Überwachte Kindheiten: Zwischen Schutz, Aktivierung und (Selbst-)Kontrolle

von Verena Schreiber, Dana Ghafoor-Zadeh und Antonia Appel

Kindheit vollzieht sich in einem ambivalenten Verhältnis von Schutz, Aktivierung und (Selbst-)Kontrolle. Als zentrale Adressat*innen zukunftsgerichteter Diskurse und Praktiken, die Sicherheit, Beteiligung und ein besseres Leben versprechen, kommt jungen Menschen in gegenwärtigen Entwicklungen eine bedeutende Rolle zu. Doch die Versprechungen kommen nicht ohne Einschränkungen und Erwartungen. Anhand aktueller Entwicklungen in der Stadt und im Feld der Digitalisierung diskutieren wir, wie subtile Kontrollformen und die zunehmende Datensammlung die Freiheiten junger Menschen weiter einschränken.

In kaum einer Phase unseres Lebens sind wir von anderen Personen, materiellen Zuwendungen und gesellschaftlichen Erwartungen derart abhängig wie in unserer Kindheit. Für junge Menschen entscheiden in der Regel Erwachsene, wo sie leben dürfen, was sie lernen sollen und was sie besitzen dürfen. Wenn Kinder tatsächlich mal – in ihren Familien, im Schulalltag oder in städtischen Planungsprozessen – in Entscheidungen eingebunden werden, geschieht dies auf Wunsch und nach den Regeln älterer Generationen. Was Kindheit ist, lässt sich also nicht „vom Kinde aus“, sondern immer nur relational – als Position in einem wirkmächtigen generationalen Verhältnis – verstehen.

Dass Kinder grundsätzlich anders behandelt und in ihrer Entwicklung und ihrem Tun engmaschig betreut, behütet und überwacht werden, begründet sich vor allem in der modernen Konzeptualisierung von Kindheit als gesellschaftlicher Schutz- und Schonraum. Spätestens im Zuge der Entstehung der Nationalstaaten ab dem 18. Jahrhundert rücken auch die gesellschaftliche Gruppe der jungen Menschen, ihre Familien und die Aufgabe der Erziehung in das Blickfeld von Regierungsbemühungen und wirtschaftlichen Interessen.[1] So werden etwa während der Industrialisierung junge Menschen einerseits häufig in Fabriken als Arbeitskräfte eingesetzt. Anderseits wächst gleichzeitig das Bewusstsein für die Möglichkeit, junge Menschen durch pädagogische Betreuung und Bildung zu produktiven Bürger*innen heranwachsen zu lassen. Flankiert wird die relativ junge „Erfindung der Kindheit“ dabei von einer Wissenschaft, die mittels psychologischer Forschung Kindheit als eine eigene Lebensphase geistiger und körperlicher Entwicklung konzipiert und die biologische „Unfertigkeit“ von Kindern zum Anlass spezifischer Erziehungs-, Schutz- und Kontrollmaßnahmen nimmt.[2] Im Kinde manifestiere sich die „Bündelung von Wünschen und Hoffnungen auf ein rettendes Heilsgeschehen für alle Leiden misanthropischer Verzweiflung an Mensch und Welt.“[3]

Die neue Beziehung zum Kind wird dabei maßgeblich im Modus territorialer Einhegung organisiert. Um eine Erziehung im Sinne des Staates zu gewährleisten, wurden neue Räume verdichteter Regulierungen und fürsorgerischer Aufsicht geschaffen, in denen Kinder auf ihre spätere Aufgabe innerhalb der Gesellschaft vorbereitet und vor unerwünschten Einflüssen geschützt werden konnten. Die Ausweisung baulich-materieller und von der übrigen Gesellschaft separierter Handlungsräume, in denen sich kindliche Entwicklungsabläufe steuern lassen, zeigt sich paradigmatisch in der Institution Schule, findet aber auch in weiteren Bereichen Anwendung – etwa im Zuhause oder im öffentlichen Raum der Stadt.[4] Die Verdrängung junger Menschen aus der städtischen Öffentlichkeit im Zuge des autogerechten Umbaus unserer Städte ab den 1960er-Jahren und der Kommerzialisierung der Innenstädte hat den Bedarf an verhäuslichten Handlungsräumen als Schutz vor einer zunehmend kinderfeindlichen städtischen Umwelt noch einmal verstärkt.[5] Heute treten Kinder in der Stadt oft nur noch am Rande in Erscheinung.

