Nach Kritik an Polizeigewalt: Frankreichs Innenminister droht 125 Jahre alter Bürgerrechtsorganisation

Nach auch für französische Verhältnisse übermäßiger Polizeigewalt droht Gérald Darmanin der Menschenrechtsliga mit Entzug der Finanzierung. Die Organisation hatte das brutale Vorgehen gegen Proteste am „Megabassin“ kritisiert.

In einer vierstündigen Anhörung in der Nationalversammlung und im Senat hat der französische Innenminister Gérald Darmanin das Vorgehen der Gendarmerie gegen eine Demonstration am sogenannten Megabassin in Sainte-Soline am 25. März gerechtfertigt. Es gebe kein Problem der Ordnungshüter, sondern eines der „Ultralinken“, so der liberale Politiker. Dazu zählte Darmanin auch die Menschenrechtsliga (Ligue des droits de l’homme – LDH), die er scharf angriff und deren Vorwürfe übermäßiger Polizeigewalt er abstritt. Die Organisation, die auch gerichtlich gegen vermeintlich „nicht-tödliche Waffen“ der Sicherheitsbehörden vorgeht, habe keinen Beobachterstatus. Schließlich drohte der Minister, der Menschenrechtsliga die staatlichen Zuschüsse zu streichen.

An dem fraglichen Samstag vor beinahe zwei Wochen hatten sich nach Angaben der Veranstalter*innen rund 30.000 Umweltaktivist*innen unter dem Motto „Nicht ein Speicherbecken mehr“ nahe der kleinen Gemeinde Sainte-Soline im Südwesten des Landes eingefunden. Der Ort liegt in der Region Poitou-Charentes, die infolge des Klimawandels von massiver Trockenheit betroffen ist. Die Regierung antwortet auf das Phänomen mit dem Ausheben von mehreren Meter tiefen Bassins, in denen sich Regenwasser für die industrielle Landwirtschaft sammeln soll. Allein 60 solcher Anlagen gibt es in der Region Poitou-Charentes, rund 100 in ganz Frankreich. Kritiker*innen lehnen die Becken ab, da sie dem Boden das Grundwasser entziehen und damit das Wasserproblem auf lange Sicht sogar verschärfen.

Polizeigewalt durch die Gendarmerie

Auf dem Land ist die Gendarmerie für die öffentliche Sicherheit zuständig und übernimmt dort auch Polizeiaufgaben. Sie ist dafür gleichzeitig dem Verteidigungs- und dem Innenministerium unterstellt. Auch für französische Verhältnisse ist die Truppe außergewöhnlich hart gegen die Proteste vorgegangen. Eine vom Kleinbauernverband Confédération paysanne und zwei Umweltgruppen angemeldete Großdemonstration wurde vom Innenministerium verboten. 3.000 Soldaten hatten sich deshalb um das Bassin postiert und dieses mit einer Kette von Fahrzeugen, je vier Panzern und Wasserwerfern sowie neun Hubschraubern, gesichert.

Nachdem sich drei Demonstrationszüge dennoch in die Nähe der Absperrung begaben, antwortete die Gendarmerie mit dem Beschuss durch den Beschuss mit Tränengas und sogenannten „Hornissennestern“. Dabei handelt es sich um Sprenggranaten, die 18 Hartgummistifte enthalten. Sie sind wie Tränengas eine Distanzwaffe der Aufstandsbekämpfung und werden in Frankreich als „Entflechtungsgranate“ bezeichnet.

Drohnenaufnahme des Beschusses mit Tränengas

Auch Tränengas kann in Granaten ausgebracht werden, hierzu nutzen die Gendarmen die 2018 eingeführte Granate „GM2L“, die rund 50 Gramm Sprengstoff enthält. Ihre Vorgängermodelle hatten für heftige Kritik gesorgt, nachdem 2014 der 21-jährige Umweltaktivist Rémi Fraisse mit einer solchen Waffe getötet wurde. In den Jahren danach wurden mindestens sieben Menschen Hände durch die Granaten abgerissen, weitere Verletzungen erfolgen durch das laute Knallgeräusch und umherfliegende Splitter.

Mit Granaten „vermintes“ Gelände

Diese Gewalt hatte die Menschenrechtsliga einen Tag nach der Demonstration in einem Bericht kritisiert und die sogenannten „nicht-tödlichen Waffen“ als „Kriegsmaterial“ bezeichnet. Nach offiziellen Angaben hat die Gendarmerie in Sainte-Soline mehr als 5.000 Spreng- und Tränengasgranaten abgefeuert, rund 200 Menschen wurden davon verletzt, 40 von ihnen schwer, zwei von ihnen sind weiterhin in Lebensgefahr.

Laut dem Bericht sind bewaffnete Gendarmen mit Motorradhelmen auf 20 Quads in die Demonstrationszüge gefahren und haben dort „massiv und unterschiedslos“ mit Tränengas und Hartgummiwerfern geschossen. Auch die Granaten seien mithilfe von Werfern „sehr weit und wahllos“ in die Menge geschleudert worden. Dies habe unter den Demonstrierenden zu einer „erheblichen Anspannung“ geführt. Einige der Granaten seien außerdem nicht explodiert, das Gelände durch verzögerten Explosionen „vermint“ worden.

Die Gendarmerie soll die herbeigerufenen Sanitäter stundenlang behindert haben, beklagte die Menschenrechtsliga, die mit sechs Beobachterteams vor Ort war. Der Innenminister Darmanin bestreitet das. Laut dem Bericht der LDH habe jedoch ein Angehöriger der Rettungskräfte in einem Telefongespräch mit drei Anwälten der Organisation erklärt, auf Befehl der Gendarmerie nicht eingreifen zu dürfen.

Abgeordnete und Beobachter*innen beschossen

Auch Abgeordnete waren bei den Protesten zugegen. Als diese mit den Beobachter*innen eine Menschenkette um die Verletzten bildeten, um ihre Evakuierung zu ermöglichen, seien sie laut der Menschenrechtsliga ebenfalls mit Tränengas beschossen worden. Zu diesem Zeitpunkt soll von den Demonstrierenden keine Gewalt ausgegangen sein. Vorher wurden Berichten zufolge vier Fahrzeuge der Gendarmerie in Brand gesetzt.

Die Menschenrechtsliga wurde 1898 gegründet und ist damit eine der ältesten Bürger- und Menschenrechtsorganisationen des Landes. Tatsächlich erhält sie neben Mitgliedsbeiträgen und Spenden auch staatliche Mittel, 2021 soll die Förderung fast 300.000 Euro betragen haben. Zahlreiche Organisationen haben sich nun mit der LDH solidarisiert und die Rücknahme der Drohung gefordert.

Die LDH selbst antwortet auf die Vorwürfe in einer Pressemitteilung. Demnach setze sich der Innenminister über verschiedene internationale Konventionen hinweg, wonach die Anwesenheit von Beobachter*innen bei Versammlungen gesetzlich garantiert sein muss, ohne dass Behörden dieses Recht behindern dürften.

Beitragsbild: Joanie Lemercier (Twitter).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert