Training der Zukunft? Virtual Reality bei deutschen Polizeibehörden

von León von der Burg, Johannes Ebenau und Jasper Janssen

Immer mehr Polizeien in Deutschland beschäftigen sich mit Virtual Reality (VR). An die Implementierung werden verschiedene Hoffnungen und Erwartungen insbesondere zur Verbesserung von polizeilicher Aus- und Fortbildung geknüpft. Es steht zur Disposition, inwiefern VR-Technologien diesen Erwartungen gerecht werden können oder ob mit ihnen nur leere Modernisierungsversprechen einhergehen. Der Beitrag gibt einen Überblick über polizeiliche Erprobungen von VR-Trainingstechnologien sowie die damit verbundenen Hoffnungen und Kritikpunkte.

Die Euphorie angesichts neuer technologischer Entwicklungen macht auch vor deutschen Polizeien nicht halt. Smartphones, die einsatzrelevante Informationen in Echtzeit zur Verfügung stellen, einsatzunterstützende Software, die den nächsten Einbruch vorhersagen soll, oder Drohnen zur Überwachung von Versammlungen oder Tatortsicherung werden als Einsatzmittel der Zukunft von modernen, noch effizienteren Polizeien präsentiert. Eins der aktuellsten Trendtechnologiefelder ist das der Virtual und Mixed Reality. Insbesondere in der polizeilichen Aus- und Fortbildung sollen sie bei der Erzeugung einer immersiven Lernumgebung helfen. Ihr Versprechen: realitätsnähere, qualifiziertere und kostengünstigere Trainings als bisher vor allem für komplexe Einsätze wie Amokläufe oder Terroranschläge. Doch was ist dran an der Technologie, die von manchen Polizeien bereits als ein „Quantensprung“ im Einsatztraining bezeichnet wird?[1] Im Folgenden geben wir einen Überblick über die Technologien, zeigen wer mit ihnen trainiert, was Polizeibehörden sich von deren Nutzung versprechen und welche Kritikpunkte und Limitationen vorliegen.

Die intuitive Verknüpfung zwischen digitaler und physischer Welt ist seit jeher ein Teilprojekt fortschreitender Digitalisierung. Die derzeitigen Hoffnungstechnologien lassen sich im Technologiefeld der Extended Reality (XR) zusammenfassen. Dieser Oberbegriff beinhaltet die unterschiedlichen Systeme der Virtual Reality und Mixed Reality (MR). Diese Systeme vereint das Bestreben, die Grenzen zwischen digitaler und physischer Welt weiter zu verschieben und Interaktionen von physischen und digitalen Objekten oder Applikationen durch Visualisierungs- und Projektionstechnologien zu ermöglichen. Während sich VR-Technologien durch Projektionen von physischen Aspekten auf virtuelle Oberflächen auszeichnen, ist es bei Systemen der MR anders herum. MR-Systeme, die sich zwischen Augmented Reality (AR) und Augmented Virtuality (AV) differenzieren lassen, ist gemein, dass virtuelle Elemente mithilfe von Bildschirmen, etwa AR-Brillen oder dem Bildschirm eines Smartphones in das Sichtfeld der Nutzenden projiziert werden. Ein populäres Beispiel dieser Technologie ist das Smartphone-Spiel Pokémon Go.[2] Im Kontext von Polizeien dominieren derzeit VR-Systeme den Markt, weshalb wir unsere Aufmerksamkeit in diesem Artikel vornehmlich solchen Systemen widmen.

VR-Technologie und ihre polizeiliche Erforschung

Das Prinzip von VR ist simpel: Die physischen Bewegungen von Nutzenden werden durch Sensoren aufgezeichnet und auf ein digitales Abbild, den sogenannten Avatar, in eine virtuelle Umgebung übersetzt. So ist es möglich, Nutzer*innen das Gefühl zu vermitteln, in eine virtuell geschaffene Welt einzutauchen, zu einem gewissen Grad mit ihr zu interagieren[3] und gleichzeitig das Gefühl zu haben, physisch an einem anderen Ort zu sein.[4] Ein Head-Mounted-Display (HMD), das umgangssprachlich als VR-Brille bezeichnet wird, ermöglicht in der VR die visuelle Orientierung und die Steuerung des Sichtfeldes durch Bewegungen mit dem Kopf. Andere Sensoren, etwa an VR-Handschuhen oder Controllern in Form von modifizierten Waffenreplikationen, ermöglichen die Übersetzung von Bewegungen und Interaktionen aus der physischen Welt auf das digitale Abbild im virtuellen Raum. Die Arten und Möglichkeiten der Steuerung wie Interaktion variieren dabei zwischen Systemen und Anbietern und ermöglichen einen unterschiedlichen Grad der Immersion, also des sensitiven Eintauchens in die virtuelle Umgebung. Da die Veränderung der virtuellen Oberfläche lediglich die (Um)Programmierung von Pixeln und Code, also keine Veränderung von physischer Materie bedarf, sind der Fantasie in der VR wenig Grenzen gesetzt. Deshalb erscheinen VR-Technologien für jene Anwendungsbereiche besonders attraktiv, die sich durch eine hohe und regelmäßige Anpassungsnotwendigkeit auszeichnen und die unter normalen Umständen einen enormen Aufwand von Ressourcen und Arbeit erfordern würden.[5] Für Szenario-Trainings in der VR bedeutet das etwa, dass Repräsentationen von Menschen oder Tieren, sogenannte Non-Player-Characters (NPCs), oder Objekte einfach aus einer Datenbank in zuvor vorbereitete Szenarios eingefügt werden können. Da diese virtuellen Welten im Grunde nichts anderes als eine grafische Oberfläche eines im Hintergrund laufenden komplexen Codes sind, werden während der Nutzung eine enorme Menge an Daten aufgezeichnet. Jede Bewegung, jedes gesprochene Wort und jeder abgefeuerte Schuss hat seine Entsprechung im Datenfluss und kann theoretisch für eine spätere Evaluation des individuellen Verhaltens und Leistungsbildes rekonstruiert werden.

Die Anfänge von XR-Systemen lassen sich, wie bei vielen anderen „Zukunftstechnologien“ auch, auf militärische Forschung zurückführen.[6] XR-Technologien bilden heute einen wichtigen (häufig übersehenen) Teil in der militärischen Ausbildung, im Training und in der Weiterbildung. Darüber hinaus entwickelt sich seit einigen Jahren in der Gaming- und Unterhaltungsindustrie eine zweite zunehmende Triebkraft in der Weiterentwicklung von XR- und insbesondere VR-Technologien.[7] Nicht nur markiert VR-basiertes Gaming als wachsendes Segment in der Gaming-Branche ein attraktives Feld für Investitionen, die dabei (weiter) entwickelten Hard- und Softwaresysteme bilden außerdem die Grundlage für immer mehr ernsthafte Inhalte: So basieren viele der VR-Umgebungen, welche von deutschen Polizeien genutzt oder getestet werden, auf den HMDs und/oder Gaming Engines die ursprünglich für Gaming-Inhalte produziert wurden.[8] In vielen Fällen werden also fürs Gaming entwickelte Technologien für Lernen, Training und Simulation genutzt. Dies erklärt auch, warum sich viele der VR-Umgebungen äußerlich kaum von Spielen unterscheiden. Neben militärischer Forschung und der Gaming- und Unterhaltungsindustrie wird die Verbreitung von XR-Technologien durch zwei weitere Entwicklungen vorangetrieben: Zum einen ist der Medienkonzern Meta (ehemals Facebook) bestrebt, das Internet mit dem „Metaverse“ um eine per VR erleb- und bedienbare Sphäre nach eigenen Vorstellungen zu ergänzen. Zum anderen ist gleichzeitig der gesellschaftliche Bedarf nach digitalen Interaktionsmöglichkeiten durch die Kontakteinschränkungen der Covid-19-Pandemie gewachsen. Beide Entwicklungen führen dazu, dass immer mehr Arbeits- und Gesellschaftsbereiche entsprechende Anwendungsmöglichkeiten prüfen. Neben Dienstleistungen in den Bereichen der Medizin oder Logistik, betrifft dies auch deutsche Behörden und Organisation mit Sicherheitsaufgaben (BOS). So lassen sich bei deutschen Polizeibehörden mit Beginn der 2010er Jahre zunehmend Ambitionen erkennen, VR-Technologien auf ihre Möglichkeiten im Trainingsbereichen zu testen. Diese Initiativen sind dabei entweder Bestandteil größerer, durch die Europäische Union (EU) und ihre Forschungsinitiativen Horizon 2020 oder Horizon Europe finanzierten Verbundprojekte oder es handelt sich um individuelle Kooperationen einzelner Polizeibehörden mit Anbietern aus der Privatwirtschaft, wie etwa bei den Polizeien aus Rheinland-Pfalz und Niedersachsen.

