Politisch umkämpft: Das reale Ausmaß rechter und rassistischer Gewalt

von Heike Kleffner

Seit Januar 2017 gilt für PolizeibeamtInnen bundesweit ein reformiertes Definitionssystem zur Erfassung politisch motivierter Kriminalität (PMK). Doch trotz einiger wichtiger Neuerungen ist die Diskrepanz zwischen den Behördenstatistiken zu rechter Gewalt und rechten Tötungsdelikten und den Zahlen unabhängiger NGOs und JournalistInnen unverändert hoch.

Die vom Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen und dem sächsischen Ministerpräsident Michael Kretschmer losgetretene Desinformationskampagne zur rassistischen Hetzjagd in Chemnitz im August 2018 hat es erneut deutlich gemacht: Die Frage, wie Strafverfolgungsbehörden politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalt erfassen, wie das reale Ausmaß rassistischer Alltagsgewalt vermessen wird, ist hochpolitisch und ein zentraler Schauplatz eines Kampfes um die politische Deutungshoheit.

Die Bilanz ist erschreckend: Weit mehr als 90 rassistische, rechte und antisemitisch motivierte Angriffe und Bedrohungen haben die unabhängigen Opferberatungsstellen allein in den vier Spätsommerwochen nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. (35) in Chemnitz und dessen Instrumentalisierung durch die extreme Rechte registriert.[1] Allein in Chemnitz, der mit knapp 250.000 EinwohnerInnen drittgrößten Stadt Sachsens, kam es zwischen dem 24. August und dem 25. September 2018 zu mindestens 34 überwiegend rassistisch motivierten Körperverletzungs- und Bedrohungsdelikten.[2] Rassistisch motivierte Gewalt ist nicht nur in Ostdeutschland ein massives Problem: In Bayern registrierten die Beratungsstellen BUD und before e.V. im selben Zeitraum mindestens elf rechte und rassistische Angriffe; darunter den auf den ehemaligen Fußballprofi George Mbwando, der am 26. August 2018 einer Gruppe US-amerikanischer FreundInnen ein Volksfest in Manching-Oberstimm zeigen wollte und dabei von sechs Männern rassistisch beleidigt, mit dem Tod bedroht und ins Gesicht geschlagen wurde.[3]

Völlig ungewiss ist jedoch, ob und in welchem Ausmaß die Strafverfolgungsbehörden die von den Opferberatungsstellen öffentlich dokumentierten Gewalttaten dann auch in der Kategorie „Politisch motivierte Kriminalität – Rechts“ (PMK Rechts) an die zuständigen Landeskriminalämter melden. Ebenso ungewiss ist, ob die von organisierten RassistInnen, Neonazis und rassistischen GelegenheitstäterInnen aller Altersstufen verübten Angriffe dann auch im kommenden Frühjahr in den Jahresstatistiken des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Landeskriminalämter (LKA) als „politisch motiviert“ ausgewiesen werden. Denn auch nach der jüngsten Reform des PMK-Rechts-Definitionssystems und deren bundesweiter Einführung im Januar 2017 gleicht die Erfassung von PMK-Rechts-Gewalttaten oftmals einem Lotteriespiel mit ungewissem Ausgang.

Dabei war die Empfehlung Nr. 4 des ersten NSU-Untersuchungsaus­schus­ses im Bundestag im Bereich Polizei eindeutig gewesen: Notwendig sei erstens „die grundlegende Überarbeitung des ‚Themenfeldkatalogs PMK‘ – unter Hinzuziehung von Expertenwissen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft“. Zweitens rate „der Ausschuss dazu, einen verbindlichen gegenseitigen Informationsaustausch zwischen Polizei und Justiz einzuführen (ggf. eine ‚Verlaufsstatistik PMK‘) – zumindest bei PMK-Gewaltdelikten.“[4]

Abschied von der Extremismusdoktrin

Knapp drei Jahre dauerte der Evaluations- und Beratungsprozess zur Reform des Definitionssystems in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „KPMD-PMK“ (Kriminalpolizeilicher Meldedienst – Politisch Motivierte Kriminalität). Unter Federführung des BKA wurden auch WissenschaftlerInnen wie der Trierer Soziologe Roland Eckert und der Berliner Politikwissenschaftler Michael Kohlstruck sowie VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen angehört. Zum 1. Januar 2017 ist nun eine re­for­mierte PMK-Rechts-Definition bundesweit einheitlich in Kraft getreten. Die daraus resultierenden Veränderungen wurden bislang jedoch weder im öffentlichen und akademischen Diskurs ausreichend rezipiert noch sind sie in der polizeilichen Praxis durch umfassende Schulungen verankert worden.

Beides wäre jedoch dringend nötig, denn das Definitionssystem weist einige wichtige Neuerungen auf. Diese waren sowohl von den spezialisierten Beratungsstellen als auch von KriminologInnen und SoziologInnen nach der ersten umfassenden Reform des PMK-Rechts-Erfassungssystems im Jahr 2001 und den kleineren Reformen von 2002, 2004 und 2015 vehement eingefordert worden.[5] Es ist daher durchaus angemessen, die Veränderungen im PMK-Rechts-Definitionssystem als Teilerfolg eines fast zwei Jahrzehnte währenden Ringens der unabhängigen Opferberatungsstellen um die Anerkennung des realen Ausmaßes rechter Gewalt zu bezeichnen.

Mit dem neuen Definitionssystem verabschieden sich die Strafverfol­gungsbehörden zum einen deutlich vom Extremismusbegriff. Die „Begriffe Extremismus und Terrorismus“ hätten „im Bereich des Polizeilichen Staatsschutzes ihre Klassifizierungsfunktion nur noch bedingt“ erfüllt, stellt das BKA fest. Weiter heißt es dazu: „Bereiche wie fremdenfeindliche Straftaten oder Straftaten im Zusammenhang mit Protesten gegen die Nutzung der Kernenergie, der Tierhaltung oder der Gentechnik“ seien bis zur Einführung des Definitionssystems PMK „uneinheitlich erfasst“ worden und „erfordern eine Veränderung der zu verwendenden Terminologie, insbesondere die Loslösung von der bis dahin dominierenden Orientierung am Extremismusbegriff hin zu einem Definitionssystem, welches das tatauslösende politische Element in den Mittelpunkt stellt.“[6] Die Definition „Politisch motivierter Kriminalität“ lautet nunmehr:

„Der Politisch motivierten Kriminalität werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie          
–      den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richten,
–      sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben,
–      durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshand­lungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden,     
–      gegen eine Person wegen ihrer/ihres zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status, physischen und/oder psychischen Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung und/oder sexuellen Identität oder äußeren Erscheinungsbildes, gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet.*         

Darüber hinaus werden Tatbestände gem. §§ 80-83, 84-86a, 87-91, 94-100a, 102-104a, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 234a oder 241a StGB erfasst, weil sie Staatsschutzdelikte sind, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann.“ [7]

Ferner sind die Strafverfolgungsbehörden nunmehr erstmals aufgefordert – wenn auch nur in einer Fußnote (*) zur obigen Definition – „bei der Würdigung der Umstände der Tat neben anderen Aspekten auch die Sicht der/des Betroffenen mit einzubeziehen“.

Eine weitere wesentliche Veränderung ist der lange angemahnte Verzicht auf die direkte Übersetzung des Begriffs „race“ aus der „Hate Crime“-Definition des FBI in den USA und des Crown Prosecutor in Großbritannien als „Rasse“. Stattdessen lauten die Merkmale nunmehr „Nationalität“ und „ethnische Herkunft“.[8] Weitere Tatmerkmale, die nunmehr ergänzt beziehungsweise genauer ausgeführt werden, sind „physische und/oder psychische Behinderungen oder Beeinträchtigung“ des Opfers sowie die „sexuelle Orientierung und/oder sexuelle Identität“ oder das „äußere Erscheinungsbild“ eines beziehungsweise einer Betroffenen. Besonders deutlich werden die Unterschiede, wenn man sich noch einmal den Wortlaut der von 2001 bis Ende 2016 gültigen PMK-Definition vergegenwärtigt:

„… wenn die Tatumstände und/oder die Tätereinstellung Anhaltspunkte dafür bieten, dass sie … gegen eine Person gerichtet sind wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet.“

Wahrnehmungsdefizite und Erfassungslücken

Auch im so genannten Themenfeldkatalog,[9] der allerdings bislang als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ einer öffentlichen Kontrolle entzogen und lediglich in Ausschnitten durch Kleine Anfragen bekannt geworden ist – hat es Veränderungen gegeben: So ist beispielsweise Antiziganismus in den Katalog aufgenommen und der Oberbegriff „Ausländer-/Asylthematik“ unter anderem in die Unterthemen „Unterbringung von Asylbewerbern“ und „gegen Asylunterkünfte“ untergliedert worden.[10] Doch die Einführung eines der Realität politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt wesentlich besser entsprechenden polizeilichen Definitionssystems ändert nichts daran, dass nach wie vor erhebliche behördliche Erfassungs- und Wahrnehmungsdefizite beste­hen.

Deutlich wird dies nicht nur daran, dass die unabhängigen, spezialisierten Beratungsstellen auch für 2017 – wie schon seit vielen Jahren – rund ein Drittel mehr rechte Gewalttaten als die Strafverfolgungsbehörden und die Verfassungsschutzämter registriert haben.[11] Und das, obwohl sowohl die Definition politisch rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt der Beratungsstellen als auch die Liste der zu erfassenden Gewaltstraftaten eng angelehnt sind an jene des polizeilichen Definitionssystems.[12] Gezählt werden auch hier ausschließlich Gewalttaten, mehr als zwei Drittel davon sind auch bei den Strafverfolgungsbehörden durch Anzeigen bekannt. Beim Gewaltbegriff orientieren sich die Opferberatungsstellen an den Straftatbeständen des Strafgesetzbuches, um Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit mit den behördlichen Zahlen zu gewährleisten. Ausnahmen von den Gewaltstraftaten-Katalogdelikten der Behörden bilden existenzbedrohende Sachbeschädigungen – wie Brandanschläge auf Imbisse und Gaststätten – sowie schwere, mehrfache Nötigungen und Bedrohungen, die jedoch lediglich einen kleinen Teil der von den Beratungsstellen erfassten Taten ausmachen. Der zentrale Unterschied: Bei der Betrachtung der „Umstände der Tat“ und der „Einstellung des Täters“ ist für die Beratungsstellen die Wahrnehmung der Betroffenen, also die Opferperspektive, ausschlaggebend.

Die tödliche Dimension rechter Gewalt

Besonders dramatisch ist die Erfassungs- und Anerkennungslücke bei der tödlichen Dimension rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt. Während die Bundesregierung im Juni 2018 auf eine entsprechende Kleine Anfrage von Petra Pau (MdB/DIE LINKE) erklärte, zwischen 1990 und 2018 wären 83 Menschen durch PMK-Rechts-Tötungsdelikte ums Leben gekommen,[13] gehen die aktuellen Ergebnisse des Langzeitrechercheprojekts von Tagesspiegel und ZEIT-Online von mindestens 169 Todesopfern[14] im selben Zeitraum sowie 61 Verdachtsfällen aus.[15] Solche Diskrepanzen bestanden seit Beginn der Langzeitdokumentation im September 2000: Die AutorInnen von Tagesspiegel und damals noch Frankfurter Rundschau hatten seinerzeit 99 Todesopfer im Zeitraum von 1990 bis zum Sommer 2000 erfasst, während die Bundesregierung von lediglich 38 Getöteten ausging.[16]