In diesem Beitrag möchten wir – über diese grundsätzliche Betrachtung der räumlichen Begrenzung und Kontrolle von Kindern hinaus – auf zwei jüngere Entwicklungen eingehen, welche die Dimensionen kindlicher Überwachung weiter vorantreiben: verstärkte Ansprachen zur kindlichen Selbstkontrolle in aktuellen Stadtentwicklungsstrategien sowie Auswirkungen eines digitalen Überwachungskapitalismus. Angesichts zunehmender Krisen seit der Jahrtausendwende gewinnt die Lebensphase der Kindheit als Ressource für die Sicherstellung einer zukunftsfähigen Gesellschaft noch einmal mehr an Bedeutung. Sei es in neuen Beteiligungsformaten an Stadtentwicklungsprozessen, im Rahmen von Präventionsbemühungen an Schulen oder der Technisierung und Digitalisierung des (familiären) Alltags: In all diesen Feldern lässt sich eine Zunahme von einerseits subtilen Steuerungsformen, andererseits ganz offensichtlicher Überwachung junger Menschen beobachten. Am Beispiel aktueller Stadtentwicklungspolitiken zeigen wir erstens, wie Kinder und junge Menschen mittels unterschwellig agierender Responsibilisierungsstrategien in die Pflicht genommen werden, an einem zukunftsfähigen Umbau unserer Städte durch verantwortungsvolle Selbstführung mitzuwirken – während ihnen gleichzeitig kaum echte Beteiligung eingeräumt wird. Zweitens greifen wir die Entwicklung hin zu fortschreitend digital-durchdrungenen Umwelten und den zunehmenden Einsatz (elterlicher) Überwachungsgadgets auf und diskutieren die ambivalenten Wirkungen einer „Dataveillance“ auf das Leben junger Menschen.

Behavioural Government, Verantwortung, Selbstführung

In aktuellen Stadtentwicklungsprojekten gilt die aktive Mitwirkung der Bürger*innen als wichtige Strategie auf dem Weg zu einer lebenswerten Stadt der Zukunft. Zwar richten sich die Beteiligungsappelle grundsätzlich an die gesamte Bewohner*innenschaft. An junge Menschen werden jedoch besondere Erwartungen verantwortungsvoller Mitwirkung an städtischer Transformation gestellt.[6] So werden Kinder in Strategie- und Rahmenpapieren beispielweise zu Smart-City-Projekten[7] oder nachhaltiger Stadtentwicklung[8] oftmals in den Fokus gerückt und als „Agent*innen des Wandels“ in eine prominente Position gehievt.[9]

Ein genauerer Blick in entsprechende Projekte zeigt, dass bei der Umsetzung smarter und nachhaltiger Stadtvisionen insbesondere solche Maßnahmen und Strategien zum Einsatz kommen, die auf mehr Verantwortungsübernahme und Erziehung zur Selbstführung und -kontrolle setzen. Insbesondere pädagogische Ansprachen im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in schulischen und außerschulischen Kontexten zielen neben Aufklärung und Information auf das Einstudieren vermeintlich nachhaltiger Handlungen im privaten wie öffentlichen Bereich. Im Rahmen von städtischen Maßnahmen wie „beste Reste Tage“, Upcycling oder Müllsammelaktionen werden Kinder in teils moralisierender Weise aufgefordert, durch nachhaltiges Verhalten und bewussten Konsum ganz persönlich zum Erreichen der globalen Nachhaltigkeitsziele beizutragen. Auch Smart-City-Projekte versprechen sich eine besondere Wirksamkeit von der Integration kindlicher Alltagsräume und Bildungsinstitutionen in städtische Transformationsprozesse. Schulen werden zu Orten, wo Kinder Expertisen in den Bereichen Technik und Programmierung aufbauen sollen, um so zukünftig als „smarte“ und „computational citizens“ an der Optimierung städtischer Gesellschaften mitzuwirken.[10] Workshops mit Wissenschaftsvereinen, Laufwettbewerbe für Schüler*innen anlässlich smarter Straßenbeleuchtung, interaktive Geh­ und Radspiele – mit all diesen Aktionen sollen Stadtbewohner*innen bereits ab dem Kindesalter eine „smartmentality“[11] ausbilden und Nachhaltigkeit als „doing sustainability“, d. h. als selbstgewollte gelebte Praxis, in ihrem Alltag verwirklichen.

Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie Kinder mittels Anreizsystemen, verhaltenswissenschaftlich gestützten Regierungshandelns („behavioural government“) und edukativer Steuerungsweisen in die Verantwortung genommen werden, den Umbau krisenhafter Städte zu lebenswerten Orten mitzutragen. Wenngleich Kindern und jungen Menschen hierdurch wieder mehr Präsenz im öffentlichen Raum und Beteiligung an politischen Prozessen zugestanden wird, sind diese Entwicklungen jedoch nicht unproblematisch. So werden Zuständigkeiten und das Erreichen politischer Ziele auf immer niedrigere Ebenen verlagert: Mittels pädagogischer Aktivierung sollen junge Menschen sich persönlich dazu verpflichtet fühlen, an einer Lösung gegenwärtiger Probleme mitzuwirken und sozial-ökologische Krisen abzuwehren. Sie erfahren damit die Ausrichtung ihrer Handlungsweisen an den politischen Programmen der Nachhaltigkeit und Smartness als selbstgewollt und nicht als Wirkung eines verordneten Regierungs- und Bildungsprogramms. Gleichzeitig hat diese Gruppe allerdings sicher den geringsten Anteil an der aktuellen Situation. Hinzu kommt, dass Kinder meist als homogene Gruppe adressiert werden, wodurch machtvolle Differenzkategorien wie Klassenzugehörigkeiten aus dem Blick fallen. So orientieren sich Lösungsvorschläge oft an den Lebensrealitäten von privilegierten Mittelklasse-Kindheiten und unterscheiden nicht zwischen den höchst unterschiedlichen ökologischen Impacts, die junge Menschen durch verschiedene Lebensstile und die soziale Position ihrer Familien haben.

Wie Menschen im Dienste gesellschaftlicher Fürsorge und Transformation zur Veränderung ihrer Verhaltensweisen mittels positiver Outcomes, Anreizsysteme und Selbstkontrolle angeleitet werden, kann nach Whitehead et al. als „Neuroliberalismus“ bezeichnet werden.[12] Damit verbunden, wird einer Entpolitisierung von Nachhaltigkeitsaufgaben und smarten Transformationsprozessen Vorschub geleistet, da durch die diffuse Verantwortungslage unklar ist, wer bei ausbleibenden Erfolgen zur Rechenschaft gezogen werden kann. So verhindert die individuelle Verhaltenserziehung, dass strukturell-politische Ursachen als Probleme benannt, Raum für alternative Lösungen geschaffen und Kollektive gebildet werden. Nicht zuletzt bleibt bei den Projekten fraglich, inwieweit Kinder und junge Menschen tatsächlich partizipieren können und mitbestimmen dürfen, wie eine Stadt der Zukunft aussehen soll. Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder sind in solchen Projekten eng begrenzt und weitgehend vorgegeben. Paradoxerweise wird ihnen also einerseits unterstellt, nicht in der Lage zu sein, sich mit komplexen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, während sie andererseits eine große Verantwortung übertragen bekommen und als Vorbilder und Botschafter*innen visionärer nachhaltiger und smarter Lebensformen auf die übrige Stadtbevölkerung ausstrahlen sollen.