Gefördert durch die EU startete das Projekt „Training Augmented Reality Generalised Environment Toolkit” (TARGET), das in der Horizon 2020-Förderperiode von 2015 bis 2018 bewilligt und mit beinahe 6 Millionen Euro gefördert wurde. Neben 14 weiteren europäischen Projektpartnern aus Forschung und BOS arbeiteten die Deutsche Hochschule der Polizei,[9] die Hochschule der Polizei Brandenburg[10] und das Fraunhofer Institut unter französischer Projektleitung an der Harmonisierung von XR-Systemen zum Training von Polizeikräften.[11] Die entworfenen Trainingsszenarien waren dabei so heterogen wie die getesteten XR-Systeme.[12] Zwar wurde hier bereits mit VR-Technologien experimentiert, der Fokus lag jedoch noch auf MR-Technologien und der Ermittlung möglicher Synergieeffekte mit anderen Technologien der Zukunft, wie Künstlicher Intelligenz. Wesentliche Probleme lagen in der unausgereiften MR-Technik: Ungenauigkeiten in der graphischen und räumlichen Darstellung, stark begrenzte Rechenleistung und eingeschränkte Sichtfelder der HMDs sowie klobige und wenig interaktionsfähige NPCs brachten die Projektgruppe, neben positiven Bilanzen, zum Fazit: „Erst wenn die Technologien ausgereift sind, wird Training von Sicherheitsbehörden mit solchen Systemen möglich sein.“[13]

Ungehindert von einem solch ernüchternden Ergebnis übernahm das Projekt SHOTPROS im Jahr 2019 den Forschungsschwerpunkt XR-Trainings und wurde mit rund fünf Millionen Euro über die Horizon Europe Finanzierungsinitiative der EU gefördert.[14] Ziel war es, ein VR basiertes Trainingssystem und Curriculum zu entwickeln mit dem Polizist*innen ihre Handlungs- und Entscheidungskompetenz in Stress- und Hochrisikosituationen verbessern können. Unter Leitung einer österreichischen Consultingfirma waren das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalen (NRW)[15] und die Polizei Berlin[16] neben verschiedenen europäischen Innenbehörden, Polizeien und Universitäten Projektpartner.

Ebenfalls 2019 baute die Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz ihr eigenes VR-Projekt SAFER (Simulation in der Ausbildung für Einsatzkräfte in Rheinland-Pfalz) in Kooperation mit dem niederländischen Unternehmen XVR-Simulations weiter aus.[17] Das System ist sowohl über VR als auch über herkömmliche Monitore nutzbar und wird bereits seit 2004 durch die Feuerwehr- und Katastrophenschutzschule Rheinland-Pfalz[18] und seit 2011 auch durch die Feuerwehrschule Sachsen sowie weitere in Katastrophenschutz involvierte Organisationen in verschiedenen Teilen der Ausbildung angewandt.[19] In der Polizei Niedersachsen beschäftigt sich seit 2019 eine Projektgruppe mit den Implementierungsmöglichkeiten von XR-Techniken in die Aus- und Weiterbildung, wie z. B. einer XVR-Simulationsumgebung die u. a. für Szenario-Übungen getestet wird.[20] Die Polizeiakademie Niedersachsen erprobt zudem am „Campus 4.0“ verschiedene andere Anwendungsbereiche für XR-Technologien in der Ausbildung.[21] Außerdem wurde 2022 der „Pixplorer“, ein VR-System zur virtuellen Tatortbegehung, vorgestellt und an die 28 niedersächsischen Fachkommissariate Forensik ausgeliefert.[22] Auch die Polizeien aus Bremen und Bayern arbeiten an der Implementierung von XR-Technologien.[23]

Horizonte polizeilichen Einsatztrainings in VR

Trotz der unterschiedlichen Entwicklungsstände und Pfade zur Implementierung von VR-Systemen zum Training, vereinen die Behörden konkrete Hoffnungen und Erwartungen an den Einsatz von VR. Polizeiliche Akteure erwarten konkrete Verbesserungen des Einsatztrainings in mindestens drei Bereichen: dem Ressourcenaufwand, der gestalterischen Freiheit in der Szenarioerstellung und der verbesserten Möglichkeiten zur Erhebung und Auswertung von Trainingsdaten.

In den vergangenen Jahren haben sich insbesondere im Bereich komplexer und lebensbedrohlicher Einsatzszenarien Ausbildungsdefizite und neue Trainingsbedarfe bei europäischen BOS manifestiert: Amoktaten an Schulen wie in Erfurt (2002) oder Winnenden (2009) sowie Terroranschläge wie in Paris, Nizza, Berlin oder München. Was diese Ereignisse aus Sicht von BOS vereint, ist die hohe Dynamik der Situation, das zu erwartende hohe Schadensausmaß und die daraus resultierende Komplexität der Lagebearbeitung. Den Ereignissen ist auch gemein, dass BOS aus ihnen die Notwendigkeit zur Übung vergleichbarer Szenarien ableiteten. Die Übung solch komplexer Lagen bedarf der Beteiligung diverser BOS, versammelt teils hunderte Übende, erfordert einen erheblichen Ressourcenaufwand und verlangt eine gute Koordination. Kurz: sie sind aufwendig und teuer. Das Problem, Trainingsbedarfe zu erkennen, aber gleichzeitig kaum adäquate Trainingsumgebungen herstellen zu können, ist ein Ausgangspunkt, an dem VR-Training als polizeiliche Hoffnungstechnologie andockt. Es geht mit dem Versprechen einher, komplexe Einsatzsituationen mit vergleichsweise geringem Ressourcenaufwand virtuell inszenieren zu können.[24]

Polizeien erhoffen sich zudem eine darüberhinausgehende Verbesserung des Einsatztrainings durch die neuen technologischen Möglichkeiten. In einem Promo-Video zum VR-unterstützten Simulationstraining der Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz resümiert ein Polizeitrainer: Trainieren in Simulationen bedeute, „selbst zu erleben … in der Situation zu sein“. Es ermögliche Polizeibeamt*innen das Erleben von Einsatzsituationen in „Echtzeit“ und eigne sich somit als Tool zur Vorbereitung „für die Wirklichkeit durch die Wirklichkeit“.[25] Die virtuelle Lernumgebung wird zur Wirklichkeit erklärt und darin gemachte Erfahrungen mit Einsatzerfahrungen verglichen. Die Hoffnung, dass „reale“ Polizeieinsätze durch den Einsatz von VR in Zukunft besser vorbereitet werden können, teilt etwa auch die Polizei NRW: Im Mitarbeitermagazin „Streife“ wird die Implementierung der Technologie im Rahmen des Projekts SHOTPROS als „Quantensprung“ für polizeiliche Fort- und Ausbildung bezeichnet. Das VR-Training sei „die Zukunft“ des Polizeitrainings und könne dabei helfen, die Entscheidungsfindung von Polizist*innen in Hochrisikosituationen zu verbessern.[26]

Einen dritten Vorteil von VR-Training sieht eine Einsatztrainer*in, die an der Erprobung der Technik im polizeilichen Ausbildungszentrum der Polizei NRW beteiligt war, in der Möglichkeit, ein sogenanntes „After-Action-Review“ durchzuführen.[27] Die beim Training in virtuellen Welten generierten Daten über die Übenden und den Übungsverlauf ermögliche eine detaillierte Auswertung von Trainingssequenzen anhand verschiedener Metadaten, wie den Bewegungsabläufen, individuellen Sichtfeldern oder körperlichen Stressindikatoren. Ein Ziel des Einsatzes von VR im Polizeitraining sei es demnach, mit Hilfe des direkten Feedbacks Trainings effektiver zu evaluieren und dadurch in der Durchführung von Strategien und Taktiken größere Sicherheit zu erlangen. Dies führe wiederrum zu einer erhöhten Stressresistenz von Polizeibeamt*innen in Hochrisikosituationen.[28]

Diesen konkreten Hoffnungen und Erwartungen stehen jedoch einige Limitationen und kritische Anmerkungen entgegen, weshalb etliche Polizeien mit der Implementierung der Technologie zögern. Dem Argument der geringeren Kosten stehen beispielsweise hohe Anschaffungskosten für die notwendige Infrastruktur gegenüber. Zur Realisierung von VR-Trainings benötigt man neben der teuren Technik z. B. auch ausreichend große Übungshallen, die sich bestenfalls ­– je nach virtueller Welt – umbauen lassen, damit virtuelle Architektur eine reale materielle Entsprechung erhält. Hinzu kommen neue Personalaufwände, die notwendig sind, um die Technologie zu verwalten und entsprechende Szenarien zu entwerfen. Einsatztrainer*innen, die mit VR arbeiten, bräuchten eine entsprechende Zusatzqualifikation, um die weitreichenden Möglichkeiten der virtuellen Welt überhaupt für ihre Zwecke nutzen zu können. Entsprechend warnen Kritiker*innen vor anfallenden Opportunitätskosten, die Mittel binden, die anderweitig eingesetzt werden könnten.[29] Polizeiliches Einsatztraining mithilfe von VR könnte demzufolge vor allem eine Kostenverschiebung statt eine Ersparnis bedeuten. Zudem kommt mit der teuren Anschaffung von moderner Technik immer auch eine Pfadabhängigkeit ins Spiel. Denn ist die Technik erstmal angeschafft und implementiert, spielt die Frage nach dem tatsächlichen Nutzen eine nebensächliche Rolle. Erfahrungsgemäß weitet sich die Nutzung nach der Einführung häufig über den ursprünglichen Zweck hinaus auf andere Anwendungsbereiche aus.[30]

Darüber hinaus stellen sich Fragen nach der Repräsentativität von virtuellen Welten und den Transfermöglichkeiten des Erlernten in die „reale“ Welt. VR-Trainings folgen eigenen Rationalitäten des Erfahrens, die sich von der „realer“ Welten unterscheiden. Virtuelle Welten sind zunächst vor allem visuelle Projektionen, die sich dementsprechend in erster Linie visuell erfahren lassen. Technologien, die andere Sinne, etwa durch Vibrationen oder Geruchsstoffe, ansprechen sollen, befinden sich derzeit noch in einem experimentellen Stadium und können die Lücke zwischen dem Erfahren virtueller Welten und dem Erfahren der „realen“ Welt nicht schließen. Während auch in traditionellen Trainings Komplexitätsreduktionen angelegt sind, kommen in der XR durch die virtuelle Darstellung eigene Reduktionen hinzu. Die Szenarien entstehen nicht organisch, dadurch wirken die Welten häufig aufgeräumt und künstlich, sodass zwischen der zu trainierenden „Realität“ und dem trainierten Szenario eine gewisse Distanz angelegt ist.[31] Hinsichtlich dieser Lücken zwischen „Realität“ und Simulation muss die Frage nach (nichtintendierten) Lerneffekten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt werden. Ansonsten läuft das Polizeitraining Gefahr, eine „Realität ohne Original“ zu simulieren.[32]

Auch dem vermeintlichen Vorteil einer evidenz-orientierten Evaluationsmöglichkeit durch die im VR-Training generierten Daten lassen sich verschiedene Argumente entgegenhalten. So stehen die Polizeibehörden vor Datenschutz- und Speicherkapazitätsproblemen. Laut Aussagen von beteiligtem Personal haben deutsche Polizeibehörden derzeit zumeist keine ausreichende Serverinfrastruktur, um die Massen an Trainingsdaten, die potentiell erhoben werden können, temporär oder dauerhaft speichern und evaluieren zu können. Hinzu kommt, dass die persönlichen Daten, die potentiell über die trainierenden Beamt*innen erhoben werden sollen, neue persönlichkeitsrechtliche Fragen aufwerfen. Welche Daten sollen warum und in welcher Form gespeichert werden und welche Schlüsse werden warum daraus gezogen? Welche Konsequenzen können beispielsweise „schlechtere“ Werte für Beamt*innen bei ihrer Berufsausübung haben? Hinzu kommen Fragen zur Operationalisierung entsprechender Evaluationen. Ohne wissenschaftliche Methodenbegleitung droht eine strukturelle Verankerung von Fehlschlüssen und Pseudoevidenzen ins polizeiliche Einsatztraining Einzug zu erhalten.

Beware the hype: VR als Modernisierungsversprechen

Abseits von dem Ziel der Verbesserung des Einsatztrainings erwarten sich Polizeibehörden durch die Erprobung und Implementierung von VR-Technologien auch ein Image als moderne, zukunftsorientierte Institutionen, die den Herausforderungen und Gefahren einer digitalen Gegenwart gewachsen sind. Die Polizeiakademie Niedersachsen möchte mit der Einführung von XR-Technologien etwa ein „veränderte(s) Lernverhalten der Generation Y“ berücksichtigen. Einem Bericht zum „Campus 4.0“ zufolge sollen die Technologien eine Ausbildung ermöglichen, die „nah an der Wirklichkeit“ ausgerichtet ist.[33] So erscheinen XR-Technologien gleichermaßen als Bemühung um das Image als Arbeitgeber und Sicherheitsdienstleister. Polizeien wollen als digitale Vorreiter auftreten, um junge Menschen anzusprechen und sehen XR-Technologien als Teil einer notwendigen Modernisierung. Diese Modernisierung betrifft auch das crime-fighting selbst. Der Interessenverbund Interpol und die europäische Behörde Europol machten jüngst mit Veröffentlichungen zum Metaverse auf sich aufmerksam. Mithilfe des Launches eines „global police metaverse“ verspricht man sich bei Interpol ein besseres Verständnis von digitalen Anwendungen, um diese in Zukunft besser polizieren zu können: „Um das Metaverse zu verstehen, müssen wir es erfahren.“[34] In einem Bericht von Europol zum Metaverse werden virtuelle Welten als nützlich für Polizeitrainings, aber auch als Mittel für Propaganda, Rekrutierung und Training von Terrorist*innen beschrieben. Dementsprechend sei es notwendig, dass sich Polizeibehörden mit virtuellen Welten vertraut machen.[35] Die Beispiele rahmen VR bzw. XR als Zukunftstechnologiefeld, welches das Potential hätte, konventionelle Formen von Policing und dessen Ausbildung zu revolutionieren oder gar zu ersetzen. VR erscheint hier als „hot shit“, der auch deshalb nützlich und anschlussfähig für Polizeien ist, weil er gerade intensiv beforscht und gefördert wird.[36] Zudem wirken „Zukunftstechnologien“ wie VR anziehend auf Polizeien, da sie als scheinbare Antworten auf wiederkehrende Fragen nach Innovation und Modernität wirken.[37] VR-Technologien unterstützen die folgende Erzählung: Polizeien sind attraktive, moderne Sicherheitsdienstleister, die mit der Zeit gehen, sich didaktisch und technologisch neu aufstellen und so in der Lage sind, komplexe Lagen in realen und virtuellen Welten zu lösen und Sicherheit herzustellen. Technologien aus Modernisierungsgründen einzuführen ohne den konkreten Nutzen vorher zu untersuchen und nachzuweisen droht allerdings eine zweite Pfadabhängigkeit zu erzeugen. Technologische Modernisierung wird zum Selbstzweck, während die Problemlösung des Einsatztrainings auf potentiell unausgereifte Technik ausgelagert wird.

Fazit

Die Anschaffung und Implementierung von VR-Technologien sollen als Lösung für verschiedene polizeiliche Probleme fungieren. Neben Verbesserungen für und Vergünstigung von Einsatztrainings soll es Polizeien dabei helfen Cybercrimefighting zu üben und das Image eines modernen, attraktiven Arbeitgebers und kompetenten Sicherheitsdienstleister anzustreben. Bisherige VR-Erprobungen bespielen vor allem den letzten Punkt, und es ist davon auszugehen, dass die Technologien das traditionelle Einsatztraining nicht komplett ablösen werden, da die Repräsentativität von virtuellen Welten dafür nicht ausreicht. Wohl aber wird sich das Einsatztraining durch ein vermehrtes Auftauchen der Technologien verändern. Dabei gilt es derzeit insbesondere die Aushandlungen zu datenschutzrechtlichen Fragen und Repräsentativitätsanforderungen im Blick zu behalten und die Inhalte des Einsatztrainings genauso kritisch zu begutachten wie deren äußere Form. Außerdem bleibt zu beobachten, welche Kompetenzen die Polizeien durch die neuen Technologien und die Anstellung/Ausbildung des zugehörigen technischen Personals hinzugewinnen. In jedem Fall verstärkt die derzeitige Erprobung von VR-Technologien den Trend der Verstrickung von Polizeien mit privatwirtschaftlischen Akteuren, wie hier den diversen VR-Soft- und Hardwareprovidern.