Am Beispiel der 85-jährigen Ruth K., die in Folge eines rassistisch motivierten Brandanschlags in einem Mehrfamilienhaus am 1. März 2017 in Döbeln starb, der eigentlich einem ebenfalls im Haus lebenden iranischen Flüchtling galt, wird deutlich, warum die durch den ersten NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss im September 2013 dringend angemahnte Verlaufsstatistik bei der Erfassung von PMK-Rechts Gewalt- und Tötungsdelikten so notwendig ist. Wenige Monate nach dem Brandanschlag und dem Tod der alten Dame hatte die zuständige Kriminalpolizei Chemnitz eine 70-jährige Hausbewohnerin unter anderem mit Hilfe von Telekommunikationsüberwachung und von ihr fabrizierten Bekennerbriefen, mit denen sie den Tatverdacht auf „Ausländer“ lenken wollte, überführt. In der Anklage der Staatsanwaltschaft Chemnitz, in der Hauptverhandlung und im Urteil des Landgerichts Chemnitz vom März 2018, mit dem die 70-Jährige zu neun Jahren Haft verurteilt wurde, war „Ausländerhass“ eindeutig als das zentrale Tatmotiv benannt worden.[17] Dennoch dauerte es eineinhalb Jahre, bis die sächsische Staatsregierung Ruth K. im November 2018 offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannte. Zur Begründung verwies die Staatsregierung – nicht sonderlich glaubwürdig – darauf, dass „Ausländerhass“ erst im Strafprozess als Motiv bekannt geworden sei.[18] Der Untersuchungsausschuss hatte in Bezug auf den gesamten Untersuchungszeitraum kritisiert, dass „die Erfassung rechtsmotivierter Straftaten … bislang rein polizeilich über das derzeitige Definitionssystem PMK (Politisch motivierte Kriminalität), das große Schwächen hat“, erfolge. Dies zeige „sich exemplarisch an der Debatte um die Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990.“ Der Ausschuss riet daher dazu, „einen verbindlichen gegenseitigen Informationsaustausch zwischen Polizei und Justiz einzuführen (ggf. eine ‚Verlaufsstatistik PMK‘) – zumindest bei PMK-Ge­walt­delik­ten.“[19]

Vermutlich hätte eine derartige Verlaufsstatistik beziehungsweise ein verbindlicher Austausch zwischen Polizei und Justiz zumindest im Fall der 85-jährigen Ruth K. zu einer schnelleren Anerkennung als Todesopfer rechter Gewalt führen können. Denn die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hatte den Tod der 85-Jährigen schon in der justizeigenen Statistik für 2017 als rechtsmotiviertes Tötungsdelikt geführt – im Gegensatz zu dem für die Weitermeldungen ans BKA und die Bundesstatistik zuständige Landeskriminalamt Sachsen.[20]

Dabei sieht die auch als Konsequenz aus den Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschuss im Jahr 2015 umgesetzte Änderung von Nr. 207 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) vor, „dass die Staatsanwaltschaft bei politisch motivierten Straftaten gegen das Leben … und gemeingefährlichen PMK-Delikten nach den §§ 306 ff. des Strafgesetzbuchs … alsbald nach Abschluss des Verfahrens dem BKA die Verfahrensakten zur Auswertung übersendet.“ Die Bundesregierung räumte jedoch 2017 auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Monika Lazar (Bündnis 90/Die Grünen) ein:

„Die Gewaltdelikte im Sinne des KPMD-PMK – Körperverletzungen, Brand- und Sprengstoffdelikte, Landfriedensbruch, Gefährliche Eingriffe in den Schiffs-, Luft-, Bahn- und Straßenverkehr, Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte, Sexualdelikte – umfassen jedoch einen wesentlich größeren Deliktsbereich als den in Nummer 207 RiStBV enumerativ aufgelisteten Tatbestände. Ein belastbarer, flächendeckender Über­blick über den weiteren Verfahrensverlauf, ist daher bereits auf Grundlage von Rückmeldungen gemäß Nummer 207 RiStBV nicht möglich.“

