kriminell, ideologisch radikal“, sagt Prof. Esther Lehnert, die an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin zu sozialpädagogischen Strategien im Umgang mit Rechtsextremismus forscht. Dirk Burczyk befragte sie nach Parallelen zwischen den Programmen für Neonazis und denen für djihadistisch/islamistische AkteurInnen.
In der Debatte um Strategien in der Auseinandersetzung mit islamistischen Strömungen und gewalttätigen „Djihadisten“ wird als ein Element neben polizeilichen und geheimdienstlichen Anti-Terror-Maßnahmen auch immer das Stichwort „Deradikalisierung“ genannt. Darunter werden insbesondere Aussteigerprogramme verstanden, wie es sie für den Rechtsextremismus schon lange gibt. Was waren die Ursprünge in Deutschland, was waren die ersten Ansätze der Aussteigerarbeit mit Neonazis?
Wann genau die ersten Ansätze entwickelt wurden, kann ich nicht genau sagen. Exit war das erste zivilgesellschaftliche Programm für AussteigerInnen. Und Exit hat sich Ende der 1990er Jahre entwickelt. Vorbild war hier das schwedische Exit, das in erster Linie mit Neonazis arbeitete, die im Gefängnis waren.
Wie würdest Du den konzeptionellen Ansatz der Aussteigerprogramme in Deutschland beschreiben? Was ist das Ziel des Ausstiegs?
Das lässt sich so generell nicht sagen. In der Regel orientieren sich die Programme an einer Abkehr von Straf- und Gewalttaten. Nicht alle Programme beinhalten eine Auseinandersetzung mit der rechtsextremen Ideologie. Die Unterschiedlichkeit der Ansätze hängt damit zusammen, was innerhalb der Programmlogik unter „Ausstieg“ verstanden wird. Die Erziehungswissenschaftlerin Johanna Sigl hat z.B. einen sehr umfassenden Ausstiegsbegriff, der m.E. bisher wenig Eingang in die Praxis gefunden hat. In ihrer Studie zu Einstiegs- und Distanzierungsmotiven arbeitet sie drei Ebenen von Ausstieg heraus. Ein umfassender, vollständiger Ausstieg ist bei ihr z.B. auch an eine Auseinandersetzung mit der Familienbiographie gebunden. Die Auseinandersetzung mit rechtsextremer Ideologie und die Auseinandersetzung mit den eigenen Taten, d.h. hier auch eine Übernahme von Verantwortung und eine Reflexion der Opferperspektive, wird unterschiedlich gewichtet. Andere Kriterien können sein: Bruch mit den alten, rechtsextremen Netzwerken und Freundeskreisen. Spezielle staatliche Angebote fordern auch die Bereitstellung von Täterwissen.
Wenn wir über Exit reden, ist es mir wichtig auf zentrale Kritik an Exit zu verweisen. Gleichzeitig ist eindeutig zu begrüßen, dass es sich um eine zivilgesellschaftliche Organisation handelt, die nicht zur Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz und anderen staatlichen Organen oder Diensten verpflichtet ist.
Aber was sind die kritischen Punkte?
M.E. ist das ganze Konzept zu sehr an Gewalttätigkeit und Straffälligkeit ausgerichtet. Hintergrund hier ist auch die spezifische Situation der Neuen Bundesländer in den ersten Jahren nach der Wende: Die Strukturen der Jugendarbeit waren zerschlagen worden. Außerdem prägten rassistische Pogrome Anfang der 90er das gesellschaftliche Klima. Eine politische Antwort hierauf war die Einrichtung eines ersten Bundesprogramms AgAG – „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“. Etliche sollten folgen. Auch heute ist eine Förderung von Präventions-, Interventions- und Ausstiegsarbeit im Kontext Rechtsextremismus fernab der Bundesprogramme kaum vorstellbar. Im Zuge von AgAG wurde das Konzept der „akzeptierenden Jugendarbeit“, das unter den Bedingungen einer multikulturell gewachsenen westdeutschen Stadt entwickelt worden war, unreflektiert in die neuen Bundesländer exportiert. Eine Folge hiervon war auch, dass die Auseinandersetzung mit rechtsextremer Ideologie fast vollkommen aus dem Blick geriet. Diese fahrlässige Nichtauseinandersetzung findet sich auch in den Logiken der Aussteigerprogramme aus dieser Zeit: Diese fokussierten vor allem auf die Abkehr von Gewalttätigkeit und Straffälligkeit. Die Leute sollten ihr Handeln ändern, aber nicht unbedingt ihr Denken.
Zu kritisieren bei Exit ist aber auch – und das leider nicht nur dort –, dass sie viel zu wenig gendersensibel agieren, d.h. einerseits, dass es keine Angebote gibt, die die spezifische Situation von Frauen, z.B. von Müttern, systematisch reflektieren und konzeptionell berücksichtigen. Andererseits konzentriert sich Exit auf die „harten Jungs“ und gefällt sich darin, besonders „krasse“, männliche Aussteiger im Kontext ihrer Bildungsarbeit einzusetzen, teilweise unabhängig davon, ob es sich um wirkliche Aussteiger handelt. Konzeptionell wird von Exit zwar als Kriterium für einen Ausstieg auch die Auseinandersetzung mit der Ideologie (und nicht nur Abkehr von körperlicher Gewalt und Straftaten) benannt, das wird jedoch nicht immer umgesetzt.
Wie nimmst Du die aktuelle Übertragung dieser Aussteigerprogramme und ihrer Konzeption auf den Phänomenbereich des gewaltbereiten Islamismus wahr?
Wie stark Elemente der Arbeit im Bereich „Aussteigerprograme für Neonazis“ einfach übertragen werden, kann ich nicht beurteilen. Da hier aber dieselben Träger unterwegs sind, kann man wohl davon ausgehen. Und ich fürchte, dass hier auch ganz ähnliche Fehler wiederholt werden. Wie bei den Aussteigerprogrammen für Neonazis steht eine männliche Zielgruppe im Mittelpunkt, die vor allem anhand ihrer Defizite gesehen wird: gewalttätig, kriminell, ideologisch radikal.
Wovor ich auf jeden Fall warnen will, ist die Ausweitung des Begriffs „Deradikalisierung“ über den Bereich des gewaltbereiten Islamismus hinaus. „Deradikalisierung“ taucht nun auch in Zusammenhang mit gewalttätigen Neonazis und nach dem G20-Gipfel sogar mit den „Autonomen“ auf. Hier droht wieder einmal wie im Begriff des „Extremismus“ jede Differenzierung verloren zu gehen, ganz unterschiedliche Felder werden miteinander vermischt.
Und wie sieht es hier mit Mädchen und Frauen aus? Im Juli wurde bekannt, dass ein 16-jähriges Mädchen aus Sachsen in Mossul als Unterstützerin des IS festgenommen wurde. Nach den regelmäßig aktualisierten Lagebildern des Bundeskriminalamtes zu ausgereisten DjihadistInnen sind sie zu 20 Prozent weiblich. Was bedeutet das für Deradikalisierungsarbeit?
Zunächst einmal werden wie gesagt Mädchen und Frauen nicht einfach mit erreicht. Hier greift nach wie vor das Prinzip der „doppelten Unsichtbarkeit“ von Frauen und Mädchen im Rechtsextremismus, das u.a. dazu führt, dass sie nach wie vor häufig übersehen oder unterschätzt werden. Gleichzeitig wissen wir über Aussteigerinnen aus der Neonaziszene, dass sie nicht nur spezifisch in den Blick genommen werden müssen, sondern dass sie darüber hinaus besondere Bedarfe haben, die sich häufig aus ihrer weiblichen Sozialisation ergeben: Was passiert beispielsweise, wenn der Ausstieg einer Frau und Mutter gelingt, aber der Familienrichter bei der Entscheidung über das Umgangsrechts des Vaters keinerlei Sensibilität für dessen Szenezugehörigkeit besitzt? Der Fokus auf Straffälligkeit und Gewaltbereitschaft hat dazu geführt (und tut es immer noch), die Relevanz von Frauen für die Szene zu unterschätzen. Auch das könnte sich bei der djihadistisch-islamistischen Szene wiederholen.