[1]    Zorn, T.: Virtual Reality im Einsatztraining. Wie die Polizei NRW Pionierarbeit als Teil eines EU-Projekts leistet, in: Die Streife 2022, H. 3, S. 6-11 (6)
[2]    Auch die Nutzung von Pokémon Go hatte unlängst für Schlagzeilen gesorgt, nachdem zwei Polizisten im US-Bundestaat California einem Notruf nicht nachgekommen waren, weil sie Pokémon Go gespielt haben. Vgl. Polizeibeamte spielen „Pokémon Go“, statt Räuber zu verfolgen – entlassen, RedaktionsNetzwerk Deutschland online v. 11.1.2022
[3]    Wohlgenannt, I. u.a.: Virtual Reality. Business & Information Systems Engineering 2020, H. 5, S. 455-461
[4]    Sanchez-Vives, V.; Slater, M.: From presence to consciousness through virtual reality. Nature Reviews Neuroscience 2005, H. 4, S. 332-339
[5]    Kaplan, D. u.a.: The Effects of Virtual Reality, Augmented Reality, and Mixed Reality as Training Enhancement Methods: A Meta-Analysis. Human Factors 2021, H. 4, S. 706-726
[6]    Auch wenn die erste XR-Technologie bereits in den 1960er Jahren im US-Militär erforscht wurde, hat die Technologie einen wirklichen Impetus erst in den 1990er Jahren erfahren, s.: Sutherland, E.: The ultimate display, in: Kalenich, A. (Hg.): Proceedings of the international federation for information processing congress 1965, H. 1, S. 506-508; Baumann, J.: Military applications of virtual reality, in: The Encyclopedia of Virtual Environments, College Park (Maryland) 1993; Seidel, J.; Chatelier, R. (Hg.): Virtual reality, training’s future? Perspectives on virtual reality and related emerging technologies, New York 1997.
[7]    Greengard, S.: Virtual reality, Cambridge; London 2019, S. 28
[8]    Gaming Engines bilden das Software-Gerüst, welches die Funktionalitäten der virtuellen Welten weitgehend begrenzen. Sie definieren was in der XR (nicht) machbar ist, indem sie bspw. physikalische Grundprinzipien simulieren oder den Grad der Interaktionalität anlegen, s.: van Der Heijden, T. u.a.: Use of Game Engines and VR in Industry and Modern Education, in: Ntalianis, K. u.a. (Hg.): Applied Physics, System Science and Computers III, Cham 2019, S. 88-93.
[9]    www.dhpol.de/departements/departement_II/FG_II.4/target.php
[10] https://hpolbb.de/sites/default/files/field/dokumente/forschungsbericht_2014_und_forschungsplan_2015-2016.pdf
[11] https://cordis.europa.eu/project/id/653350
[12] Vidal, R.: Design and Implementation of High Reliability Organizing Based Performance Metrics in the Context of the EU H2020 Research Project TARGET, Aiming at Developing VR/AR Training Environment for Security Critical Agents, In: Bagnara, S. u.a. (Hg.): Proceedings of the 20th Congress of the International Ergonomics Association (IEA 2018). IEA 2018. Advances in Intelligent Systems and Computing 2019, H. 824
[13] TARGET: Final Report on TARGET Platform, o.O. 2018, S. 75, https://ec.europa.eu/research/participants/documents/downloadPublic?documentIds=080166e5bef86d4d&appId=PPGMS v.14.12.2022, eigene Übersetzung
[14] https://cordis.europa.eu/project/id/833672
[15] https://lafp.polizei.nrw/artikel/virtual-reality-projekt-shotpros-lafp-nrw-entwickelt-die-zukunft-des-polizeitrainings-mit
[16] Pressemitteilung der Polizei Berlin Nr. 1566 v. 28.6.2019
[17] Pressemitteilung des Innenministeriums Rheinland-Pfalz v. 22.5.2019
[18] https://lfks.rlp.de/de/ueber-die-lfka/projekte/safer
[19] Pressemitteilung des Innenministeriums Rheinland-Pfalz v. 22.6.2011
[20] Pülm, M.: Einführung XVR-Simulationsumgebung, in: proPolizei. Informationen für die Polizei Niedersachsen 2020, H. 6
[21] https://digitalagentur-niedersachsen.de/digitaler-ort-polizeiakademie-niedersachsen
[22] Pressemitteilung des Innenministeriums Niedersachsen v. 29.8.2022
[23] Bremer Polizei will wegen Corona virtuell trainieren, Weser Kurier v. 06.5.2022; www.fuehrungskraefte-forum.de/detail.jsp?v_id=7565; www.dpolg-bayern.de/artikel/virtual-reality-vr-wird-ausgebaut-237.htm
[24] s. Akhgar, B.: Serious Games for Enhancing Law Enforcement Agencies. From Virtual Reality to Augmented Reality, Cham 2019; Giessing, L.: The Potential of Virtual Reality for Police Training Under Stress: A SWOT Analysis, in: Arble, P.; Arnetz, B. (Hg.): Interventions, Training, and Technologies for Improved Police Well-Being and Performance, Hershey 2021, S. 102-124
[25] https://youtu.be/oKRHw8YXeck
[26] Zorn a.a.O. (Fn. 1), S. 6 u. 8
[27] ebd.
[28] Giessing a.a.O. (Fn. 24)
[29] s. Staller, M.; Koerner, S.: Einsatztraining und Digitalität, in: Rüdiger, T.; Bayerl, P. (Hg.): Handbuch Cyberkriminologie, Wiesbaden 2020, S. 1-23
[30] s. Koops, B.: The Concept of function creep, in: Law, Innovation and Technology 2021, H. 1, S. 29-56
[31] s. von der Burg, L. u.a.: Training beyond boundaries? Virtual reality scenario training as worldmaking for complex, life threatening situations, in: Wolff-Seidel, S.; Seidel, M. (Hg.): Gaming and Geography: A multi-perspective approach to understanding the impacts of gaming on geography (education), Wiesbaden 2023 (im Erscheinen)
[32] Staller; Koerner a.a.O. (Fn. 29) S. 17
[33] https://digitalagentur-niedersachsen.de/digitaler-ort-polizeiakademie-niedersachsen
[34] INTERPOL launches first global police Metaverse, Pressemitteilung Interpol v. 20.10.2022, eigene Übersetzung
[35] Europol report finds metaverse police presence key to public engagement, Pressemitteilung Europol v. 21.10.2022
[36] Mohr, E.: Hot Shit: Über die semiotische Konkurrenz von Marken, in: Kursbuch 194 (2018), S. 135-149; Staller; Koerner a.a.O. (Fn. 29)
[37] ebd.

Beitragsbild: Mario Bartlewski (LAFP NRW).

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