Die Änderung habe „in der Praxis noch nicht die erwünschte Verbesserung des Informationsflusses“ erbracht. Daher setze sich die Bundesregierung für eine erneute Änderung von Nr. 207 RiStBV ein, wonach anstelle der Übersendung der gesamten Verfahrensakten zunächst durch die Staatsanwaltschaften die Abschlussentscheidung übersandt werden sollen. „Außerdem setzt sich die Bundesregierung gegenüber den Ländern dafür ein, dass der Straftatenkatalog in Nummer 207 RiStBV entsprechend der Straftatenliste im Definitionssystem PMK erweitert wird.“ Ziel sei es, die „Abschlussentscheidungen bei allen PMK-Gewaltdelikten auswerten zu können.“[21]

Das Informationsdefizit zwischen Polizei und Justiz hatte sich auch schon bei der behördlichen Überprüfung rechter Tötungsdelikte seit 1990 in Sachsen und Sachsen-Anhalt – einer Konsequenz aus der nicht erkannten rechtsterroristischen und rassistischen Motivation für die NSU-Mordserie – als eine Ursache mangelnder staatlicher Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt erwiesen. Im Februar 2012 hatte das Dresdener Innenministerium dann mit dem syrischen Asylsuchenden Achmed Bachir[22] und dem 17-jährigen Punk Patrick Thürmer zwei Todesopfer rechter Gewalt anerkannt, die 1996 und 1999 in Leipzig und in Hohenstein-Ernstthal nach Angriffen durch polizeibekannte Naziskins gestorben waren. Die späte PMK-Rechts-Bewertung, so das Sächsische Innenministerium, sei „damit zu erklären, dass diesmal zusätzlich die hierzu ergangenen Urteile der Strafgerichte beigezogen und in die Überprüfung einbezogen wurden.“[23] Das sachsen-anhaltinische Innenministerium erkannte nach Prüfung durch das LKA und den Generalstaatsanwalt in Naumburg nachträglich drei Todesopfer an: Matthias Lüders (21), der im April 1993 bei einem Angriff von Naziskins auf eine als „linker Treffpunkt“ bekannte Diskothek in Obhausen (Saalekreis) mit einem Baseballschläger erschlagen wurde,[24] sowie zwei weitere Tötungsdelikte aus dem Jahr 1999 an Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.[25]

Auch die wegweisenden, umfassenden wissenschaftlichen Überprüfungen der journalistischen und zivilgesellschaftlichen Recherchen durch das Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam und das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin zu Todesopfern rechter Gewalt in Brandenburg und Berlin haben 2015 und 2018 jeweils zur nachträglichen Anerkennung von neun beziehungsweise sieben Todesopfern rechter Gewalt durch die Behörden geführt.[26] Dies gilt im Übrigen auch für die Anerkennung der neun Opfer des Attentats am Münchener Olympia-Einkaufszentrum (1972) am 22. Juni 2016 durch das Bundesamt für Justiz, nachdem drei Wissenschaftler in unabhängigen Gutachten zu dem Ergebnis gekommen waren, dass Ausgangspunkt der Tat das extrem rechte Weltbild des Täters gewesen sei.[27]

Was getan werden muss

Die Frage der Wahrnehmung und Erfassung von PMK Rechts Gewalttaten ist auch eng mit der Frage einer effektiven Strafverfolgung verbunden. Dies gilt auch für die Wahrnehmung und Berücksichtigung der Opferperspektive: Nur dort, wo die Betroffenen und ihre Einschätzungen zur Tatmotivation von AngreiferInnen angemessen berücksichtigt werden, ist eine effektive Strafverfolgung überhaupt möglich. Besonders dramatisch erinnert die Ignoranz der StrafverfolgerInnen im NSU-Komplex daran, wie notwendig es ist, die Opferperspektive miteinzubeziehen. Aus der Fußnote zur Berücksichtigung der Wahrnehmung der Betroffenenperspektive in der BKA-Definition muss also ein Satz im Hauptteil werden. Darüber hinaus sollte das BKA den Begriff „fremdenfeindlich“ endlich zugunsten des Begriffs „Rassismus“ aufgeben, um das Othering der TäterInnen gegenüber den Opfern rassistischer Gewalt nicht weiter zu verstärken und die Definitionen der Realität der Opfergruppen rassistischer Gewalt endlich anzupassen.