Digitalisierung, Sharenting, Dataveillance

Neben diesen eher unterschwellig agierenden Steuerungsstrategien kommen im Kontext einer zunehmenden Technisierung und Digitalisierung unseres Alltags vermehrt Tracking-Anwendungen zum Einsatz, mit denen Kinder und junge Menschen in ihren Bewegungen erfasst und ihre Daten in eigens konstituierten Märkten absorbiert und gehandelt werden.[13] Während digitale Technologien einerseits erweiterte Möglichkeiten für Kinder eröffnen, miteinander zu kommunizieren,[14] ihre Freizeit zu gestalten und sich neue Räume zu erschließen, stellt sich also andererseits die Frage, was passiert, wenn die (elterliche) Kontrolle bis in die intimsten Bereiche junger Menschen vordringt und die Datafizierung aller Lebensbereiche auch vor Kindern nicht Halt macht.

Insbesondere im Kontext kindheitssoziologischer, bildungswissenschaftlicher und medientheoretischer Studien wurde in den letzten Jahren herausgestellt, dass Digitalisierung für junge Menschen ein hohes Potenzial für emanzipatorische Momente bereithält. Zum Beispiel wird das Open-World-Spiel „Minecraft“ vermehrt in Bildungskontexten und partizipativen Stadtplanungsprojekten eingesetzt, um die kreativen und kooperativen Herangehensweisen von jungen Menschen an komplexe Fragestellungen für stadtpolitische Zwecke nutzbar zu machen.[15] Wie auch Erwachsene sind Kinder also längst nicht mehr nur Konsument*innen digitaler Angebote, sondern gleichzeitig zentrale Gestalter*innen gegenwärtiger Online-Kultur.[16] Digitale Technologien und Netzwerkstrukturen ermöglichen es Kindern beispielsweise, neue, ortsunabhängige Beziehungen aufzubauen, die aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität sonst kaum möglich wären.[17] Durch das Smartphone sind junge Menschen oft auch unabhängiger unterwegs – und dennoch aus der Distanz von ihren Familien oder Freunden mittels Sprach- und Textnachrichten oder GPS-Diensten räumlich kontrolliert.[18] Nicht zuletzt werden an Schulen digitale Lern-umgebungen als neue Möglichkeitsräume für junge Menschen gesehen, gesellschaftliche Diskurse mitzugestalten, sich Räume mündig anzueignen und an Gestaltungsprozessen zu partizipieren.[19]

Digitalisierung wirkt allerdings nicht per se emanzipatorisch – schon gar nicht in der Kindheit. Vielmehr hat die Ausweitung digitaler Technologien auf nahezu alle Lebensbereiche zur Folge, dass Kinder und junge Menschen immer umfänglicher in ihrem Tun erfasst, vermessen, gesteuert und überwacht werden.[20] Werden Kinder bereits vor ihrer Geburt mit zahlreichen Gerätschaften in ihrer Entwicklung gemonitort und mittels Schwangerschafts-Apps und Social-Media-Beiträgen zu Objekten „intimer Überwachung“,[21] nimmt die Datensammlung über ihren Gesundheitszustand, die körperliche Fitness, ihre kognitiven Fähigkeiten und Lern-Performances, emotionale Gemütszustände, (Konsum)Interessen und soziale Praktiken mit zunehmendem Alter stetig zu. Laut einer Erhebung der Technologiefirma SuperAwesome werden von US-amerikanischen Kindern in den ersten dreizehn Lebensjahren, entgegen den dort bestehenden Datenschutzverordnungen, über 72 Millionen Datenpunkte gesammelt.[22] Ob mit Sensoren versehene schlafende Babys zum Tracken der Biodaten oder die „Hello Barbie“, die mit integrierter Spracherkennungssoftware mit ihren Benutzer*innen spricht und die aufgenommenen Konversationen nicht nur an die Eltern, sondern auch an den Produzenten Mattel übermittelt[23] – die Folgen, die der stetig wachsende Informationsfluss durch Wearables und intelligentes Spielzeug sowie vernetzte Geräte in Haushalten mit sich bringt, sind bislang nicht abzusehen.[24]

Dabei mögen die medialen Nutzungen zwar mit steigendem Alter von Kindern zunehmend selbst initiiert sein; auch sind es vielfach gerade junge Menschen, die neue Technologien und ihre vielfältigen Anwendungen in ihre Familien einführen und Regeln neu verhandeln. Gleichzeitig „lesen“ aber Eltern, Freunde, Pädagog*innen, Gesundheitsdienstleister*innen und insbesondere kommerzielle Anbieter*iinen mit. Statt informationeller Selbstbestimmung werden damit die Mittel elterlicher, kommerzieller oder auch schulischer Kontrolle junger Menschen immer größer.[25] So werden an chinesischen Grundschulen seit einigen Jahren neben Lernrobotern und Klassenzimmerkameras Stirnbänder getestet, die durch das Messen von Hirnströmungen den Grad der Aufmerksamkeit im Zehn-Minuten-Takt feststellen sollen. Neben den Lehrkräften werden diese detaillierten Daten auch den Eltern zur Verfügung gestellt.[26] Hierzulande sind solche exzessiven Überwachungen noch nicht denkbar. Trotz Medienkompetenz oder Datenschutz-Grundverordnung ist es jungen Menschen allerdings auch hier kaum möglich, selbst zu steuern, welche Informationen sie erreichen und was sie von sich wie lange preisgeben wollen. Vielmehr sind ihre Praktiken in ein komplexes Netz an „Sharenting“-Aktivitäten eingebunden, bei denen Eltern (meist ungefragt) Bilder und andere Informationen ihrer Kinder im Internet veröffentlichen – oft startet das „Sharenting“ schon vor Geburt des Kindes mit dem Teilen von Ultraschallbildern. Zudem eröffnen digitale Gadgets, Bildungsplattformen oder etwa Gesundheits-Tracking-Apps Eltern die Möglichkeit, Fürsorge- und Erziehungsmaßnahmen zu optimieren und durch mit Sensoren ausgestattete Geräte Bewegungen und Aufenthaltsstandorte ihrer Kinder in Echtzeit zu erfassen.[27] Mittlerweile gehen die Funktionen dieser klassischen Tracking Devices über bloße Ortungen hinaus: Längst können Eltern Sperrzonen ausweisen und Mitteilung erhalten, wenn ihr Kind diese betritt. All diese Nutzungen führen dazu, dass persönliche Daten von Kindern gesammelt, archiviert, verkauft und zu einzigartigen Profilen zusammengefasst werden, die sie ein Leben lang verfolgen können.[28]

Die Datafizierung des Kinder- und Familienlebens ist aus gouvernementaler Perspektive durchaus kritisch zu betrachten. Unter dem Einfluss wirkmächtiger Sicherheitsdiskurse,[29] modifizierter Familienernährer*innenmodelle und dem damit einhergehenden Bedürfnis nach zuverlässiger und kontrollierter Fürsorge greifen diese erweiterten Überwachungssysteme auch in vermeintlich erwachsenenfreie und als geschützt wahrgenommene Räume von Kindern ein. Der kapitalistischen Verwertungslogik zuspielend, können Eltern hierdurch sowohl erwerbstätig sein und gleichzeitig durch die Überwachung aus der Ferne „bei“ ihren Kindern sein.[30] Ihre physische Abwesenheit rechtfertigt so die immer strengere Kontrolle junger Menschen. Eltern verletzen damit aber nicht nur die Intimität von Kindern und ihr Recht auf Privatsphäre.[31] Vielmehr lernen junge Menschen darüber hinaus, Überwachen und Überwacht-Sein von Kindesbeinen an als selbstverständliche Praktiken der Identitätsbildung zu begreifen, und avancieren so selbst zu Agent*innen der Dataveillance, indem sie sich beispielweise gegenseitig hinsichtlich des Nutzungs- und Darstellungsverhaltens in sozialen Medien kontrollieren.[32] Und spätestens dann, wenn sogar ihre Spielleidenschaft dazu verwendet wird, Informationen über sie zu sammeln, sind Kinder vollends Objekte eines Überwachungskapitalismus. So folgen viele Spielzeughersteller*innen und Computerspielentwickler*innen dem Geschäftsmodell, nicht nur oder vorrangig einen Spielprozess zu aktivieren, sondern vor allem Daten über den physischen Spielkontext zu sammeln und zusammen mit weiteren Auskünften aus Spielportalen ein dichtes Netz an Informationen über das digitale Verhalten einer Person zu generieren.[33] Damit treiben sie die Kommerzialisierung von Kindheit, beispielsweise in Form personalisierter Werbung und individualisierter Rabattaktionen für spielinterne Währungen oder Gegenstände, weiter voran.