Wenn ich es richtig sehe, sind Programme im Bereich der Prävention gegen Rechtsextremismus, also alles was unter dem Label „für Vielfalt und Toleranz“ und ähnlichem läuft, ja einem starken Rechtfertigungsdruck ausgesetzt: Regelmäßig finden Evaluationen statt, die Mittel müssen haarklein nachgewiesen werden, eine Zeitlang musste sogar erklärt werden, dass man mit keinerlei „Extremisten“ zusammenarbeitet. Wie ist das bei den Aussteigerprogrammen für Neonazis? Wie wurde oder wird dort der Nachweis erbracht, dass die selbst gesteckten Ziele erreicht wurden? Oder gibt es sogar Hinweise in die andere Richtung?
Grundsätzlich sind alle Projekte, die im Rahmen der Bundesprogramme gefördert werden, zu einer umfassenden Qualitätssicherung verpflichtet und müssen sich auch evaluieren lassen. Das gilt auch für die Aussteigerprojekte. Die grundsätzliche Frage bleibt hier, was unter einem erfolgreichen Ausstieg verstanden wird. So wurde eine Vielzahl von Projekten im Rahmen von XENOS gefördert, einem Programm, das eine sehr starke arbeitsmarktorientierte Ausrichtung hatte.
Keineswegs möchte ich in Abrede stellen, dass die Projekte erfolgreich arbeiten. Das große Problem liegt m.E. darin, dass der übergroße Anteil der Zielgruppe nicht aussteigen will – warum auch, es handelt sich um überzeugte Neonazis. Hinzu kommt, dass die Radikalisierungsprozesse der letzten Jahre, insbesondere im Kontext von Pegida und rechtspopulistischen Bewegungen, bisher nicht ausreichend reflektiert werden oder bisher zu wenig als demokratiegefährdend wahrgenommen werden.
Noch eine abschließende Frage im Hinblick auf eine Debatte, die nun rund um das Thema Deradikalisierung geführt wird: In den Ansätzen, die in den Bundesländern verfolgt werden, nehmen die staatlichen Sicherheitsorgane eine unterschiedlich starke Stellung ein. In ersten Anläufen waren die Programme sogar direkt bei den Verfassungsschutzbehörden angesiedelt, auf Bundesebene ist die zentrale Stelle für Deradikalisierung, die betroffene Familien oder besorgte Freundinnen und Freunde zu Beratungsstellen weitervermittelt, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angesiedelt. Auch da ist vollkommen klar, dass deren Erkenntnisse über das „Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum“ direkt bei den Sicherheitsorganen landen. War diese enge Kopplung der Aussteigerstellen an die Sicherheits-organe bei den Neonazis auch so gegeben? Und wie bewertest Du das aus professioneller Sicht?
Wie bereits erwähnt, gibt es auch im Bereich der Ausstiegsarbeit im Kontext des Rechtsextremismus Projekte, die sehr eng mit den Diensten und staatlichen Behörden zusammen arbeiten (müssen). Aus sozialpädagogischer Perspektive macht das allerdings überhaupt keinen Sinn, bzw. wirkt sich in der Arbeit kontraproduktiv aus. Hier gilt es die unterschiedlichen Aufträge von Sicherheitsbehörden und Sozialarbeitenden zu reflektieren. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Arbeit aus einer demokratietheoretischen Perspektive muss eine Orientierung an den Menschenrechten und der Einbezug der Opferperspektive sein. Auch hier gilt: Fokussierung auf die „harten Jungs“ verhindert die Entwicklung einer integrierten präventiven pädagogischen Handlungsstrategie, die die demokratisch orientieren Jugendlichen stärkt.