Dringend notwendig sind darüber hinaus flächendeckende Schulungen aller mit dem PMK-Meldesystem befassten PolizeibeamtInnen. In den Leitungsebenen von Polizei und Behörden braucht es ein klares Bekenntnis zur Umsetzung des PMK-Rechts-Katalogs in allen Bundesländern. Dessen Klassifikation als Verschlusssache ist aufzuheben. Und nicht zuletzt sollten die PMK-Rechts-Kriterien, wie vom Gesetzgeber vorgesehen, endlich auch in den Bundesländern retroaktiv auf alle von Medien und Zivilgesellschaft recherchierten Tötungsdelikte seit 1990 angewandt werden, in denen bislang eine unabhängige Überprüfung nicht stattgefunden hat.[28]


[1]   vgl. Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG): Presseerklärung v. 26.9.2018, siehe www.verband-brg.de. Das dürfte lediglich eine vorläufige Bilanz sein, da es sowohl bei Opferberatungsstellen als auch Strafverfolgungsbehörden erfahrungsgemäß zu Nachmeldungen kommt.
[2]   vgl. RAA Sachsen: Presseerklärung v. 3.9.2018, www.raasachsen.de/aktuelles.html
[3]   vgl. u.a. die München-Chronik (https://muenchen-chronik.de/chronik) sowie Verband a.a.O. (Fn. 1); zum Angriff auf George Mbwando vgl. u.a. donaukurier.de v. 28.8.2018
[4]   vgl. BT-Drs. 17/14600 v. 22.8.2013, S. 861
[5]   vgl. Kleffner, H.; Holzberger, M.: War da was? Reform der polizeilichen Erfassung rechter Straftaten. in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 77 (1/2004), S. 56-64; Lang, K.: Defizite in der Verfolgung rassistischer Straftaten, o.O. 2015, http://rassismus­bericht.de/wp-content/uploads/Hintergrundpapier-Dr-Kati-Lang.pdf
[6]   vgl. Bundeskriminalamt, Kommission Staatsschutz: Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität, Stand 8.12.2016, S. 4
[7]   ebd., S. 5f.
[8]   Die britische Hate Crime Definition lautet wörtlich: „Any criminal offence which is perceived by the victim or any other person, to be motivated by hostility or prejudice, based on a person’s disability or perceived disability; race or perceived race; or religion or perceived religion; or sexual orientation or perceived sexual orientation or transgender identity or perceived transgender identity.“ (www.cps.gov.uk/hate-crime) Das FBI definiert Hate Crimes wie folgt: „A hate crime is a traditional offense like murder, arson, or vandalism with an added element of bias. For the purposes of collecting statistics, the FBI has defined a hate crime as a “criminal offense against a person or property motivated in whole or in part by an offender’s bias against a race, religion, disability, sexual orientation, ethnicity, gender, or gender identity.“ (www.fbi.gov/investigate/civil-rights/hate-crimes) Zur Kritik und Problematik der direkten Übersetzung von „race“ mit „Rasse“ statt „ethnischer Herkunft“ vgl. u.a. Cremer, H.: Zur Problematik des Begriffs Rasse in der Gesetzgebung, https://heimatkunde.boell.de/2008/11/18/zur-problematik-des-begriffs-rasse-der-gesetzgebung.
[9]   vgl. u.a. BT-Drs. 17/14543 v. 9.8.2013
[10] vgl. u.a. BT-Drs. 18/7000 v. 14.12.2015
[11] vgl. etwa VBRG: Presseerklärung v. 3.4.2018 (www.verband-brg.de). Übersicht des unabhängigen Monitorings der Mobilen Opferberatung zum Ausmaß rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt seit 2003: Mobile Opferberatung: Pressemitteilung v. 4.3.2018 zur „Jahresstatistik 2017“, www.mobile-opferberatung.de/infomaterial/pressemitteilungen