Widersprüchliche Versprechungen

Sowohl Beteiligungsverfahren in aktuellen Stadtentwicklungspolitiken als auch digitale Technologien wecken die Hoffnung, dass Kinder zukünftig stärker an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben und sich selbständiger bewegen können – Forderungen, die in der Kindheitsforschung seit Jahrzehnten gestellt werden. Jedoch deuten aktuelle Beobachtungen eher darauf hin, dass Kinder in konditionierten Partizipationsprojekten weiterhin „auf Kurs“ gebracht, mit der Verantwortung für die Zukunft und den damit verbundenen Ängsten und Hoffnungen aber alleingelassen werden. Auch hinsichtlich digitaler Selbstbestimmung stellt sich die Frage, inwieweit der etwa an Schulen geförderte reflexive Umgang mit internetbasierten digitalen Technologien, kritische Medienkompetenz und „digital literacy“ der fortschreitenden Überwachung kindlicher Lebenswelten überhaupt etwas entgegenzusetzen vermag. Junge Menschen sind folglich als Hoffnungsträger*innen für eine bessere Zukunft sowie als Adressat*innen neuer Märkte mit komplexen, teils paradoxen Rollenzuschreibungen konfrontiert. Im Spannungsfeld von Schutz, Aktivierung und (Selbst-)Kontrolle verlangen die gemachten Versprechungen einen hohen Preis – und Freiheit wird für Kinder zunehmend zu einem fragilen Gut.

[1]    Ariès, P.: Geschichte der Kindheit, München 2007
[2]    Lee, N.; Motzkau, J.: Navigating the bio-politics of childhood, in: Childhood 2011, H. 1, S. 7-19 (9f.)
[3]    Berg, C.: Kind/Kindheit, in Benner, D. u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim 2004, S. 507
[4]    Schreiber, V.: Geographien der Kindheit, in: Bollig, S. u.a. (Hg.): Materialitäten der Kindheit, Wiesbaden 2020, S. 249-261
[5]    Zinnecker, J.: Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind, in: Behnken, I. (Hg.): Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation, Wiesbaden 1990, S. 142-162
[6]    Shtebunaev, S. u.a.: Planning the smart city with young people, in: Urban Planning 2023, H. 2, S. 57-69
[7]    Ghafoor-Zadeh, D.; Schreiber, V.: Smarte Kindheiten, in: sub\urban 2021, H. 3/4, S. 57-82
[8]    Appel, A.; Schreiber, V.: Angesprochen und doch ungefragt: Zur Rolle von Kindern in der nachhaltigen Stadtentwicklung, (eingereicht)
[9]    Hadfield-Hill, S.; Christensen, P.: ‘I’m big, you’re small. I’m right, you’re wrong’: the multiple P/politics of ‘being young’ in new Sustainable Communities, in: Social & Cultural Geography 2021, H. 6, S. 828-848 (835)
[10] Williamson, B.: Educating the smart city, in: Big Data & Society 2015, H. 2, S. 1-13
[11] Vanolo, A.: Smartmentality: The smart city as disciplinary strategy, in: Urban Studies 2014, H. 5, S. 883-898
[12] Whitehead, M. u.a.: Neuroliberalism. Behavioural Government in the Twenty-First Century, New York 2018
[13] Berg, S.; Wehrheim, J.: Parental Control Technologies und die Überwachung kindlicher Mobilität, in: sub\urban 2021, H. 3/4, S. 105-121; Zuboff, S.: Surveillance Capitalism – Überwachungskapitalismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2019, H. 24-26, S. 4-9
[14] Bork-Hüffer, T. u.a.: Kollektivität in und durch cON/FFlating spaces, in: Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft 2020, H. 2, S. 131-170
[15] Mit Minecraft die Zukunft der Stadt gestalten, Tagesspiegel Background v. 21.2.2023
[16] Goodyear, V. A. u.a.: Young People and Their Engagement with Health-Related Social Media, in: Sport, Education and Society 2019, H. 7, S. 673-688 (674)
[17] Ruckenstein, M.: Spatial extensions of childhood: from toy worlds to online communities, in: Children’s Geographies 2013, H. 4, S. 476-489 (482)
[18] Ergler, C. R. u.a.: Digital methodologies and practices in children’s geographies, in: Children‘s Geographies 2016, H. 2, S. 129-140 (130f.)
[19] Kanwischer, D.; Gryl I.: Bildung, Raum und Digitalität: Neue Lernumgebungen in der Diskussion, in: Die Deutsche Schule 2022, H. 1, S. 34-45
[20] Barassi, V.: Child data citizen. How tech companies are profiling us from before birth, Cambridge/Massachusetts 2020; Stapf, I. u.a. (Hg.): Aufwachsen in überwachten Umgebungen, Baden-Baden 2021; Ghafoor-Zadeh, D.: Kindheit, in: Bork-Hüffer, T. u.a. (Hg.): Handbuch Digitale Geographien, Paderborn 2021, S. 92-102
[21] Leaver, T.: Intimate Surveillance: Normalizing Parental Monitoring and Mediation of Infants Online, in: Social Media + Society 2017, H. 2, journals.sagepub.com/doi/
10.1177/2056305117707192
[22] SuperAwesome: SuperAwesome launches Kid-Safe Filter to prevent online ads from stealing children’s personal data, 2018, www.superawesome.com/superawesome-launches-kid-safe-filter-to-prevent-online-ads-from-stealing-childrens-personal-data
[23] Taylor, E.; Rooney, T.: Digital playgrounds: Growing up in the surveillance age, in: dies. (Hg.): Surveillance futures: Social and ethical implications of new technologies for children and young people, London; New York 2017, S. 1-16
[24] Arewa, O. B.: Data Collection, Privacy, and Children in the Digital Economy, in: Dethloff, N. u.a. (Hg.): Families and New Media. Juridicum – Schriften zum Medien-, Informations- und Datenrecht, Wiesbaden 2023, S. 195-213
[25] Stapf, I. u.a. (Hg.): Aufwachsen in überwachten Umgebungen, Baden-Baden 2021, S. 12
[26] Under AI’s watchful eye, China wants to raise smarter students, www.wsj.com v. 19.9.2019
[27] Mascheroni, M. u.a. (Hg.): Digital parenting – The challenges for families in the Digital Age, Göteborg 2018; Leaver a.a.O. (Fn. 21)
[28] Barassi a.a.O. (Fn. 20)
[29] Schreiber, V.: Fraktale Sicherheiten – Eine Kritik der kommunalen Kriminalprävention, Bielefeld 2011
[30] Taylor; Rooney a.a.O. (Fn. 23), S. 5
[31] Leaver a.a.O. (Fn. 21)
[32] Lupton, D.; Williamson, B.: The datafied child: The dataveillance of children and implications for their rights, in: New Media & Society 2017, H. 5, S. 780-794 (786)
[33] Plowman, L.: Rethinking context: Digital technologies and children’s everyday lives, in: Children’s Geographies 2016, H. 2, S. 190-202 (197); Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag: 7. Themenkurzprofil, Berlin 2016, publikationen.bibliothek.kit.edu/1000127186/121428630

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