[12] vgl. www.verband-brg.de/index.php/monitoring sowie BMI: Entwicklung der PMK Rechts Hasskriminalität 2001 bis 2017, www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffent­lichungen/­2018/­pmk-2017-­hasskriminalitaet-2001-2017.html
[13] vgl. BT-Drs. 19/2769 v. 15.6.2018
[14] vgl. Jansen, F.; Kleffner, H.; Staud, T.; Radke, J.: Todesopfer rechter Gewalt seit 1990, Tagesspiegel.de v. 27.9.2018, www.tagesspiegel.de/politik/interaktive-karte-todesopfer-rechter-gewalt-in-deutschland-seit-der-wiedervereinigung/23117414.html
[15] vgl. dieselben: Erstochen, erschlagen, verbrannt, Zeit.de v. 28.9.2018, www.zeit.de/ gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/rechtsxtremismus-todesopfer-gewalt-verdacht
[16] vgl. u.a. Aufstellung in BT-Drs. 16/14122 v. 7.10.2009
[17] Zeit.de v. 30.9.2018: www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/ rechtsextremismus-rassismus-brandstiftung-statistik-landeskriminalamt-sachsen-kritik
[18] vgl. www.tagesspiegel.de/politik/todesopfer-rechter-gewalt-es-wird-geleugnet-getrickst-und-verharmlost/23595512.html
[19] vgl. BT-Drs. 17/14600 v. 22.8.2013, S. 861
[20] vgl. Kleffner, H.: Die Stille nach dem Brand, Tagesspiegel.de v. 2.10.2018, www. tagesspiegel.de/politik/rechtsextremismus-die-stille-nach-dem-brand/23139172.html
[21] BT-Drs. 18/ 11339 v. 28.2.2017
[22] vgl. tagesspiegel.de v. 27.9.2018: www.tagesspiegel.de/politik/interaktive-karte-todes­opfer-rechter-gewalt-in-deutschland-seit-der-wiedervereinigung/23117414.html
[23] Mitteilung des Sächsischen Staatsministerium des Innern an den Vorsitzenden des Innenausschusses im Sächsischen Landtag v. 8.2.2012
[24] vgl. „Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“, www.rechte-gewalt-sachsen-anhalt.de/todesopfer/matthias-lueders
[25] vgl. www.rechte-gewalt-sachsen-anhalt.de/todesopfer/hans-werner-gaertner und www. rechte-gewalt-sachsen-anhalt.de/todesopfer/joerg-danek
[26] vgl. Kopke, C.; Schulz, G.: Überprüfung umstrittener Altfälle: Todesopfer rechtsextremer bzw. rassistischer Gewalt im Land Brandenburg seit 1990, https://mik.brandenburg.de/ media_fast/4055/MMZ_Abschlussbericht.pdf. Feldmann, D. u.a.: Klassifikation politisch rechter Tötungsdelikte: Berlin 1990 bis 2008, https://depositonce.tu-berlin.de/ bit­stream/­11303/7111/3/Klassifikation_politsch_rechter_Toetungsdelikte.pdf. In den jeweiligen Studien setzen sich die WissenschaftlerInnen ebenfalls dezidiert mit den polizeilichen PMK-Rechts-Erfassungsproblemen auseinander, beziehen sich dabei aber aufgrund des Untersuchungszeitraums auf die PMK-Rechts-Definition, die bis 2017 gültig war und fordern jeweils Erweiterungen und Änderungen.
[27] vgl. die Gutachten von Christoph Kopke, Matthias Quent und Fabian Hartleb: https://­www.­­muen­chen.de/rathaus/Stadtpolitik/Fachstelle-fuer-Demokratie/­Kampag­nen/­Ex­per­­­tengespr-ch–Hintergr-nde-und-Folgen-des-OEZ-Attentats-.html
[28] Dieser Artikel beruht in Teilen auf einem Vortrag der Autorin bei der Konferenz „Gewalt gegen Minderheiten“ des Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena am 21.9.2018.

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